Kapitel 1

Seit Mara es Kayla überlassen hatte, seine Bestellung zu übernehmen, sah der junge Mann mit dem stoischen Blick seinen Kaffee nicht mehr an, als hätte der ihn persönlich angegriffen.

Kayla arbeitete schon seit einem Monat hier, und dieser Kerl war ihr siebter Kunde an ihrem ersten Arbeitstag gewesen. Sie hatte ihn, wie auch alle anderen Kunden, freundlich angelächelt und gefragt, was sie ihm bringen konnte. Er hatte den Blick an irgendeinen Punkt an der Wand gerichtet, während er geantwortet hatte: „Ich hätte gerne einen Grande Oat Milk Latte, extra heiß – zwischen 72 und 75 Grad Celsius – mit exakt anderthalb Schüssen Vanillesirup, nicht zwei, und einem doppelten Espresso Shot, aber nur, wenn die Bohnen innerhalb der letzten zehn Minuten gemahlen wurden. Ansonsten genügt ein Shot. Wenn die Bohnen vor mehr als zwanzig Minuten gemahlen wurden, hätte ich gerne eine neue Portion. Den Kaffee ohne Schaumhaube, aber mit einer dünnen Schaumschicht, maximal drei Millimeter. Und in einer Keramiktasse, kein Becher."

Sie hatte ihn bestimmt gute zehn Sekunden angestarrt und auf das Lachen gewartet. Die Auflösung des Witzes. Aber nichts.

Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er noch die Wetterprognose dazu haben wollte, aber sie hatte den Job gebraucht und sich zurückgehalten.

„Okay, äh... einen Grande Oat Milk Latte mit Vanillesirup und Espresso Shot, ohne Schaum, aber mit Schaum und..." Sie hatte die Augen zusammengekniffen. „Kannst du das vielleicht wiederholen?"

Ohne sie anzusehen, hatte er ihr einen Klebezettel über den Tresen gereicht, auf dem genau das gestanden, was er heruntergeleiert hatte. Sie hatte zögerlich nach dem Zettel gegriffen und dem Drang widerstanden, sich nach jemandem mit gezücktem Handy umzusehen. Das hatte doch nur ein Scherz sein können. Es wurde bestimmt gefilmt und als witziger Clip ins Internet gestellt.

Aber als sie sich dran gemacht hatte, den Kaffee zuzubereiten, hatte er sich bereits an den Tisch am Fenster gesetzt und Mara war zu ihr herübergegangen und hatte sie mit dem Ellenbogen angestoßen.

„Falls du dich gefragt hast, warum ich so plötzlich ins Lager geflüchtet bin, als er durch die Türe gekommen ist: Jetzt weißt du es." Mara hatte ihr erzählt, dass sie ihm meist einen ganz normalen Oat Milk Latte machte und er sie jedes Mal wissen ließ, dass sie es falsch gemacht hatte, sich dann aber damit begnügte, wenn Mara ihm sagte, dass er gerne hinter die Theke kommen und seinen Kaffee selbst brauen konnte, wenn es ihm nicht passte. Aber es war Kaylas erster Tag gewesen, und so mit einem Kunden zu reden, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.

Es war laut Mara das erste Mal gewesen, dass er nicht aufgestanden war und sich beschwert hatte.

„Du hast doch eine Meise", hatte Mara nach zwei Wochen gesagt, als Kayla seine Kaffeebestellung immer noch genauso gemacht hatte, wie er das wollte. „Mir kann keiner erzählen, dass er den Unterschied zwischen anderthalb und zwei Schüssen Vanillesirup schmeckt."

Anfänglich hatte Kayla es anstrengend gefunden. Jeden Tag hatte er punktgenau um vier Uhr nachmittags das Café betreten und dieselbe Bestellung aufgegeben. Nach einer Woche hatte sie die Bestellung auswendig gewusst, die Zubereitung fast schon meditativ gefunden, und nach zwei hatte sie den fertigen Kaffee über die Theke geschoben, bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Er hatte die Tasse kurz unbewegt angesehen, dann hatte er danach gegriffen, sich wortlos umgedreht und war an seinen Stammplatz gegangen, um seinen Notizblock herauszukramen.

„Gern geschehen", hatte Kayla gemurmelt, aber irgendwie hatte sie Gefallen and dieser kleinen Routine gefunden. Jeden Tag blieb er genau fünfundvierzig Minuten, bevor er aufstand, die Tasse an die Theke brachte und verschwand, ohne ihr auch nur einen Blick zuzuwerfen, aber vielleicht war er Kayla genau deshalb irgendwie sympathisch. Weil er sie nicht anstarrte und seine Tasse immer zur Theke brachte. Das machte sonst niemand und neben seiner anatomisch präzisen Kaffeebestellung war das vermutlich ein Alleinstellungsmerkmal.

Manchmal, wenn sie die Tische hinter ihm abräumte oder abwischte, warf sie ihm einen neugierigen Blick über die Schulter, aber sie erkannte auf seinem Notizblock nur Seiten voller mathematischer Formeln, Zahlen und Buchstaben.

„Der sammelt seine Macken wie andere Leute Briefmarken, was?", hatte Mara einmal gemeint und Kayla hatte genickt. Wenn er wenigstens Künstler gewesen wäre und irgendwas Cooles gezeichnet hätte...

„Arbeitest du irgendwann auch mal wieder, oder starrst du nur noch den komischen Kaffee-Kerl an?", fragte Mara, während sie ein paar der kleinen Zuckerstreuer auffüllte.

„Ist doch gerade nichts los, lass mich schmachten", seufzte Kayla und drehte sich zurück zu dem jungen Mann mit den dunklen Locken, den blauen Augen und den hohen Wangenknochen. Seine Mimik war zwar nicht unbedingt einladend, aber auch nie ernst oder unfreundlich. Sie war sich nicht einmal sicher, warum sie ihn so anziehend fand, er hatte offensichtlich eine Meise, wie Mara es bezeichnet hatte, aber vor ein paar Tagen, als sie seine Bestellung kurz vor vier vorbereitet hatte, hatte Mara sie damit aufgezogen, was sie machen würde, wenn er an diesem Tag gar nicht durch die Tür spazieren würde. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Dieser Mann war wie ein Uhrwerk. Und er war auch an diesem Tag pünktlich gewesen, aber Kayla hatte überrascht feststellen müssen, wie erleichtert sie darüber gewesen war, und wie der Druck auf ihrer Brust, der sich dank Mara dort eingenistet hatte, wieder verschwunden war.

„Frag ihn doch einfach, ob er Lust hat, mit dir auszugehen", schlug Mara vor, lud die Zuckerstreuer auf ein Tablett, um sie später einfacher austauschen zu können, und strich sich eine rabenschwarze Strähne hinters Ohr.

„Was denn, einfach so? Das kann ich nicht."

„Warum nicht? Du bist die Einzige, die seinen lächerlichen Kaffee so zubereitet, wie er es will. Das ist doch sicher ein guter Anfang."

Kayla seufzte tief und stieß sich von der Arbeitsfläche ab. „Aber was soll ich denn sagen?"

Mara verdrehte die Augen. „Er trinkt gerne Kaffee. Du auch. Deine Schicht ist um fünf zu Ende. Das ist in dreißig Minuten und du hast noch fünfzehn, bevor er aufsteht und geht. Frag ihn, ob er nach deiner Schicht noch einen Kaffee mit dir trinken will. Sag ihm, du machst ihn sogar so, wie er ihn will. Dann setzt ihr euch in irgendeine Ecke und du fragst ihn, ob er ein Trauma mit Kaffee hat, oder warum er sonst so einen Vogel hat." Kayla verdrehte die Augen, musste aber grinsen. „Was soll da schon schief gehen?"

„Ich hab aber noch nie einen Kerl gefragt, ob er mit mir ausgehen will."

„So wie du aussiehst, musstest du das wohl auch nie", kommentierte Mara.

„Ach, halt die Klappe", erwiderte Kayla, aber es lag keine echte Schärfe in ihrem Tonfall. Ihr Blick glitt wieder zu dem jungen Mann hinüber. Nach kurzem Zögern holte sie tief Luft.

„Weißt du was? Ich mach es. Schlimmsten Falls haut mir unser Chef kurz auf die Finger, weil ich mich einem Gast gegenüber unangebracht verhalten habe, oder?"

Mara schnaubte. „Ja, klar. Als gäbe es auch nur einen Kerl auf der Welt, der sich beschweren würde, wenn ihn jemand anspricht, der so aussieht, wie du."

„Langsam wird's langweilig", sagte sie noch, diesmal genervter als vorhin. Dann schlenderte sie um den Tresen herum. Es gab für alles ein erstes Mal, was war schon dabei, den ersten Schritt zu tun und jemanden, den man süß fand, zu fragen, ob der einen Kaffee mit einem trinken wollte? Trotzdem fühlte sie sich nicht einmal halb so selbstsicher, wie sie es gerne getan hätte, als sie an seinem Tisch zum Stehen kam.

Sein hochkonzentrierter Blick war auf den Block vor sich gerichtet, auf dem er eifrig Zahlen niederschrieb. Neben ihm lag ein Taschenrechner, auf dem er gelegentlich herumtippte.

Sie räusperte sich leise.

„Hallo", sagte sie und klopfte sich im Geiste auf die Schulter. Das war doch ein guter Anfang.

Der junge Mann schrieb unbeirrt weiter, bevor er nach einigen Augenblicken den Stift zu Seite legte und aufsah. Sein Blick streifte ihren nur kurz, bevor er ihn wie immer an einen Punkt irgendwo hinter ihr richtete. „Hallo."

Sie merkte, wie sich ihre Muskeln anspannten und ihr Herz zu rasen begann, aber sie lächelte trotzdem. „Ich... Ich hab in zwanzig Minuten Dienstschluss und hab mich gefragt, ob du vielleicht Lust hättest, mit mir danach noch einen Kaffee zu trinken?" Sie beschloss Maras Vorschlag zu nutzen und den kleinen Witz anzuhängen. „Ich stell mich auch nochmal hinter die Theke und mache ihn genauso, wie du ihn gerne hast."

Er antwortete nicht sofort, sie konnte keine Regung in seinem Gesicht erkennen, die auch nur ansatzweise seine Gedanken preisgegeben hätte, und mit jeder verstrichenen Sekunde wurde sie nervöser. Schließlich sagte er: „Nein, danke." Einfach so. Als hätte sie nach der Uhrzeit gefragt oder dem Busfahrplan.

Ihr Lächeln fiel in sich zusammen und er griff wieder nach seinem Stift, senkte den Blick zurück auf den Schreibblock und machte dort weiter, wo er aufgehört hatte.

„Oh." Kayla stand wie vom Blitz getroffen da. „Okay? Tut mir leid..." Er antwortete nichts darauf. Sie spürte, wie sie knallrot wurde und im nächsten Augenblick stand sie wieder hinter der Theke und legte eifrig die kleinen Handtücher zusammen, um ihre nervösen Hände zu beschäftigen.

„Und?", fragte Mara neugierig.

„Ich fürchte, du musst deine Theorie über schöne Menschen überdenken. Ich hab grad einen Korb kassiert."

Mara starrte sie aus ihren Kajal umrandeten Augen an. „Du scherzt doch. Du verarschst mich. Hat er gesagt, warum?"

Kayla schüttelte den Kopf und schließlich nickte Mara. „Okay, alles klar. Damit ist es offiziell: Er ist ein Spinner."

„Ach, komm, hör auf", meinte sie mild. „Vielleicht hat er eine Freundin. Oder er steht nicht auf Frauen. Sowas soll es geben, weißt du?"

„Oder er ist ein arrogantes Arschloch. Soll es geben", damit drehte sich Mara um, und verschwand wieder ins Lager.

Maras Worte hätten sie aufmuntern sollen, aber sie fühlte sich grauenhaft. Denn der Mann war gar nicht der Arrogante von ihnen beiden gewesen, sondern Kalya. Zumindest arrogant genug, nicht einmal in Betracht zu ziehen, dass er kein Interesse an ihr haben könnte.

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