Kapitel 12


Lucifer hatteangewiesen, zwei der thrakischen Pferde zu satteln und zu zäumen.Der Weg in den westlichen Teil der Hölle, in dem sich in Slums derAbschaum der Dämonenwelt sammelte, war zu Fuß zu weit. Leviathankonnte ihn fliegend überwinden, aber Lucifer und Kasdeya Elathan,der ihm nicht von der Seite wich, würden ihn zu Pferde zurücklegenmüssen.

Sich in den Sattelzu schwingen und das fleischfressende Pferd aus dem Hof in dieumliegenden Ländereien zu treiben, war befreiend. Schweigendgaloppierten die beiden Reiter durch die Landschaft und ließen sichvom warmen Wind die Gedanken klären. Kasdeya Elathan hielt sich gutim Sattel, obwohl er zum ersten Mal auf einem thrakischen Pferd saß.

„Erinnerst du dichan mich?", fragte Lucifer nach einer Weile.

„Nein",entgegnete sein Begleiter emotionslos. „Ich erinnere mich an keinemeiner früheren Inkarnationen. Ich weiß, wer ich bin, aber nicht,wer ich war."

Diese Antwortschmerzte den Höllenkönig. In den dunklen Tagen, in denen er unterSatan gelitten hatte, war Amon, Kasdeya Elathans vorherigeInkarnation, sein Rettungsanker gewesen. Ihn jetzt im Körper seinesbesten Freundes zu sehen, war unerträglich. Es fühlte sich so an,als sei Belial noch da, doch sobald Lucifer darüber nachdachte, fielihm ein, dass Belial lange fort war.

„Wir kannten uns",sagte Lucifer und zügelte sein Pferd, um sich neu zu orientieren.

„Waren wirbefreundet?" Kasdeya Elathan legte auf eine Weise die Stirn inFalten, wie Belial selbst es nie getan hätte.

„Mehr als das."

„Geliebte?"

Lucifer nickte undtrieb sein Pferd in einen flotten Trab den Hügel hinunter.

„Als ich gegenSatan gekämpft habe, hast du dich für mich geopfert, damit ich denKampf gewinnen konnte", erzählte er leise. Als Kasdeya Elathannicht antwortete, befürchtete Lucifer, er habe ihn nicht gehört. Ersetzte zu einer Wiederholung an, als der andere Mann doch noch zusprechen begann.

„Ich scheine dichsehr gemocht zu haben. Es tut mir leid, dass ich mich nicht daranerinnere. Du wirkst wie ein guter Mann."

Lucifer schluckte.Plötzlich vermisste er Amon mehr als in all den Jahrhunderten zuvor.

„Wie kannst du dasbeurteilen, wenn du dich an nichts erinnern kannst?"

„Einige Dingevergisst man niemals." Der Schwertdämon sah Lucifer direkt an.Ihre Blicke ruhten aufeinander, während sie die Ebene überquerten,bis der Höllenkönig es nicht mehr aushielt und wieder zwischen dieOhren seines Pferdes starrte. In seinem Hals hatte sich ein dickerKnoten gebildet, den er nicht durch einfaches Herunterschluckenloswerden konnte.

„Erinnerst du dichan Leona?", fragte er schließlich. Ihr Name brannte wie einSchimpfwort auf seiner Zunge.

„Nein, leidernicht. Wer ist sie gewesen?" Allein Lucifers Tonfall schien KasdeyaElathan verraten zu haben, dass die Frau, von der er sprach, nichtmehr am Leben war.

„Amons Mutter. Siewusste, dass ihr Sohn tot war und dass du seinen Platz eingenommenhast, dennoch hat sie niemals aufgehört, dich zu lieben. Oder dieErinnerung an Amon zu lieben, wer weiß." Lucifer seufzte. Erkonnte sich kaum noch an ihren Tod erinnern, zu viel Zeit war seitdemvergangen. Doch die Gewissheit, sie ermordet zu haben, stach wieheiße Nadeln in sein Fleisch. „Ich glaube, du mochtest sie auch,wenn nicht als Mutter, dann als Freundin."

„Sie klingt wieeine sehr freundliche Person", bestätigte Kasdeya Elathan in einemweiterhin neutralen Tonfall. „Aber all diese Leute bedeuten mir aufDauer nichts. Ich lebe in Abschnitten und sobald ein Abschnitt vorbeiist, beginne ich ein neues Leben ohne alte Erinnerungen."

„Das muss schönsein", seufzte Lucifer. „Es gibt viele Dinge, die ich liebervergessen würde. Die Unsterblichkeit ist ein Fluch."

„Aber all dieseDinge formen, wer du heute bist", gab der andere Mann zu bedenken.Er tätschelte den Hals seines Pferdes. „Ich bin ein Niemand undkann zugleich jeder sein. Ich bin abhängig von demjenigen, der mireinen Körper zur Verfügung stellt. Nicht viel mehr als einWerkzeug, das aufgegeben wird, sobald es seinen Zweck erfüllt hat.Du dagegen kannst ein eigenständiges Leben führen, Morgenstern."

„Als ich gegenSatan gekämpft habe, hast du dich selbst getötet." Er blickte zuKasdeya Elathan, doch der Schwertdämon wich seinem Blick beharrlichaus. „Das war eine Entscheidung, die du selbst für dich getroffenhast."

„Daran erinnereich mich nicht."

„Du verfügst übermehr Entscheidungsfreiheit, als du denkst", murmelte Lucifer. „Waspassiert, wenn ich sterbe, während du noch existierst? Wer wird danndein Herr sein?"

„Ich weiß esnicht", antwortete Kasdeya Elathan. Die Frage schien ihntatsächlich ins Grübeln gebracht zu haben. „Entweder sterbe ichauch....oder ich bin frei."

„Dann sollte ichmich vielleicht vor dir in Acht nehmen", scherzte Lucifer mit einemerzwungenen Lächeln. „Nicht, dass du mir am Ende nach dem Lebentrachtest."

„Ich kann meinemHerren keinen direkten Schaden zufügen." Seine Stimme kehrte zuder gewohnten teilnahmslosen Ruhe zurück. „Vor mir brauchst dudich nicht zu fürchten."

Schweigendgaloppierten sie über die Ebene, bis am Horizont die Silhouette derSlums auftauchte. Dämonen lebten bevorzugt zurückgezogen, doch dieschwächeren Anhänger ihrer Gattung rotteten sich zu Rudeln zusammenund hausten in provisorischen Hütten und Zelten. Lucifer hatteLeviathan die Aufgabe übertragen, diesen explosiven Haufen unterKontrolle zu halten. Und obwohl sein langjähriger Freund sich überdiese Aufgabe beschwert hatte, hatte er sie doch bisher immer zuLucifers Zufriedenheit erfüllt.

Sie zügelten ihrePferde im Hof des einzigen größeren Anwesens der Umgebung. EinenFlügel hatte Leviathan restaurieren lassen, um dort zu wohnen, dochder Rest des Gebäudes war verfallen und mit dornigen Rankgewächsenüberwuchert. Lucifer band sein Pferd an der hölzernen Tränke anund betrat in Kasdeya Elathans Begleitung das Anwesen.

Leviathan empfingseine Gäste in einem geräumigen, minimalistisch eingerichtetenWohnzimmer, das komplett in Schwarz-Weiß gehalten war. Der gefalleneEngel selbst war ein hochgewachsener Mann, dem man seine edlehimmlische Abstammung in jeder Bewegung ansehen konnte. Als einzigerder aus dem Himmel verbannten Engel hatte er seine Flügel behaltendürfen. Lucifer wusste, dass Belial in dieser Sache seine Finger imSpiel gehabt hatte, war jedoch niemals dazu gekommen, seinen betenFreund darüber auszufragen. Jetzt war es zu spät. Diese Erkenntnisversetzte dem Höllenkönig einen Stich.

„Levi", begrüßteer seinen Freund, der zurückhaltend den Kopf neigte.

„Welche schlechtenNachrichten bringst du diesmal?", fragte der größere Mannunerfreut. Mit einer Hand bedeutete er seinen Gästen, sichhinzusetzen. „Belial, ist alles in Ordnung?"

„Verzeihung",erhob Kasdeya Elathan die Stimme. „Aber ich bin nicht Ihr Freund.Belial ist gestorben und ich habe seinen Körper übernommen. Bitteverzeihen Sie diesen Verlust."

Eilig erzählteLucifer ihm die ganze Geschichte. In Leviathans dunklen Augenflackerte Trauer, doch er neigte nur wortlos den Kopf. Zwischen denbeiden Männern hatte immer eine Spannung geherrscht, die sogar fürLucifer spürbar gewesen war, dennoch hatte Leviathan niemals aufGrund dieses Verlangens gehandelt. Seine Verbindung zu Belial warjedoch tiefer gewesen als die Verbindung zu Lucifer selbst.

„Du hättest michfrüher darüber informieren können", sagte er nach einer Weileund schlug den Blick nieder. „Ist das der einzige Grund, weshalb duhier unangekündigt auftauchst?"

„Nein, es gibtnoch mehr, zu dem ich deinen Ratschlag hören will."

Leviathan wirkteüberrascht.

„Du willst meinenRat, Lucifer? Du hältst mich für einen Snob und einen Mitläufer;weshalb solltest du ausgerechnet meinen Rat hören wollen?"

„Das ist nichtwahr." Der Höllenkönig schlug die Beine übereinander. DieArmlehnen des mit schwarzem Polster überzogenen Stuhls engten ihnein. „Wir mögen nicht immer einer Meinung sein, aber du bist meinFreund, also hat deine Meinung für mich Gewicht. Abgesehen davon istjeder, den ich sonst gefragt hätte, tot."

Der geflügelteDämon verdrehte die Augen, schien aber bereit zu sein, Luciferauszuhelfen. Also erzählte Lucifer ihm von Theliels Erfolg bei derBefreiung der Vanth, seiner Begegnung mit Lilith und GottesFriedensangebot.

„Du warstderjenige, der das Angebot des alten Mannes über einenWaffenstillstand angenommen hat. Meinte zumindest Belial", endeteLucifer.

„Das stimmt.Nachdem du in Gefangenschaft geraten warst, haben Belial und ich dasKommando übernommen." Er schüttelte den Kopf. „Also war LilithsTochter ein Engel?"

Lucifer nickte.

„Danach sah esaus. Ich vermute, dass der Vater der Vanth ein Engel gewesen seinmuss. Und ich bin mir sicher, dass Gott davon gewusst hat, falls esso gewesen ist. So etwas könnte man vor Ihm nicht geheim halten."

„Ich denke nicht,dass der Herr es gewusst hat." Leviathan nippte an seinem Tee, derfertig zubereitet in einer edlen Porzellantasse auf einem weißen,viereckigen Tisch stand. Das Service, das Jahrhunderte alt seinmochte, bildete einen harten Kontrast zu der modernen Einrichtung.

„Was macht dich sosicher?", fragte Lucifer stirnrunzelnd.

„Die Vanth ist einEngel, der komplett von Lilith abhängig ist, nicht wahr? Ein Engel,der alles tun würde, um ihr zu gefallen."

„Worauf willst duhinaus?" Lucifers übliche Ungeduld schimmerte hindurch.

„Das HimmlischeFeuer, Lucifer. Dämonen können es nicht verwenden, Engel aberschon. Lilith könnte der Vanth befehlen, das Himmlische Feuer zustehlen und in ihrem Namen zu verwenden." Er senkte den Blick aufseine Teetasse. „Durch die Vanth könnte Lilith den Himmelendgültig zerstören."


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