Kapitel 2
An diesem Abend kam Graham sieben Minuten nach fünf nach Hause. Max lag ausgestreckt mit einer Tüte Chips auf dem Bauch auf der Couch und scrollte durch sein Handy, als Graham seine Jacke am Garderobenhaken aufhängte.
„Alter, ich wollte schon Suchtrupps losschicken", nuschelte Max trocken, ohne aufzusehen. „Du bist sieben Minuten zu spät, was hat dich aufgehalten?"
Graham blieb am Eingang stehen und sah zu Max hinüber. „Du isst Chips auf der Couch."
Max verdrehte die Augen und grummelte, setzte sich aber auf und legte die Packung auf den Couchtisch. „Da. Zufrieden? Jetzt esse ich sie nicht mehr auf der Couch."
Graham schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: „Du arbeitest nicht."
Max streckte sich dramatisch. „Ich arbeite. Schwer. Im Augenblick daran, nicht meinen Job zu kündigen, während ich zum fünften Mal heute warte." Er zählte an den Fingern auf. „Build läuft. Code-Review läuft. Die API, die ich brauche, ist gerade tot. Und das Deployment-Update braucht noch..." Er warf einen Blick auf sein Handy und sah dann zurück zu Graham. „Zweiunddreißig Minuten. Warten ist hart. Ich arbeite schwer", zwinkerte er und ließ sich wieder auf den Rücken fallen.
Graham steuerte kommentarlos auf sein Zimmer zu, aber Max fand, dass seine Schritte noch kalkulierter als sonst wirkten. Er stütze sich mit dem Arm an der Couchlehne ab und drehte sich in seine Richtung. „Warte! Warum bist du denn nun zu spät gekommen?"
Graham blieb stehen und verschränkte die Finger vor dem Bauch, wie immer, wenn er ein wenig angespannt war oder intensiv über etwas nachdachte. Sein Blick schweifte durch den Raum, während er nach den richtigen Worten suchte. Max wartete geduldig.
„Ich musste über eine zwischenmenschliche Situation nachdenken, die im Café passiert ist."
„Hat die Barista deinen Kaffee wieder vermurkst?"
„Nein. Sie wollte mit mir einen Kaffee trinken."
Max riss die Augen auf und begann ungläubig zu grinsen. „Das ist doch mal eine spannende Wendung. Und? Wann trefft ihr euch?"
„Ich hab Nein gesagt." Graham wandte den Blick ab, drehte sich um und wollte auf sein Zimmer gehen, aber Max sprang über die Couchlehne und stellte sich ihm gekonnt in den Weg.
„Whoa, whoa, stopp! Was soll das heißen, du hast Nein gesagt?", hakte Max nach. Graham dachte kurz nach, aber weil diese Frage kaum nach einer echten Antwort verlangte, hatte Max sie vermutlich nur rhetorisch gemeint, also erklärte er: „Sie wollte mit mir heute nach ihrer Schicht einen Kaffee trinken. Ich hatte schon einen Kaffee."
Max wollte Graham an den Schultern packen und kräftig schütteln, aber er hielt sich zurück. „Du- Graham! Wenn dich ein Mädchen fragt, ob du einen Kaffee mit ihr trinken willst, dann ist das eine Einladung, Zeit mit ihr zu verbringen. Dabei geht es doch nicht um den Kaffee!"
Graham hielt den Blick Richtung Balkon geheftet und seine zuckenden Augenbrauen waren der einzige Indikator dafür, dass sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. „Sie hat nur von einem Kaffee gesprochen", hielt er dagegen. „Sie wollte nach ihrer Schicht einen Kaffee mit mir trinken."
Max machte einen Schritt zurück, als hätte Graham ihn persönlich angegriffen und rieb sich mit einer Hand übers Gesicht, während er die andere an seiner Hüfte abstützte und Graham fassungslos anstarrte. „Ja, weil man das so macht!" Er kannte Graham jetzt seit über zwanzig Jahren und manchmal wollte er ihn auf den Mond schießen. Nein, eigentlich wollte er ihn regelmäßig auf den Mond schießen. „Willst du mit mir -beliebige Aktivität einfügen-, bedeutet grob übersetzt immer, ich will Zeit mit dir verbringen. Wenn du keinen Kaffee trinken wolltest, warum hast du nichts anderes vorgeschlagen?"
„Sie hat nicht zum Ausdruck gebracht, dass sie etwas anderes als Kaffee will", fuhr Graham neutral fort.
„Ja, weil du sie abgewiesen hast!", knurrte Max. „Die meisten empfinden das als unangenehm." Zu allem Übel konnte er sich auch noch zu genau vorstellen, wie Graham sie abgewiesen hatte. Nämlich so, wie Graham alles machte: vollkommen ohne jegliches Feingefühl.
Unfassbar. Jetzt musste er seinem besten Freund auch noch das Daten beibringen. Aber gut - besser spät als nie. Es war noch nie passiert, dass ein Mädchen mit Graham ausgehen wollte. Gut, gewollt hätten es bestimmt ein paar, bis sie herausgefunden hatten, das Graham ein bisschen anders war. Aber jetzt war diese Chance da, und Graham hatte sie gekonnt in den Wind gestoßen. Max empfand es als seine Pflicht, die ganze Sache wieder auf Kurs zu bringen. Es wurde wirklich langsam Zeit, dass sein bester Freund seine Nase aus seinen Textbüchern nahm und zwischen die Beine einer Frau steckte.
„Willst du Zeit mit ihr verbringen?", fragte er dann, weil das wohl immer noch der ausschlaggebendste Faktor dafür war, ob eine Rettungsaktion sinnvoll war.
Graham neigte den Kopf und sein Blick huschte über die Zimmerdecke. „Ich kenne sie nicht. Ich kann nicht wissen, ob sie ein angenehmer Zeitgenosse ist."
„Gray, Alter, ich frag dich, ob du sie heiß findest! Findest du sie attraktiv, würdest du sie gerne treffen und kennenlernen?"
„Ich kann aufgrund ihres Aussehens nicht auf ihren Charakter schließen."
Max schloss angestrengt die Augen. Wie hatte er ihn eigentlich noch nicht umgebracht?
Dann sagte Graham plötzlich: „Sie macht meinen Kaffee immer richtig."
Max hielt inne und betrachtete ihn nachdenklich. „Na, das ist doch was, oder? Wenn irgendjemand irre genug ist, die Schritte von deiner Kaffeebestellung zu befolgen, dann ist diese Person vielleicht auch irre genug, sich mit dir zu treffen, nachdem du sie auf deine vermutlich sehr charmante Graham-Art hast abblitzen lassen." Er klopfte Graham auf die Schulter. „Ich mach das, Kumpel. Ich red mit ihr. Wenn du versuchst, das Ganze zu retten, ist es vermutlich vorbei, bevor es angefangen hat."
„Das ist nicht möglich. Etwas kann nur vorbei sein, wenn es angefangen hat, folglich-"
„Weißt du, wie sie heißt?", unterbrach Max angespannt, bevor er Graham vielleicht wirklich umbringen würde. Er hatte eine Frau abgewiesen. Das Maß war für heute eindeutig voll.
Graham nickte langsam. „Kayla. Steht auf ihrem Namensschild."
„Alles klar. Dann geh ich da morgen hin und klär das auf. Ich besorg dir dein Date. Und du gehst auf dein Zimmer und denkst über dein Verhalten nach", wies er Graham spaßeshalber zurecht, aber wenn er so darüber nachdachte, war es gar kein Scherz gewesen, nur würde es vermutlich nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen.
Als Max sich wieder auf die Couch setzte und nach seinem Handy griff, blieb Graham zögernd stehen und sah in seine Richtung.
„Halte dich an meinen Zeitplan", erinnerte er dann.
Max schloss einen Augenblick lang die Augen und seufzte leise. „Ich weiß."
„Nicht an einem Montag."
„Ich weiß."
„Und nicht zwischen neun und fünf Uhr."
„Ich weiß."
„Und ich will keinen Kaffee trinken, wenn ich schon einen hatte."
„Ich weiß."
„Und-"
„Gray!" Max fuhr zu ihm herum, halb amüsiert, halb genervt. „Ich weiß. Lass mich jetzt weiterarbeiten."
„Du arbeitest nicht", erwiderte Graham und drehte sich um, um auf sein Zimmer zu gehen. Max schüttelte den Kopf und angelte sich wieder die Chipspackung.
„Wenn er auch nur einmal flachgelegt wird, bevor ich sechzig bin, hat mein Leben einen Sinn gehabt..."
***
Am nächsten Tag betrat Max das Café, bevor er mit seiner Arbeit begann. Es war kurz vor zehn und der Laden war voll mit Studenten, die sich vor ihren Kursen einen Wachmacher gönnen wollten. Kein Wunder, der Unicampus lag direkt gegenüber. Vor ein paar Jahren war er auch noch regelmäßig hierhergekommen, meist mit Graham zusammen, aber seit er nicht mehr an die Uni ging, verließ er auch nicht mehr nur für Kaffee das Haus.
Hinter der Theke standen drei junge Frauen, die eilig hin und hersprangen. Er drängte sich durch die Masse, um die Namensschilder erkennen zu können, aber es war zwecklos, er musste sich wohl oder übel in der Schlange anstellen und warten.
Als er schließlich dran war, stand ihm ein Mädchen mit schwarzen Haaren und einem Nasenpiercing gegenüber. Er linste auf ihr Namensschild. Mara.
„Was darf's sein?", fragte die junge Frau ohne das typische Verkäuferlächeln.
„Ich will mit Kayla sprechen", sagte er und ließ sein charmantestes Lächeln strahlen.
„Ich bin schockiert", entgegnete die junge Frau trocken und völlig unbeeindruckt.
„Ist sie heute da?"
Mara drehte sich zu einer jungen Frau, die an der Kaffeemaschine stand. „Kayla!"
Kayla sah hoch und traf Max' Blick. Er verschluckte sich beinahe an seiner Spucke. „Ach, du Scheiße", grummelte er. Erst jetzt wurde ihm das Ausmaß der ganzen Katastrophe klar. Graham hatte nicht nur eine Frau abgewiesen. Er hatte eine verdammt schöne Frau abgewiesen. Das erschwerte das ganze vermutlich. Schöne Frauen waren seiner Erfahrung nach nicht auf zweite Chancen angewiesen. „Ich bring ihn um", murmelte er kopfschüttelnd.
Kayla machte die Bestellung fertig, an der sie gerade gearbeitet hatte, dann trat sie vor ihn und lächelte ihn warm an. Sie hatte die Art von Lächeln, das nicht nur die Lippen verzog, sondern die Augen erreichte und das ganze Gesicht aufhellte und verdammt- sie hatte wirklich ein schönes Gesicht und ihre haselnussbraunen Augen hatten dieselbe Farbe wie ihre Haare.
„Was kann ich dir bringen?"
Max lehnte sich vor und schaffte es nicht, gegen seine niederen Instinkte anzukämpfen. „Eigentlich wollte ich einen Kaffee, aber jetzt hätte ich lieber deine Nummer."
Kaylas Lächeln verschwand augenblicklich und sie zog unbeeindruckt die Augenbrauen hoch. „Was Besseres fällt dir nicht ein? Den Spruch hab ich diese Woche schon..." Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen, bevor sie ihn wieder ansah. „Vier Mal gehört. Und es ist Dienstag. Wenn du also keinen Kaffee willst, dann-"
„Halt, stopp! Reflex! Das war ein Reflex", meinte er beschwichtigend und hob schnell die Hände, bevor sie ihn aus dem Café werfen würde.
„Da bin ich sicher", wiederholte sie kühl und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann versuchst du alle Frauen so niveaulos anzugraben?"
„Absolut alle", nickte er wahrheitsgetreu und völlig ernst. Das entlockte Kayla zumindest ein leichtes Zucken der Mundwinkel. „Aber eigentlich bin ich wegen einer ganz anderen Sache hier", lenkte er ein, als ihm einfiel, dass nicht er ein Date haben sollte, wenn er aus diesem Café kam, sondern sein bester Freund. „Ich bin bin übrigens Max. Und ich bin wegen Graham hier."
Kayla zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Wem?"
„Groß, dunkle Haare, vermeidet Augenkontakt, sitzt immer da hinten am Fenster und löst komplexe mathematische Gleichungen. Klingelt da was, oder muss ich noch seine Kaffeebestellung runterbeten?"
Ihr Kiefer zuckte leicht und er merkte, wie ihr die Röte den Hals hinaufkroch. „Was ist mit ihm?"
„Naja, er hat doch Nein gesagt, als du ihn gestern gefragt hast, ob er mit dir einen Kaffee trinken will, oder?"
„Gab's da einen Zeitungsartikel drüber, den ich verpasst habe?", fragte Kayla trocken.
Max schnaubte amüsiert. „Nein, keine Sorge, ich bin sein bester Freund, wir sind... ein Herz und eine Seele, wie man so schön sagt." Er hielt kurz inne. „Nur bin ich vermutlich Herz und Seele." Zu seiner Überraschung musste Kayla kurz auflachen. Er lächelte und beugte sich noch ein Stückchen weiter vor.
„Die Sache ist die... Er hat Nein gesagt, weil er keinen Kaffee mit dir trinken wollte."
Ihr Lachen erstarb wieder und sie blinzelte ihn an. „Ja. Danke für die Aufklärung."
Max schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das- okay, nochmal: Er wollte keinen Kaffee mit dir trinken. Wie in Ich-hatte-schon-einen-Kaffee-heute-und-will-nicht-noch-einen."
Kayla schüttelte verwirrt den Kopf und das konnte er ihr nicht verübeln. Sie sah sich kurz in dem rammelvollen Café um und er wusste, dass er sich beeilen musste. „Worauf willst du hinaus? Ich muss wieder arbeiten."
Max neigte den Kopf. „Zwischen den Zeilen lesen? Subtile soziale Hinweise entschlüsseln? Nicht sein Ding. Er hat nicht gerafft, dass du einfach Zeit mit ihm verbringen willst, deshalb hat er Nein gesagt. Weil er keinen zweiten Kaffee an dem Tag wollte." Kayla sah immer noch verwirrt aus. Max deutete mit einer auf sich. „Deshalb bin ich hier. Um dir zu sagen, dass Graham gerne mit dir ausgehen würde."
„Ich bin verwirrt." Kayla runzelte die Stirn.
„Willkommen in meiner Welt", murmelte Max, bevor er den Kopf schüttelte. „Aber meine Frage ist eigentlich... Willst du noch mit ihm ausgehen?"
Kayla studierte ihn einen Augenblick lang und schien abzuwägen, wie ernst er das Ganze meinte, und Max konnte sich einfach nicht zurückhalten. „Wenn nicht, dann muss ich nämlich gleich nach einem Stift fragen, damit ich dir meine Nummer geben kann."
Kayla schnaubte amüsiert. „Willst du ein Date für deinen Freund oder für dich?"
Max seufzte theatralisch. „Ich weiß, ich müsste jetzt Für Graham sagen, aber mein Körper schreit mit jeder seiner Fasern immer lauter Nein!" Wieder musste Kayla lachen. Verdammt, warum war es ihm eigentlich nicht vergönnt, von so einer atemberaubenden Schönheit auf einen Kaffee eingeladen zu werden?
„Du scheinst wirklich einiges für ihn auf dich zu nehmen", bemerkte sie, halb sarkastisch, halb ernst.
„Du hast ja keine Ahnung." Max schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. „Also, was sagst du? Bitte, sag Ja, damit ich diesem historischen Ereignis beiwohnen kann."
Kayla betrachtete ihn noch einen Augenblick lang. Sie war sich unsicher, das sah er ihr an, aber schließlich gab sie sich einen Ruck. „Okay. Ja. Ich will immer noch mit ihm ausgehen."
Er presste sich eine Hand gegen die Brust und atmete scharf ein. „Verdammt... ich hätte nicht gedacht, dass der beste Tag meines Lebens gleichzeitig auch der dunkelste sein wird." Kayla legte den Kopf schräg und sah ihn tadelnd an, konnte sich ein kleines Grinsen aber nicht verkneifen. „Tut mir leid, aber du machst es mir wirklich schwer, dir ins Gesicht zu sehen und nicht zu flirten."
„Dann frag doch deinen Kumpel nach Tipps. Das mit dem nicht-ins-Gesicht-schauen hat er prima drauf."
Max lachte bei ihrer Schlagfertigkeit auf. „Verdammt. Ich wünschte, ich könnte bei eurem Date Mäuschen spielen." Das hätte er gerne gesehen. Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Wie siehts aus? Samstag drei Uhr? Hier im Café?"
„Ich dachte, er will keinen Kaffee trinken."
„Doch, schon, aber nicht, wenn er schon einen hatte", erwiderte Max schlichtweg. „Er kommt nur unter der Woche hier her. Samstag ist sein freier Tag, da ist ein Kaffee okay."
Kayla sah so aus, als würde sie ihre Entscheidung bereits jetzt ein kleines bisschen bereuen. „Okay", sagte sie trotzdem. „Samstag um drei."
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