Kapitel 21

Fast ein Jahr warseit Lucifers letztem Aufenthalt im Himmel vergangen und für diesekurze Zeitspanne hatte sich einiges getan. Die bedrückte Atmosphäre,die bei seiner Verbannung vorgeherrscht hatte, war verschwunden,stattdessen pulsierte das Stadtzentrum vor Leben.

Lucifer stand aufdem Vorplatz des Tempels und beobachtete, wie sich eine Traube vonEngeln versammelte, um ihn zu begaffen. Wie ein Tier war er ihrenBlicken ausgesetzt, während seine Augen nach vertrauten, ihmfriedlich gesinnten Gesichtern suchten. Ab und an entdeckte er einMitglied des Widerstandes gegen Gott in der Menge, doch wann immer eres ansah, senkte es hastig den Kopf, um bloß niemanden auf die Ideezu bringen, in näherer Verbindung zu Lucifer zu stehen. Diese feigeVerhalten machte Lucifer unglaublich wütend.

Dann wurden dieTüren zum Tempel aufgerissen und Gott höchstselbst eilte auf denVorplatz. Augenblicklich hielt die Menge die Luft an, bevor sie wieeine Einheit auf die Knie sank. Für viele musste es eine einmaligeGelegenheit sein, ihrem Schöpfer so nahe zu kommen.

Lucifer biss sichunruhig auf die Unterlippe, bemüht darum, den plötzlichaufkeimenden Hass gegen den Herrn nicht allzu deutlich zu zeigen.Ohne auch nur den geringsten Respekt zu erweisen trat er vor Gott undfunkelte ihn an. Der freudige Ausdruck im Gesicht des Herrn erstarbaugenblicklich, als sich Lucifers dämonische Präsenz über denPlatz ausbreitete. Jeder hier musste mitbekommen haben, dass sieeinander nicht länger als Verbündete begegneten.

„Der verloreneSohn ist zurückgekehrt", versuchte Gott, ein Gespräch in Gang zubringen.

„Ich bin nichtzurückgekehrt", entgegnete Lucifer kalt, obwohl er sich innerlichvor Angst hinkauerte. Noch vor einem Jahr hätte er niemals gewagt,dem Herrn mit solch offen getragener Abscheu zu begegnen, doch seinAufenthalt in der Hölle hatte viel verändert. Hatte Luciferverändert.

Überraschungbreitete sich auf dem Gesicht des Herrn aus.

Sich der Wirkungseines Auftritts bewusst drehte sich Lucifer zu der Menge um, dienoch immer demütig kniete; und in diesem Moment erschien es ihm, alskniete sie vor ihm, dem König der Hölle und Oberhaupt der Dämonen.Ein berauschendes Gefühl!

„Ich bin nur hier,um die in meine Obhut zu nehmen, die mir Treue geschworen haben,bevor ich verbannt worden bin", erhob er die Stimme. Einige Engelblickten unruhig auf, doch niemand stand auf und hob sich damit gegendie Masse ab. Sie knieten lieber weiterhin zu seinen Füßen.

„Ich könnte jedeneinzelnen Namen derjenigen nennen, die mich in meinem Kampf gegenGott unterstützt haben", fuhr er fort, um seine Macht zudemonstrieren, „und sie damit öffentlicher Demütigung aussetzen.Aber ich bin nicht wie der Gott, den ihr verehrt und der mich, einesseiner Geschöpfe, von sich gestoßen hat." Bei diesen Worten warfer einen bösen Blick über die Schulter. Sein Puls raste. „Ichbiete jedem von euch an, mir aus freien Stücken zu folgen."

Ein Raunen liefdurch die Menge, das allerdings sofort erstarb, als sich ein Engelden Weg durch die Menge bahnte, dem Tränen über die Wangen liefen.Der braune Schopf schob sich durch die Menge, bevor er auf den Platzstolperte und dann mit steifen Schritten direkt auf Luciferzusteuerte. Im nächsten Moment lag Beliel ihm in den Armen unddrückte ihn so fest, dass Lucifer fürchtete, sein bester Freundwolle ihn ersticken.

„Du lebst",wisperte Beliel und wischte sich schniefend die Tränen aus denAugen.

„Ich hatte es dirversprochen", gab Lucifer leise, aber lächelnd zurück, bevor ersich wieder an die verunsicherten Engel wandte.

„Ich sprechedieses Angebot nur jetzt aus und werde es nicht wiederholen."

Angespornt durchBeliels Beispiel lösten sich einige Engel und gesellten sichebenfalls zu Lucifer, darunter Arariel, der Engel des Meeres, und dergewiefte Azazel, bis die Kerntruppe mit Ausnahme von Michael vor demTempel im Angesicht Gottes versammelt war. In diesem Kreis fühlteLucifer sich bereits sicherer. Herausfordernd blickte er zu Gott, dernur traurig und fassungslos zusehen konnte, wie Seine Geschöpfe sichvon Ihm abwandten.

„Lucifer!"

Der Angesprochenehob den Blick zum Himmel, als sich eine schmale, geflügelte Gestaltgegen das Sonnenlicht abzeichnete. Im nächsten Moment stürzteMichael ihm förmlich in die Arme, drückte ihn fest an sich und kamdabei auch an die empfindlichen Flügelnarben, sodass Lucifer ihnhastig von sich schob.

Mit großen Augensah Michael ihn an, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihmeinen langen, sehnsüchtigen Kuss auf die Lippen.

„Es kursierte dasGerücht, Satan hätte dich umgebracht", murmelte er, klang jedochunendlich erleichtert. Sanft strichen Lucifers Finger durch das weißeGefieder, wobei er nicht wusste, weshalb er sich selbst so damitquälte.

„Wie du siehst,war das nur ein Gerücht", antwortete er leise. Plötzlichbedrängte ihn die Menge; er wollte mit Michael alleine sein, ihm alldas sagen, was ihm während seiner Verbannung durch den Kopf gegangenwar. Er wollte Amon endlich loslassen können, um ganz in die Armeseines geliebten kleinen Engels zurückzukehren. Außerhalb desHimmels könnten sie ein neues Leben zu zweit anfangen.

Michael wich einenSchritt zurück und musterte ihn skeptisch. Sein blondes Haar war solang gewachsen, dass es ihm inzwischen bis über die Schulternreichte, und der unschuldige Glanz in seinen Augen war verschwunden,als hätte Michael im letzten Jahr eine schwere Last zu tragengehabt.

„Du... hast dichverändert, Lu..."

Augenblicklichspürte Lucifer seine Wiedersehensfreude unterdrückter Wut undTrauer weichen. Ihm wurde schmerzlich bewusst, wie viel nun zwischenihnen stand.

„Woran das wohlliegt", knurrte er kühl und wandte sich wieder Beliel und denanderen zu.

Gott trat vor undrichtete das Wort direkt an Lucifer.

„Man munkelt, duhättest die Regierung der Hölle übernommen. Entspricht dies derWahrheit?"

„Allerdings." Ersah diesem Mann, den er einmal so hoch geachtet hatte, direkt in dieAugen. „Ihr hättet mich töten sollen." Lucifer hob die Stimme,sodass die versammelten Engel ihn hören konnten.

„Die Höllebefindet sich ab Sonnenuntergang im Krieg mit dem Himmel. JederEngel, der sich uns bis dahin nicht angeschlossen hat, sollte keineGnade erwarten!"

Den Schock in GottesAugen genießend drehte Lucifer sich zu Michael und hielt ihmauffordernd eine Hand hin, doch der Erzengel wich zurück undschüttelte den Kopf.

„Ich werde michnicht gegen den Himmel stellen", wisperte er kaum hörbar. „Estut mir leid, Lu..."

Lucifer glaubte, aufdem ganzen Platz müsse man sein Herz brechen hören. MehrereSekunden lang rang er um Fassung, dann nickte er Michael knapp zu undging in Begleitung seiner Freunde, jedoch ohne den einen Mann, derzählte.


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