Kapitel 11

Lucifer spürte dieuralten Mächte, die aus der Tür wichen, als Theliel sie berührte.Erschrocken sprang der kleine Engel zurück, doch seine Aufgabe hierwar längst getan. Mit einem urtümlichen Knirschen schwang die Türauf.

Der Höllenkönigfand sich Auge in Auge mit einem vielleicht neun Jahre alten Mädchenwieder. Es war bleich wie eine Tote, mit eingefallenen Wangen undArmen so dünn, dass er zweimal darum hätte fassen können. Sie trugein zerfetztes, weißes Kleid ohne Verzierungen, das vor Schmutzstand. Blonde Locken hingen in ihr rundes Gesicht bis zum Kinn.

Ihre blauen Augenwaren leer und wirkten unfokussiert. Ihre Hände hatte sie hinter demRücken verschränkt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Beijedem Atemzug hob und senkte ihr kleiner Brustkorb sich merklich.

Doch was LucifersAufmerksamkeit fesselte, war nicht ihre kleine, schmutzige Gestalt.Er starrte über ihre Schultern hinweg auf das Paar schmutzig-grauerFlügel. Die Feder standen zerzaust in alle Richtungen ab, doch dieForm war unverkennbar. Liliths Tochter besaß Engelsflügel.

„Sie ist einEngel", meldete sich Kasdeya Elathan rechts hinter Lucifer zu Wort.

„Das sehe ich",entgegnete der Höllenkönig skeptisch. „Die Frage ist nur, warumein Kind der Lilith ein Engel sein sollte."

Die Vanth hatte sichnoch immer nicht von der Stelle bewegt. Stattdessen schob sie dieUnterlippe vor und ließ die Arme neben dem Körper baumeln, dieHände zu Fäusten geballt. Eine dunkle Aura umgab sie, die LucifersFluchtreflexe hervorrief.

Plötzlich strecktesie beide Hände aus und gab einen Laut von sich, den der Höllenkönigzuerst nicht einordnen konnte, bis er verstand, dass das kleineMädchen zu sprechen versuchte. Vanth spitzte die Lippen, als hättesie vergessen, wie sie einen verständlichen Laut von sich gebenkonnte, doch ihre ausgestreckten Arme zeigten ihre Absichten.

Lautlos wie einGeist trat Lilith aus der Dunkelheit hervor. Ihr in einem Widerhakenendender Schweif peitschte hinter ihr her. Theliel quiekteerschrocken, als die Dämonenmutter an ihm vorbei schritt, in dieKnie ging und ihre Tochter umarmte. Vanth schmiegte sich mit einemzufriedenen Gurgeln an sie. Ihre grauem Flügel zitterten vorErschöpfung.

Das Bild, das sichLucifer bot, wirkte beinahe friedlich: eine Mutter, die ihr langeverschollenes Kind die Arme schloss und tröstete. Zwar machte dieVanth nicht zu deutende Geräusche, aber sie schien nicht zu weinen.Lilith hatte beide Arme um ihre Tochter geschlungen und streicheltein einer mechanischen Geste ihren Rücken.

„Ich habe meinenTeil des Vertrags erfüllt", erhob Lucifer das Wort. Sofort drehteLilith den Kopf in einem unmöglichen Winkel zu ihm. Er spürte, wieTheliel neben ihm sich bei dem unheimlichen Anblick anspannte. „Darfich davon ausgehen, dass wir jetzt quitt sind?"

Lilith nickte knapp,hob eine Hand und schnippte mit den Fingern. Lucifer verspürte einkurzes Ziehen im Unterbauch, das sofort wieder verschwand. DerVertrag war gelöst.

„Mein Angebot, dirzu deiner wahren Macht zu verhelfen, steht immer noch", zischteLilith und ihre gespaltene Zunge schoss zwischen ihren Lippen hervor.„Du hast nun schon mehrfach in der direkten Konfrontation mit demHimmel versagt, kleiner Engel, dabei steckt in dir so viel mehr. Duwarst Jahwes Liebling, Seine perfekte Kreation. Du könntest Ihnvernichten."

„Lucifer", erhobTheliel zittrig die Stimme. Die Furcht stand ihm ins Gesichtgeschrieben, doch selbst Liliths erbostes Zischen konnte ihn nichtzum Schweigen bringen. „Hör nicht auf sie. Ich weiß, dass duSchmerzen hattest. Aber dieser Krieg muss aufhören."

„Sieh an, dasFußvolk hat immer noch nicht den Mut, sich gegen seinen Unterdrückeraufzulehnen", höhnte Lilith. Sie hatte von der Vanth abgelassenund näherte sich nun mit bedrohlichen Schritten Theliel. „Schausie dir an, Morgenstern – keinen Deut besser als zu deiner Zeit imHimmel. Sie lieben es, einem Kerl zu dienen, der sie unterdrückt."

Es war, als nähmeLilith ihm seine eigenen Worte aus dem Mund. Lucifer hörte sichselbst sprechen, damals, als Michael noch unerschütterlich an seinerSeite gestanden hatte. Als sie gemeinsam versucht hatten, einebessere Welt zu schaffen. Doch aus Liliths Mund klangen diese Wortenoch mehr wie eine süße Verheißung, der Lucifer abzuschwörenversucht hatte.

Hilfesuchendwanderte sein Blick zu Belial, doch sobald er in sein Gesichtblickte, das durch die Schatten der Fackeln verzerrt wurde, wussteLucifer wieder, dass er seinen besten Freund verloren hatte. NichtBelial starrte zurück, sondern ein Fremder, der sich eines anderenKörpers bedient hatte.

„Verschwinde!",sagte er schließlich und beobachtete, wie sich Liliths Lippenärgerlich kräuselten. „Ich will weder von dir noch von Gott etwaswissen!"

Die Dämonenmutternahm die Hand ihrer geflügelten Tochter und zog diese schützend ansich.

„Du wirst esbereuen, dich nicht auf meine Seite geschlagen zu haben,Morgenstern", fauchte sie, wobei sie zwei Reihen voller Haizähneentblößte. „Der Himmel wird fallen und du mit ihm. Vergiss nicht,dass ich die einzige Person gewesen bin, die in deiner dunkelstenStunde zu dir gestanden hat."

„Das ist nichtwahr!" Lucifer spürte, wie seine Finger zu Klauen wurden.

„Du warst immeralleine, das ist dein Schicksal", züngelte Lilith mit bedrohlichglühenden Augen. „Alle außer mir hast du in den Tod getrieben –Amon, Leona, Belial und sogar Michael. Wie lange wird es dauern, bisauch die letzten deiner Verbündeten sich von dir abwenden? Du wirstdir noch wünschen, mein Angebot angenommen zu haben!"

„Michaels Tod istnicht meine Schuld gewesen!" Erst nachdem die Worte seinen Mundverlassen hatten, merkte Lucifer, dass er geschrien hatte. DerVerlust seiner Selbstbeherrschung schien Lilith zu amüsieren.

„Es war nichtmeine Schuld!", wiederholte er etwas ruhiger, jedoch kochend vorWut. Er schmeckte metallisches Blut auf seiner Zunge, so fest bohrtensich seine Reißzähne in seine Unterlippe bei dem Versuch, dieBeherrschung zu wahren.

„Dein Schicksalist längst entschieden", zischte Lilith mit einem zufriedenenZüngeln. „Und ich werde mit Freude deinem Untergang beiwohnen,Morgenstern."


Theliel merkte, dassLucifer selbst Stunden nach der Begegnung mit der Dämonenmutter andiese dachte. Seine Zähne mahlten in seinem Kiefer und auf seinerStirn bildeten sich kleine Falten. Lilith war gemeinsam mit ihrerTochter verschwunden, doch ihre Worte klangen auch in den Ohren deskleinen Engels unendlich nach. Er sorgte sich um den Höllenkönig,der mit verschränkten Armen auf seinen Teller starrte, ohne dasEssen darauf anzurühren.

Belial, der zuLucifers Rechten saß, sprach zwar kein Wort, schien aber sehrhungrig zu sein. Seine unheimliche Veränderung gab Theliel nochimmer Rätsel auf, doch angesichts der angespannten Situation wagteer nicht, danach zu fragen.

„Ich muss mitLeviathan sprechen", durchbrach Lucifer die Stille und löste damitetwas von der unerträglichen Spannung, die über den drei Männerngehangen hatte.

„Kann Belial dirnicht helfen?", fragte Theliel vorsichtig. Seine Fingerverkrampften sich um den Griff seiner Gabel, als Lucifers Augenrötlich zu glühen begannen. Vielleicht war das die falsche Fragegewesen.

„Belialist tot", entgegnete der Höllenkönig kalt und nickte zu dem Mannrechts neben sich. „Der Schwertdämon Kasdeya Elathan hat seinenKörper übernommen. Azazel hat Belial getötet, als dieser michbeschützen wollte." Seine Stimme war bitter und voll verborgenerTrauer. Das unangenehme Schweigen senkte sichwieder über den Tisch.

„Du solltest nachdem Essen gehen", sagte Lucifer plötzlich, erhob sich von seinemPlatz und steuerte mit schnellen Schritten den Ausgang des Raumes an.„Komm gut zurück in den Himmel."

Er hatte die Türbereits geöffnet, als Theliel realisierte, dass er sich nichteinfach mit diesen Worten abspeisen lassen durfte. Der Engel sprangso schnell auf die Füße, dass er mit den Flügeln seinen Stuhlumwarf, der krachend hinter ihm auf dem Boden landete. Kaseya Elathanschreckte unter dem Lärm zusammen. Mit großen Augen sah er zuTheliel, der sich in die Luft schwang, um Lucifer halb laufend, halbgleitend zu folgen.

Der Höllenkönigrauschte den Gang hinunter in Richtung der Stallungen, als es Thelielgelang, zu ihm aufzuschließen. Sein Herz schien irgendwo im Bereichseiner Kehle zu schlagen, als er den Dämon anblickte, der seinenBlick beharrlich mied.

„Du solltestgehen", wiederholte Lucifer geradeaus starrend.

„Lucian", sagteTheliel, ohne nachzudenken.

Die violetten Augendes gefallenen Engels richteten sich auf ihn.

„Du weißt, dassdas ein falscher Name war."

„Weiß ich."Theliel leckte sich über die Lippen; eine Geste, die Lucifer genaubeobachtete. „Aber ich glaube, dass es nicht nur eine Rolle war,die du gespielt hast, um dich mit mir anzufreunden. Lucian warfreundlich, aufmerksam und nicht so verletzt wie du. Er war normal.Vielleicht sogar glücklich mit seinem Platz im Leben."

Mit jedem Wort, dasseine Lippen verließ, bekam Theliel mehr den Eindruck, sich zu weitaus dem Fenster zu lehnen. Andererseits war dies hier vielleichtseine letzte Gelegenheit, mit Lucifer zu sprechen, bevor ihre Wegesich für immer trennten. Er wusste, dass jedes Wort, das er jetztnicht an den Höllenkönig richtete, sich später versehen mit tieferReue in sein Gedächtnis brennen würde.

„Ich bin der Königder Hölle!", protestierte Lucifer. „Ich habe einen Platz imLeben!"

„Aber doch nur ausder Not heraus." Theliel musste inzwischen beinahe rennen, ummithalten zu können. „Ich mochte Lucian. Er hätte mich nichtzurückgelassen, als ich zu helfen versucht habe."

„Du hast Lilithdoch gehört! Jeder, der mir zu nahe kommt, wird den Tod finden! Esist besser für dich, wenn du jetzt gehst." Es klang inzwischennicht mehr wie eine Bitte, sondern wie ein Befehl. Doch in seinerStimme lag noch mehr als Wut. Reue. Schmerz. Verletzlichkeit, diesich ein Höllenkönig nicht erlauben konnte. Es bereitete ThelielsSeele Schmerzen, seinen geliebten Dämon so zu erleben.

„Genau das meineich", brachte er atemlos hervor, jede Sekunde mit einerungehaltenen Ohrfeige rechnend. „Du tust so, als würdest du dichnicht um andere Sorgen. Und diese Schutzhüllen hattest du nicht,solange du Lucians Rolle gespielt hast."

„Komm zum Punkt,Theliel!"

„Ich denke, dassdu das Angebot des Herrn annehmen und Frieden mit dem Himmelschließen solltest. Und sobald du einen Nachfolger gefunden hast,der deinen Platz übernimmt, kannst du neu anfangen und so werden,wie du es lieber hättest."

Er hatte mit einerOhrfeige gerechnet, dennoch schickte ihn der Schmerz zu Boden, alssie dann wirklich kam. Lucifer schäumte vor Wut, die Zähnegebleckt, die Augen von einem roten Glühen durchzogen.

„Sag mir nicht,was ich zu tun habe!", donnerte er. „Verschwinde! Ich werde nichtlänger tun, was andere mir auftragen! Ich bin kein verdammter Dienermehr!"

Erschrocken blickteTheliel zu dem Dämon hinauf. Seine Wange brannte von der Wucht desSchlags.

„Und was willst dutun?", fragte er nach einigen Sekunden, die er benötigte, um allseinen verbleibenden Mut zusammenzukratzen.

Die Frage schienLucifer in seinem Zorn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Seine Klauenbildeten sich zurück und auch die Reißzähne verbargen sich wiederim Kiefer, während der gefallene Engel nachdachte. Als erschließlich antwortete, klang seine Stimme rau, aber entschlossen.

„Ich will Lilithtöten und die Hölle von ihr befreien."



Frohe Ostern an alle, die dieses Fest feiern ^^

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