Kapitel 18
In den nächstenWochen kam Lucifer vor lauter Neuerungen in seinem Leben kaum zumAtmen. Nach der Krönung fanden sich Dämonen von überall aus derHölle bei ihm ein, um ihm ihre Aufwartung zu machen, sichvorzustellen und ihre Machtposition zu betonen. Gleichzeitigarbeitete er sich durch die Geschichte der Hölle mit dem Fokus aufdämonischer Gesellschaft, rekonstruierte Gesetze, die einmalgegolten und unter Satan außer Kraft gesetzt waren, gab schließlichauf und beschloss, das Rechtssystem zu reformieren.
Der Verlust von Amonmachte ihm noch immer zu schaffen, sodass er es bisher noch nichtgewagt hatte, das Anwesen zu verlassen, außer um mit Leona auf dieJagd zu gehen. Die verstümmelte Dämonin kümmerte sich wie eineMutter um ihn und je länger sie ihn umsorgte, desto unwohler fühlteLucifer sich dabei. Einmal kam ihm der Gedanke, ob das ihre Art seinkönnte, mit dem Verlust ihres Sohnes und ihres alten Lebensklarzukommen.
An diesem Nachmittagbeobachtete Lucifer von einem Fenster aus, wie Leona mit einem Eimervoller Fleischresten aus der Küche kam und über den Hof stapfte.Neugierig geworden verließ er seinen Beobachtungsposten und eiltehinunter in den Innenhof, wo die Dämonin auf ihn wartete, als hättesie geahnt, dass er zu ihr stoßen würde.
„Wofür ist dasFleisch gedacht?", wollte Lucifer wissen und deutete auf den Eimer.
„Für die Pferde",entgegnete Leona, während sie mit schnellen Schritten den Hofüberquerte. Lucifer erbot sich, ihr den Eimer abzunehmen, doch sielehnte dankend ab.
„Mir wäre neu,dass Pferde Fleisch bevorzugen."
„Nicht alle Pferdeernähren sich rein vegetarisch", antwortete sie mit einemgeheimnisvollen Lächeln. „Irgendwann kam jemand auf die Idee,Pferde zu züchten, die als Raubtiere leben. Und irgendwann gelangtediese Züchtung irgendwie hierher, doch Satan hatte nie ein Händchenfür diese besonderen Pferde, also hat er sie lediglich alsSpeiseplanerweiterung gehalten."
Sie stieß ein hohesGatter auf, das sich versteckt am Ende des Innenhofs befand, das demTor gegenüberlag. Neugierig folgte Lucifer ihr hindurch und fandsich in einer primitiven Stallanlage wieder. Etwa drei DutzendStallboxen reihten sich hier aneinander und dahinter lag ein Auslauf,auf dem er die dunklen Silhouetten mehrerer Pferde ausmachen konnten.
„Und sie ernährensich wirklich rein fleischlich?", hakte er noch einmal nach.
„Ja. Früherließen wir sie manchmal zum Jagen laufen, aber wenn sie versuchten,ein Dämonenkind zu reißen, kamen sie manchmal mit Kratzspurenzurück. Also haben wir angefangen, sie zu füttern. Ich werde es dirzeigen."
Sie hievte den Eimerbis zum Auslauf und stieß einen Pfiff aus. Sofort hoben die Pferdedie Köpfe. Es waren schöne, wenngleich magere Tiere mit dunklemFell und dünnen, aber kräftigen Beinen, die in silbrig glänzendenHufen endeten. Lediglich ihr totenschädelartiger Kopf mit den nachhinten gebogenen Zähnen wollte nicht dazu passen. Auf Leonas Pfiffhin galoppierten sie schnaubend und knurrend herbei, rangelten sichum den besten Platz am Zaun und begann schließlich, einander zubeißen. Aufgrund der leeren Augenhöhlen war Lucifer nicht sicher,ob sie überhaupt sehen konnten, dennoch fühlte er sich von diesenGeschöpfen angezogen.
Leona ergriff einStück Fleisch, das noch halb am Knochen hing, und schleuderte esüber den Zaun. Sofort erhob sich eines der Tiere auf die Hinterhandund fing den Brocken aus der Luft, woraufhin es mit schnellenGaloppsprüngen floh, um dem Rest der Herde zu entkommen. Diesewartete mit aufmerksam aufgestellten Ohren und bebenden Nüstern aufdie nächste Portion, die über den Zaun segelte.
„Lassen die sichreiten?", erkundigte sich Lucifer, der der Fütterung fasziniertbeigewohnt hatte.
„Nur wenn du eineHand bei dem Versuch verlieren willst, sie zu trensen." Leonalächelte schief und blickte auf ihren Armstumpf. „Nicht, dass iches versucht hätte, aber ein paar Finger könnte es dich schonkosten."
Kurzentschlossenkletterte Lucifer auf die unterste Planke des Zauns, sodass er sichbequem darüber schwingen konnte, und wedelte mit einem StückFleisch. Eines der Tiere, eine hochgewachsene Stute, trabte witterndheran, ließ sich von Lucifer hinhalten und erwischte schließlichden Bissen. Schnell griff Lucifer in die schwarze Mähne und zog sichhoch auf den Pferderücken.
Er hörte nur LeonasWarnruf, während sein auserkorenes Reittier einen erschrockenenSprung nach vorne machte, doch Lucifer blieb in die Mähne gekrallt.Fauchend bäumte es sich auf, fiel wieder zurück auf die Vorderhandund begann, in wilden Sprüngen zu bocken. Schneller als gedacht fandsich Lucifer auf dem Boden der Tatsache, dass das Pferd sich nichtreiten lassen wollte, wieder, während sein Reittier mit vor Schreckbebenden Flanken davonpreschte.
Indes waren dieanderen Pferde darauf aufmerksam geworden, dass sich etwas Lebendigesin ihrem Auslauf aufhielt. Mit einer Mischung aus Faszination undEntsetzen begann Lucifer zu begreifen, welch tödliche Raubtiere mitihnen erschaffen worden waren: er spürte die Erde unter demHufschlag des herangaloppierenden Tieres erzittern, sah die Muskelnunter dem schwarzen Fell arbeiten, als 500 Kilogramm Raubtier auf ihnzukamen. Der Kiefer klappte auseinander und offenbarte ein tödliches,vom blutigen Fleisch noch rot gefärbtes Gebiss, das sicherlichmühelos Fleisch von seinen Knochen reißen könnte.
Wie in Zeitlupe zoger sein Schwert, um sich gegen diesen tödlichen Jäger zuverteidigen, dem eine ganze Herde weiterer folgte. Sein Puls schossin die Höhe, als er sich für den Schlag in Position brachte. Dasatemberaubende Gefühl, dem Tod selbst gegenüberzustehen, überkamihn. Es gelang ihm, dem Tier auszuweichen, als es nach ihm schnappte,doch er konnte die Kraft der Kiefer erahnen. Seine Schwertklingedrang in den Widerrist ein.
Mit einem Gefühlvon Stärke und Triumph beobachtete er, wie das Tier zurückwich,während Blut aus der Wunde über das schwarze Fell lief. Knurrendtänzelte es rückwärts und auch die Herde ließ von ihrem Angriffab.
„Leona", sagteLucifer, ohne den Blick von der Stute abzuwenden, die nochabzuschätzen schien, ob sie sich dem Feind erneut stellen wollte.„Gib mir noch ein Stück Fleisch."
Er fing es auf,schloss die Finger fester um den Schwertgriff, dann warf er denblutigen Brocken vor die Stute, die einen Sprung rückwärts machte,dann jedoch witternd den Kopf senkte, ein leises Wiehern ausstießund das Fleisch verschlang.
Lucifer atmete aus.Er steckte das Schwert zurück in den Gürtel, dann ging er in allerRuhe und von der ganzen Herde beobachtet zurück zum Zaun undkletterte darüber. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht.
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