Kapitel 1
"Evie! Du musst aufstehen, sonst kommst du wieder zu spät zu deiner Vorlesung!", versuchte ich meine Schwester jetzt schon zum dritten Mal zu wecken. Ihr Professor war schon nicht besonders gut auf sie zu sprechen, da sie so ziemlich jede seiner Aussagen anzweifelte. Er sollte nicht noch mehr Gründe finden, sie zu hassen und sie vielleicht sogar durchfallen zu lassen.
"Faith, lass mich in Ruhe!", brummte Evie und drehte sich wieder um. Ich gab auf und ließ sie einfach schlafen. Ich musste auch an meine Vorlesungen denken, zu denen ich jetzt los musst, wenn ich nicht zu spät sein wollte. Ich studierte Kunst. Wie alle hoffte ich, dass ich mich als freiberufliche Künstlerin über die Runden schlagen könnte, aber ich war realistisch und rechnete schon mit einem schlecht bezahlten Job in einem Museum oder sogar in einer ganz anderen Richtung als Kunst. Ich hatte das Glück, dass ich durch meine Familie finanziell abgesichert war, aber ich wollte lieber auf eigenen Beinen stehen.
Schnell und unauffällig schob ich mich an den Studentenmassen vorbei. Alle mussten in unterschiedliche Richtungen und keiner wollte anderen Platz machen. Evie hatte nie Schwierigkeiten ihren Weg zu finden. Sie schritt einfach mit ihren langen Beinen und erhobenem Kopf durch die Mengen und jeder machte ihr Platz, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Ich dagegen wurde beinahe über den Haufen gerannt, wenn ich nur den Gang betrat.
Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken, während ich mir meinen Weg bahnte.
"Guten Morgen, Faith", hörte ich Connor sprechen, noch bevor ich etwas sagen konnte.
"Guten Morgen, Connor. Was ist los?", fragte ich. Ein erleichterter Seufzer entkam mir, als ich endlich in meinem Vorlesungssaal angekommen war.
"Was denn? Darf ein fürsorglicher Bruder seine kleine Schwester nicht einfach so anrufen?", ich konnte sein schelmischen Grinsen beinahe vor mir sehen.
"Connor, wirklich? Ich habe gleich Unterricht und wenn du nicht sagst, was du willst, werde ich auflegen."
"Nein, das wirst du nicht und das wissen wir beide", lachte Connor mich aus. Er hatte natürlich recht. Ich würde mich niemals trauen, so unhöflich zu sein und einfach bei irgendwem aufzulegen.
"Ich rufe an, weil ich Evie nicht erreichen kann. Ist sie schon wieder nicht aufgestanden, um zu ihrer Vorlesung zu gehen?"
"Nein, nein! Sie sitzt wahrscheinlich einfach nur schon im Saal!", versuchte ich meine Schwester schnell herauszureden.
"Du hast immer noch nicht gelernt, wie man richtig lügt", lachte Connor wieder, "Aber gut, damit habe ich meine Antwort. Ruben muss das nicht erfahren, aber ich werde noch mal mit ihr darüber reden. Wenn sie jemals ihren Abschluss schaffen will, muss sie auch studieren."
"Ich weiß", seufzte ich erschlagen. Connor würde Kayden alles erzählen und dann würden sich die beiden nur wieder mit Evie streiten.
"Ich muss jetzt auflegen. Tut mir leid. Wir reden heute Abend noch einmal, wenn du möchtest", schlug ich vor.
"Faith, es ist ein Freitagabend ich werde auf einer Party sein und du solltest auch mal unter Menschen kommen!"
"Ok, dann bis irgendwann mal", sagte ich schnell und legte auf. Sofort fühlte ich mich schlecht. Connor hatte es nur gut gemeint. Er wollte, dass ich Freunde und Bekanntschaften außerhalb unseres Rudels hatte, ein "normales" Leben für den Schein. Aber ich war einfach nicht gut, mit neuen Personen und damit Kontakte zu knüpfen.
"Ist hier noch frei?", wurde ich von einer männlichen Stimme aus den Gedanken gerissen.
Verwundert sah ich den jungen Mann vor mir an. Vorsichtig deutete er auf den Stuhl neben mir. Schnell nickte ich und versuchte alles weitere zu ignorieren.
"Ich bin Tyler und du?"
"Faith", antwortete ich kurz angebunden. Ich wusste ganz genau, wer er war. Star Football Spieler, beliebtester Typ und die größte männliche Schlampe. Er studierte nicht einmal Kunst, sowie ich und diese Vorlesung hatte er auch noch nie besucht.
"Ich habe dich noch nie hier gesehen, wann bist du hier her gewechselt?" Jetzt drehte ich mich doch ihm zu und musterte ihn von oben bis unten.
"Tyler, ich studiere hier genauso lange, wie du. Aber du solltest zu deiner Vorlesung gehen, du kommst noch zu spät", flüsterte ich ihm mit einem lächeln auf den Lippen zu.
Ein kurzer schockierter Ausdruck wanderte über sein Gesicht, aber verschwand genauso schnell. Tyler räusperte sich und versuchte damit seine eigene Unsicherheit zu überspielen.
"Also... Hast du Lust heute mit mir auf eine Party zu gehen?", fragte er.
"Das ist wirklich lieb von dir, aber nein danke", lächelte ich ihm zu. Es war wirklich nett von ihm zu fragen, aber ich war der festen Überzeugung, dass er nur eine schnelle Nummer mit mir schieben wollte. Ich hatte schon mein erstes Mal und war keine Jungfrau mehr. Aber damals war ich auch in einer Beziehung. Es war in der Oberstufenzeit. Durch Evie war ich in ihrem Freundeskreis integriert und kam mit einem sehr netten und süßen menschlichen Jungen zusammen. Aber die Geheimnisse, die meine Art und meine Familie umgeben, waren zu viel und die Beziehung zerbrach daran. Dadurch wollte ich mich jetzt so gut wie möglich von den Menschen Fernhalten. Ich wollte nicht wieder verletzt werden oder andere verletzen müssen.
"Eh was?", fragte Tyler.
"Es ist wirklich lieb, dass du mich fragst, aber ich werde nicht mit dir auf eine Party gehen. Du scheinst mir ein netter Typ zu sein, also wirst du bestimmt noch andere finden, die sehr gerne mit dir zu der Party gehen werden. Und bevor du fragst, nein, ich werde auch nicht mit dir ausgehen. Aber falls du mal eine Freundin zum Reden brauchst, dann bin ich gerne für dich da", erklärte ich ruhig und leise, so dass der Dozent, der schon mit seiner Vorlesung begonnen hatte, nichts davon mitbekam.
"Du bist nicht interessiert?", fragte Tyler, "Nicht am feiern, an keinem Date, an nichts?"
Ich schüttelte nur den Kopf und machte so gut es ging Notizen zum Thema der Vorlesung.
"Aber ich bin der Quaterback Tyler?!"
"Ich weiß, wer du bist, aber das ändert nichts an meiner Einstellung."
Für mich war das Gespräch beendet, während Tyler neben mir immer noch nicht fassen konnte, dass er soeben einen Korb bekommen hatte. Wahrscheinlich den ersten Korb in seinem ganzen Leben. Ich versuchte mich nicht schlecht zu fühlen, dass ich seine Gefühle vielleicht gerade verletzt hatte, aber ganz gelang mir das nicht.
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