Kapitel 44

Immer noch wie von einem Blitz getroffen starrte ich meine Schwester an.

"Ich hätte mich doch für dich gefreute", murmelte sie traurig.

"Evie, es tut mir leid. Aber es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Der Geruch, die Gesichter. Ich komme einfach nicht über Seans Tod hinweg. Und dann kam Jack und schlug noch einmal die Idee mit dem Auslandsjahr vor. Ich dachte mir, was sollte es schon schaden. Eine Bewerbung würde niemandem weh tun. Und dann wurde ich wirklich angenommen. Ich hätte das gar nicht erwartet. Ruben weiß über alles bescheid. Er war schon nicht so begeistert, auch wenn er mich unterstützt. Aber da hatte ich einfach Angst. Ich kenne euch doch. Ihr würdet versuchen mir das ganze auszureden. Deswegen wollte ich es euch erst so spät, wie nur irgendwie möglich erzählen", seufzte ich.

"Faith, wie kannst du nur so von uns denken. Natürlich würden wir keine Luftsprünge machen und klar würden wir dir sagen, dass du doch lieber bleiben solltest. Aber das liegt doch nur daran, dass wir dich lieben und dich bei uns haben wollen. Kayden wäre bestimmt der Meinung, dass das alles nur an seinem guten Einfluss liegen würde. Unser Brüder würden sich so unglaublich für dich freuen. Du hast diese einmalige Chance bekommen und nutzt sie. Und diese Chance hast du dir ganz alleine erarbeitet. Wie könnten wir uns da nicht für dich freuen", erklärte Evie sanft, "Aber seien wir ehrlich. Du hast diese Chance nur angenommen, um wegzurennen. Und du rennst vor deinem Gefährten weg. Es könnte euch umbringen. Damals bei dem Vollmond hast du dich für ihn entschieden. Das kannst du nunmal nicht mehr rückgängig machen. Also sei wenigstens so ehrlich und rede mit ihm darüber. Wenn du ihn schon nicht mehr als deinen Gefährten akzeptierst, ist dass das geringste, was du noch für ihn tun kannst."

Niedergeschlagen sah ich meine Schwester an. Sie hatte ja recht. Ich war es Zander schuldig, die Wahrheit zu erzählen.

"Es tut mir leid. Ich werde mit ihm reden. Ich weiß, dass ich das machen muss", flüsterte ich.

"Wie willst du ihm das erklären? Die Ausreden, dass es nur sein Geruch wäre, wird dann nicht mehr klappen. In Europa riechen alle Werwölfe so wie er", fragte Evie vorsichtig nach. Ich kannte meine aufmüpfige, laute Schwester überhaupt nicht so sanft und rücksichtsvoll. Normalerweise war ich die ruhige Seele, die ihr ins Gewissen redete und nicht umgekehrt.

"Ich muss ihm die Wahrheit sagen, das ich eigentlich mehr, Summer, River und ihm die Schuld an Seans Tod gebe. Ich weiß, dass das Blödsinn ist. Aber wenn ich ihn nicht verteufle, wenn ich ihn und die anderen nicht zu den Monstern mache, dann hat Seans Tod keinen Sinn. Dann ergibt das alles keinen Sinn", flüsterte ich. Ich versuchte meine Tränen zu unterdrücken und keine Szene in diesem kleinen Café zu machen.

"Denkst du ich verstehe dich nicht?", meinte meine Schwester liebevoll, "Natürlich tue ich das. Aber ich verstehe auch Zander. Er liebt dich über alles und hat nichts falsch gemacht. Trotzdem hast du ihn verlassen. Willst du ihm wirklich nicht noch einmal eine Chance geben? Er könnte bestimmt ein Semester Pause einlegen und mitkommen."

"Nein", sagte ich hart.

"Wow, das war eindeutig", hörte ich da Zander hinter mir. Durch die ganzen Gerüche um uns und meinen aufgewühlten mentalen Zustand hatte ich überhaupt nicht mitbekommen, dass er auch hier war.

Vor Sean Tod wäre mir so eine Unachtsamkeit nie passiert. Aber jetzt?! Zander stand nur zwei Meter von mir entfernt.

Ich sah zu, wie Zander das Café verließ. Seufzend drehte ich mich wieder Evie zu.

"Jetzt lauf ihm schon hinterher. Erklär ihm alles. Mach dir um mich keine Gedanken. Ich trinke noch aus und bezahle dann für uns", überredete sie mich. Oder besser. Sie schob mich schon fast aus dem kleinen Laden hinaus.

Schnell verfolgte ich Zander. Er saß auf einer Bank mitten auf dem Campus und starrte einfach vor sich hin. Ohne etwas zu sagen, setzte ich mich neben ihn. Zwischen uns blieb eine breite Lücke.

"Ich liebe dich", brach mein Gefährte als erstes das Schweigen.

"Ich weiß", antwortete ich niedergeschlagen.

"Es hat also nichts mit meinem Geruch zu tun?"

"Wie viel hast du von dem Gespräch zwischen Evie und mir mitbekommen?", stellte ich die Gegenfrage.

"So ziemlich alles. Du gehst zusammen mit Jack nach Europa. Ich freue mich für dich, auch wenn ich dir von Anfang an hätte sagen können, dass sie dumm gewesen wären, wenn sie dich nicht genommen hätten. Du hast es verdient. Aber ich habe auch gehört, dass du meinem zukünftigen Alpha, seiner Zwillingsschwester, Ruby und mir die Schuld an Seans Tod gibst", erklärter es ruhig.

"Glaub mir, ich weiß selbst, dass das unlogisch ist. Aber jedes Mal, wenn ich euch sehe, kann ich nur noch daran denken, wie ich Sean gehalten habe. Wie er so viel Blut verloren hat und irgendwann aufgehört hat zu atmen", flüsterte ich.

"Du weißt, ich mochte ihn auch. Ich vermisse ihn auch. Er war ein zu toller Mann. Sean hat mich immer gut behandelt. Ich vermisse ihn auch. Aber es war nicht unsere Schuld. Glaub mir ich hätte ihn gerne gerettet. Aber es war nicht unsere Entscheidung. Wir haben den Abzug nicht gedrückt. Wir haben auch nie die Entscheidung getroffen, zu euch zu ziehen. Das war der Alpha. Er wollte uns nur beschützen. Niemand hätte ahnen können, dass so etwas passiert", sprach Zander sanft auf mich ein.

"Und du denkst, dass wüsste ich nicht alles?", gab ich zurück, "Gerne würde ich das so sehen. Aber das alles macht mich kaputt. Wenn ich euch sehe und euch rieche, möchte ich mich übergeben. Ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren. Ich werde unachtsamer. Das darf einfach nicht so weiter gehen. Ich brauche mehr Abstand!"

Seufzend stand ich auf. Meine Schulter hingen ließ erschöpft hängen.

"Du weißt aber, dass das alles nicht besser wird, wenn du nach Europa gehst? Es wird schlimmer werden. Das alles sind Symptome, die auftreten, weil wir voneinander getrennt sind. Dein Wolf kämpft mit seinem inneren Schmerz und kann sich auf die anderen Dinge nicht mehr konzentrieren. Es wird nur noch schlimmer und schlimmer werden, sobald du dich noch weiter von mir entfernst. Denkst du wirklich, dass du das schaffst?", forderte Zander mich heraus.

Er meinte es nicht böse. Mein Gefährte versuchte mich nur hier zu halten. Ich konnte es verstehen, aber ich musste stark bleiben. Das Gefühl von einer aufwallenden Übelkeit breitete sich nämlich schon wieder in meiner Magengegend aus.

"Ja, ich schaffe das. Und du solltest das auch."

Mit durchgestrecktem Rücken und erhobenen Hauptes versuchte ich so würdevoll, wie nur irgend möglich davon zu schreiten. Aber es sah wahrscheinlich mehr aus, als würde ich davon rennen.

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