Kapitel 5
Fassungslos riss Beliel die Augen auf und starrte Michael an.
„Lucifer wird was?!"
Der Erzengel nickte scheu, ein Zittern lief durch seinen gesamten Körper und er blickte nicht auf, als er sprach. Obwohl er ja nichts für Lucifers übereilten Angriff auf den Herrn konnte, wirkte er schuldbewusst. Einige blaue Flecken und Schwellungen in seinem Gesicht waren noch zu erkennen. Zwei junge Seraphim hatten ihn auf dem Heimweg überwältigt und ihm einen Denkzettel verpasst, sich nicht mit jemandem aus ihrer Triade abzugeben.
„Doch... der Herr hat es eben verkündet; Er verbannt Lucifer in die Hölle...", wisperte er. Inzwischen hatte das Zittern seine Flügel erreicht, sodass es aussah, als stünde er kurz davor, in Tränen auszubrechen.
„Das kann doch nicht sein...", hauchte Beliel und ließ den Kopf sinken. Sein Verstand arbeitete; Lucifer befand sich in den Katakomben unter dem Tempel, in denen Gefangene eingesperrt wurden, die keinesfalls entkommen durften. Nach seinem Attentat auf den Herrn hatte man Lucifer dort eingekerkert, bis eine angemessene Strafe erdacht worden war, denn ein solcher Fall war im Gesetz nicht vorgesehen.
Azazel, der sich Beliel in letzter Zeit häufiger aufdrängte, knirschte mit den Zähnen. Beliel ging nicht davon aus, dass er sich Sorgen um Lucifer, sondern vielmehr um ihre geplante Revolution machte.
„Natürlich ist der Herr wütend, aber dass Er tatsächlich einen Engel in die Hölle schickt, wo sie ihn grausamer töten werden, als wir uns hier vorstellen können..."
Michael zuckte merklich zusammen und blickte erschrocken zu Azazel, der noch immer vor sich ihn grübelte. Im Blick des Erzengels lag so viel Schuldbewusstsein, dass Beliel aufmerksam wurde, doch solange Azazel mithörte, wollte er Michael keine unangenehmen Fragen stellen.
„So darf es nicht enden!"
Ganz plötzlich wusste Beliel, dass er nicht hierbleiben und darüber trauern durfte, was der Herr angeordnet hatte. Er würde direkt mit Lucifer sprechen, würde ihm versichern und sich versichern lassen, dass dies nicht das Ende war, sondern nur eine weitere Zerreißprobe ihrer Freundschaft.
Nur ein Engel stand Wache vor dem Eingang der Katakomben, denn die Kerker galten als absolut ausbruchssicher, selbst gegen Dämonen. Beliel nickte dem Wachposten, der zwar zur Revolution, nicht aber zum engsten Kreis gehörte, kurz zu, dann eilte er mit halb aufgeklappten Flügeln die Treppe hinunter, sodass er einen halben Meter weit segelte, bevor seine Füße wieder den Grund erreichten. Hinter sich rief die Wache ihm etwas zu, was er nicht verstand.
Mit wild schlagendem Herzen eilte er an den zahlreichen, leeren Gitterzellen vorbei, die in Stein gehauen waren und vollen Ausblick auf die darin eingesperrte Person boten. Ganz am Ende des kühlen, steinernen Ganges wandte er sich nach links und blickte in die halb ausgeleuchtete Zelle, die grade genug Platz für einen Engel mit ausgebreiteten Flügeln ließ.
Im Halbdunkel kauerte auf einer in den Stein gehauenen Bank eine Gestalt mit wildem, weißem Haar, das als einziges unter dem Kokon aus Federn hervorlugte. Lucifer sah nicht auf, als Beliel sein Kommen mit einem Klopfen gegen die Gitterstäbe ankündigte.
Inzwischen hatte der Wachposten sie erreicht, blieb jedoch respektvoll in einigen Metern Abstand stehen, um zumindest die Illusion von Privatsphäre zu vermitteln. Beliel nickte ihm dankbar zu, dann konzentrierte er sich wieder auf den gefangenen Seraphim.
„Lu...", hauchte er leise.
Endlich klappten die Flügel zur Seite und Lucifer hob den Kopf. Tiefe Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab und obwohl er sich unnahbar wie immer gab, merkte man ihm die Angst deutlich an. Er hatte die Beine eng an den Körper gezogen, um sein Zittern zu verbergen.
„Beliel", antwortete er erschöpft. „Warum bist du hier?"
Zittrig biss sich der Engel auf die Unterlippe und streckte die Hände durch das Gitter nach seinem besten Freund aus, der sich langsam aus seiner kauernden Haltung erhob und sich näherte.
„Du fragst Warum?"
Kaum dass er in Reichweite war, packte Beliel Lucifer an seiner Toga und zog ihn zu sich, um sein Gesicht zu umfassen und ihm einen verzweifelten Kuss durch die Gitterstäbe hindurch zu geben.
„Was glaubst du denn, warum, du Idiot?"
Ein feines Lächeln erschien auf Lucifers blassen Lippen und trotz des schlechten Lichtes schienen seine violetten Augen zu leuchten.
„Vielleicht hattest du ja Spaß daran, dich durch die Wachen zu diskutieren." Er versuchte, ironisch zu klingen, scheiterte allerdings kläglich. Verzweifelt sahen sie einander in die Augen.
„Das war's?" Beliel merkte, dass ihm die Tränen in die Augen traten. „Das ist nicht fair... Was soll ich denn hier oben machen ohne dich...?"
Behutsam lehnte Lucifer seine Stirn an die Gitterstäbe und nahm Beliels Hände in die seinen, um sie sanft zu streicheln. Ein Gefühl von Geborgenheit und Intimität stieg Beliel auf und am liebsten hätte er seinen besten Freund umarmt.
„Beliel...", setzte er an, doch noch im selben Moment entwich ihm ein unterdrücktes Schluchzen. „Es tut mir so leid... ich habe keine Sekunde daran gedacht, was aus euch wird, sollte ich scheitern... bitte verzeih mir, mein Freund..."
Nun rannen heiße, salzige Tränen über Beliels Wangen und Lippen, während er versuchte, sich zu beruhigen.
„Nimm mich mit dir", brachte er erstickt hervor. „Ich will hier nicht bleiben ohne dich..."
Lucifer lachte trocken. Freudlos.
„In die Hölle? Damit man dich dort auch umbringen kann? Ganz bestimmt nicht!" Er wusste also, was mit ihm geschehen würde.
„Das ist mir egal...", wisperte er in einem Anflug von Hoffnungslosigkeit. War es nicht immer Lucifer gewesen, der ihn gestützt und ihm Mut gemacht hatte? Wie konnte ein so starker Engel nun am Boden zerstört sein?
„Du bist mein bester Freund..."
Sie sahen einander erneut in die Augen, beide verweint und wenig herrschaftlich, ihre Finger ineinander verschränkt.
„Genau deswegen werde ich niemals zulassen, dass man dich in die Hölle schickt", erwiderte Lucifer.
„Du kannst mich doch nicht hier zurücklassen! Ich brauche dich...!"
Angespannt wartete Beliel auf eine Antwort, doch Lucifer lehnte sich nur erneut eng an das Gitter und ihre Lippen trafen sich.
„Irgendwann", hauchte Gottes ehemaliger Lieblingsengel. „Irgendwann werden wir wieder gemeinsam hier im Himmel lachen... Ich schwöre es dir; so schnell sterbe ich nicht."
Wenn er es selbst geglaubt hätte, hätten seine Worte wohl stark und selbstbewusst geklungen, doch Beliel hörte nur die Angst darum, diesen Schwur nicht einhalten zu können. Um die ungewohnte Verzweiflung nicht länger mitansehen zu müssen, schloss Beliel die Augen und erwiderte den Kuss schluchzend.
„Wehe, du lügst... Du hast es geschworen, Lichtbringer..."
Warme Finger wischten ihm die Tränen von den Wangen.
„Ich weiß." Ein trauriges Lächeln zierte Lucifers blasses Gesicht. „Und daran halte ich mich auch."
Niemals zuvor hatte Beliel seinen besten Freund so sehr umarmen wollen wie in diesem Moment.
„Ich habe so unglaubliche Angst grade", wisperte dieser kaum hörbar. Offenbar hatte er den Wachposten bemerkt und wollte ihn aus dem Gespräch ausschließen.
„Ich weiß..." Sanft küsste Beliel ihn nochmal, um die Umarmung zu ersetzen. „Ich wünschte, ich könnte sie dir nehmen."
„Danke, Beli..."
„Du musst mir nicht danken. Nicht dafür."
„Das war ein 'Danke für Alles'-Danke."
„Wir werden uns wiedersehen!"
Lucifer ging nicht darauf ein.
„Ich hasse das Warten hier unten – es ist kalt und still."
Betrübt senkte Beliel den Kopf.
„Ich... ich werde hierbleiben. Bis der Moment kommt..." ...an dem wir Abschied nehmen müssen. Beliel vertrieb diesen Gedankengang hastig. Nun war seine Zeit gekommen, Lucifer zu stützen und zu helfen, damit dieser nicht die Hoffnung verlor.
„Ich bin froh, wenn du bleibst, obwohl ich dir eigentlich sagen sollte, dass du gehen musst, bevor zu noch Ärger bekommst."
Sanft drückte Beliel Lucifers Hand, um ihm zu zeigen, dass er da war.
„Als ob ich auf die gehört hätte."
„Das ist das Problem - du hörst nie auf mich, wenn ich versuche, dir zu helfen. Ich wette, der halbe Himmel ist meinetwegen in Aufruhr."
„Das sollte dich nicht wundern. Was hast du dir nur dabei gedacht?"
Sein Freund schüttelte ernüchtert den Kopf.
„Klüger werde ich nicht, das weißt du doch. Außerdem – hast du gesehen, wie sie Michael zugerichtet haben? Es hat den Herrn nicht einmal gekümmert..."
In diesem Moment näherten sich Schritte und der Wachposten nahm Haltung an, als sich der Erzengel Gabriel näherte, das blonde Haar militärisch kurz, ein Breitschwert am Gürtel. Streng betrachtete er Beliel, der sich wunderte, dass kein höherrangiger Engel geschickt worden war, um nach Lucifer zu sehen.
„Du dürftest nicht hier sein, Beliel", sagte Michaels ältester Bruder, doch seine übliche Strenge brachte er nicht auf. Sein Blick flackerte kurz zu Lucifer, der hastig seine Tränen trocknete.
„Ich glaube nicht, dass du nur hier bist, um ihn fortzuschicken, Gabriel", mischte er sich dann ein, eine Hand noch immer in Beliels.
„Nein. Ich soll dich abholen. Satan ist zwar nicht persönlich erschienen, aber er hat einen Vertreter geschickt, der dich abholen soll." Gabriel wies den anderen Engel an, zurückzutreten, sodass er die vergitterte Türe aufschließen konnte. „Kränkt es dich, von einem Erzengel betreut zu werden?"
„Für mich sind alle Engel gleich", entgegnete Lucifer mit einer Ruhe, um die Beliel ihn beneidete. Der hochgewachsene Erzengel ließ ihm keine weitere Gelegenheit, seinen Freund zu berühren, doch dieser schien seine Fassung und seinen Stolz zurückgewonnen zu haben.
„Dann verzichte ich darauf, dich zu fesseln. Draußen wartet eine wütende Meute auf dich, da möchte ich dich nicht weiter demütigen als nötig und die Gefahr, das du zu fliehen versuchst, ist wohl eher gering." Gabriels sprach ruhig, aber man merkte ihm an, dass es unter der Oberfläche brodelte. „Ich dachte nie, dass du gut für meinen Bruder wärst, und ich hatte Recht, Morgenstern."
Hoch erhobenen Hauptes schritt Lucifer an ihm vorbei.
„Ich weiß. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr."
Beliel musste sich bemühen, mit ihnen Schritt zu halten. Hastig sprang er die drei Steinstufen hinauf, stieß die Türe auf und trat hinaus auf den Platz – er glaubte, in den tiefsten Kreisen der Hölle gelandet zu sein. Hunderte, wenn nicht tausende Engel hatten sich versammelt, sie schrien und buhten, einige warfen tatsächlich mit Gemüse. Mit gespielter Gleichgültigkeit schirmte Lucifer sich mit den Flügeln gegen die Angriffe ab und trat auf den etwas eingeschüchtert wirkenden Dämon in der Mitte des Platzes zu.
Dort drehte er sich noch einmal um, überwand Gabriels Abschirmung und umarmte Beliel so innig wie nie zuvor.
„Halte hier die Stellung für mich, bis ich zurück bin. Versprichst du mir das?"
Beliel schluckte schwer.
„Versprochen." Fest drückte er seinen besten Freund an sich. „Ich werde auf die warten. Und wenn es für immer dauert."
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