Kapitel 99

Jonas sah seine Mutter schmunzeln, dann legte sie den Arm um Hannah und bugsierte sie sie sanft ins Wohnzimmer.

„Jetzt wird erst mal gegessen. Ich habe Hühnerfrikassee gemacht."

„Cool", reagierte Hannah angetan, denn es war ihr Lieblingsgericht. Sie und Jonas ließen sich auf ihre Stühle fallen, während ihre Mutter sich auf den Weg in die Küche machte.

„Was ist die Überraschung?", wollte Hannah jetzt von ihm wissen und Jonas grinste über ihre Ungeduld, die sehr an Weihnachten oder Geburtstag erinnerte.

„Wir kriegen Besuch? Wer kommt?"

Die Anzahl des gedeckten Geschirrs war Hannah nicht entgangen, aber Jonas erwiderte nur lässig „Wart's ab", ohne etwas preiszugeben.

Neugierig beäugte er seine kleine Schwester. Der Kopfverband war nach langer Zeit endlich verschwunden, aber die Narbe, die sich von der Schläfe bis zu ihrem Ohr zog, war noch feuerrot und trotz der darüber gekämmten dunklen Locken nicht zu übersehen.

„Kannst du dich eigentlich daran erinnern?", fragte er neugierig und ließ dabei die Rücksicht, um die ihn seine Mutter gebeten hatte, völlig außer Acht.

„Nö!" Hannah schüttelte den Kopf und verzog dann das Gesicht und presste ihre Hand gegen die verletzte Seite, der die rasche Bewegung offenbar nicht gut getan hatte.

„Ich weiß nur noch, wie ich über die Straße wollte. Und dann im Krankenhaus aufgewacht bin. Aber Nele hat das alles gesehen."

Ihre Miene wurde ein wenig nachdenklich, dann fügte sie mit einer Einsicht, die sie älter erscheinen ließ, hinzu:

„Ich glaube, es ist gut, dass ich mich nicht erinnern kann."

Sie zog die Ärmel hoch und legte die Arme lang auf den Tisch, wobei sie nachlässig einen Teller beiseiteschob.

„Guck mal, die waren erst grün-gelb und lila und jetzt immer noch blau."

Fasziniert sah Jonas auf die Hämatome, die weiterhin ihre Arme zierten, und die deutlich mehr waren, als er es vom Fußballspielen kannte.

„Tut das noch weh?", wollte er wissen, aber Hannah verneinte sogleich.

„Nur wenn ich drauf drücke. Aber so doof bin ich ja nicht." Ungeduldig drehte sie den Kopf und schürzte die Lippen.

„Wann kommt Mama?"

Und noch bevor Jonas sich fragen konnte, wie Hannah wohl auf Jannik reagieren würde, betrat seine Mutter, gefolgt von Jannik, das Wohnzimmer. Ihr zufriedenes Lächeln machte klar, dass sie mit einer wohlwollenden Reaktion von Hannah rechnete, doch woher sie diese Gewissheit bezog, wusste Jonas nicht.

Das was Hannah noch hatte sagen wollen, ging im Moment der Überraschung unter, als sie Jannik ansichtig wurde, doch ihr Erstaunen währte nur kurz, dann glitt ein Strahlen über ihr Gesicht.

„Jan!!!"

Ihr entzückter Ruf offenbarte nichts als Freude darüber, Jan nach wochenlanger Abwesenheit wieder zu sehen. Ungestüm stand sie auf und warf sich auch ihm ohne Scheu entgegen, so dass er mit einem etwas überrumpelten Gesichtsausdruck gerade noch rasch eine Schüssel auf dem Tisch abstellen konnte.

Jonas wandte den Blick ab, er fand Hannahs Verhalten ein wenig albern und übertrieben, ohne dass er jedoch ihre Empfindungen anzweifelte. Ihm selbst hätte es allerdings fern gelegen, so emotional zu reagieren, selbst wenn er so angetan von Jannik wäre wie seine Schwester es war. Während seine Mutter das dampfende Frikassee abstellte, einen glücklichen Blick auf Hannah und Jannik gerichtet, beendeten diese gerade ihr früheres Begrüßungsritual.

„Dein Kopf scheint ja noch zu funktionieren", neckte Jannik die Kleine liebevoll, woraufhin er selbstbewusst zur Antwort bekam:

„Ich weiß noch alles, was wichtig ist!"

Es war eine Aussage voller Ehrlichkeit und ohne die Kunst, sich zu verstellen, die Hannah noch nicht als Strategie auserkoren hatte. Jonas ertappte sich dabei, dass er seine kleine Schwester beneidete; bei ihr war alles so leicht, sie sprach einfach aus, was ihr in den Sinn kam, und bei ihr wusste man daher immer genau, woran man war. Manches Mal wünschte er, ebenso sein zu können und nicht immer darüber nachdenken zu müssen, was andere von ihm dachten. Aber Hannah war eben noch ein Kind, die konnte sich das leisten.

Der weitere Wortwechsel war Jonas entgangen, inzwischen saßen alle um den Tisch herum, und in das Klappern von Geschirr hinein platzte Hannahs neugierige Frage:

„Bist du nicht mehr in Berlin? Wohnst du jetzt bei uns?" Sie nahm den ersten Bissen und sah Jannik dabei erwartungsvoll an.

„Nur am Wochenende, Hannahbee, von Freitagabend bis Sonntag", erwiderte Jannik mit einer Stimme, die jeden Vorbehalt gegenüber dieser Regelung zu missen schien. Tatsächlich wusste Jonas aus einer Unterhaltung mit seiner Mutter, dass das Janniks Zugeständnis dafür gewesen war, dass er ansonsten weiterhin in Berlin arbeiten konnte.

„Und ein Wochenende im Monat kommt Bea dann zu mir nach Berlin", fuhr Jannik fort und da Jonas ihn genau beobachtete, entging ihm nicht, dass sich Janniks Lächeln dabei ein klein wenig vertiefte. Mit Sicherheit war er alles andere als unglücklich darüber, mit seiner Mutter ein Wochenende allein zu haben. Hannah und er würden dann zu Oma und Opa fahren, so die Planung, mit der Jonas jedenfalls ganz gut leben konnte.

„Erst wenn du wieder völlig gesund bist, Hannaschatz", grätschte seine Mutters schnell rein und warf Hannah einen beruhigenden Blick zu, die einen Moment lang etwas verloren guckte.

„Wir besprechen das noch in Ruhe. Erst mal bleibe ich hier", versprach sie und bemerkte in ihrer Fokussierung auf Hannah nicht, dass Jannik überrascht die Brauen hob. Das war offenbar nicht abgesprochen gewesen, stellte Jonas im Stillen fest, doch Jannik enthielt sich eines Kommentares und verstand wohl, dass alles andere als geduldiges Abwarten unverzeihlich sein würde.

Hannah war die Versicherung ihrer Mutter genug, und mit ihrem fröhlichen Bericht von den Erlebnissen im Krankenhaus verging das Mittagessen im Stile früherer Mahlzeiten, in denen Hannah wegen ihres extrovertierten Wesens automatisch zum Mittelpunkt wurde, nicht immer zur Freude von Jonas. Heute jedoch war der gelassene Gedanke, dass auch Hannah es ihm gleich tun und im Laufe des Älterwerdens reservierter und zurückhaltender werden würde, alles was Jonas bewegte.

„Machst du ein Foto von uns, Joni?", fragte Hannah, als alle ihr Dessert verspeist hatten, und sah ihn bittend an. „Du hast das beste Handy."

„Okay", willigte Jonas ein und verkniff sich den neidischen Hinweis, dass eigentlich Janniks Handy wohl die besten Fotos machen würde.

„Das ist eine gute Idee!", stimmte seine Mutter zu und Hannah rutschte vom Stuhl und schob sich zwischen die beiden Erwachsenen. Weder seine Mutter noch Hannah forderten ihn zu einem Selfie auf, was Jonas nur recht war; er zog es schon seit längerem vor, Akteur statt Objekt zu sein, was schließlich auch seine Familie begriffen hatte. Mit der Übung desjenigen, der nicht zum ersten Mal ein Gruppenbild machte, richtete er daher die Kamera auf die kleine Gruppe und wies sie an:

„Ihr müsst etwas zusammen rutschen."

Das ließen sich die Erwachsenen nicht zweimal sagen, mit Schwung verrückte Jannik seinen Stuhl, ohne sich die Mühe zu machen aufzustehen, und legte den Arm um Bea, dabei die Gelegenheit nutzend, ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken.

Doch bevor sich Jonas noch unangenehm berührt räuspern konnte, lösten sich die beiden bereits wieder voneinander und schauten mit einem Blick in die Kamera, dem noch die soeben präsentierten, verliebten Emotionen innewohnten. Hannah ließ sich auf  Beas Schoß nieder und schmiegte sich an ihre Mutter, dabei leicht seitlich in die Kamera lächelnd, so dass ihre Verletzung der Kamera gegenüber verborgen blieb.

„Sagt mal alle Käsescheiße, kommandierte Jonas. Während er ein ums andere Mal auf den Auslöser drückte, konnte er nicht verhehlen, dass ihn auf einmal ein merkwürdiges Gefühl des Ausgeschlossenseins erfasste, als er die Drei so fürs Foto posieren sah. Aus ihren Haltungen zueinander sprach eine ungeheure Innigkeit, die ihn selbst ausgrenzte, und er schluckte, als er plötzlich einen Kloß im Hals spürte.

Als ahne er, was in Jonas vor sich ging, machte Jannik eine auffordernde Bewegung mit seiner Hand. „Jonas, komm, du gehörst doch auch aufs Foto! Wir machen ein Selfie."

Die Freude, die diese Bemerkung in ihm auslöste, war unerwartet, aber willkommen, auch wenn Jonas das niemals zugeben würde. Unter dem Deckmantel einer Coolness, hinter der er auch heute seine Empfindungen verbarg, schlenderte er ohne weitere Worte um den Tisch herum und schob seinen Kopf neben dem von seiner Mutter und Hannah, während Jannik mit ausgestrecktem Arm die Kamera seines Handy auf sie richtete.

Flüchtig spürte Jonas den Arm seiner Mutter in seinem Rücken und war einen Moment lang dankbar für die dezente Zuneigung, die sich darin offenbarte.

„Alle noch mal Cheese!"

Jonas lächelte in die Kamera, ohne auf die anderen zu achten, und dann ließ Jannik auch schon den Arm sinken, wischte über das Display und kurz darauf verkündete das leise „Pling" von Jonas' Handy, dass eine Nachricht eingegangen war.

„Zeig mal!", wandte sich Hannah an Jannik und beugte sich neugierig zu ihm hinüber, um das Bild in Augenschein zu nehmen. Jonas nutzte die sich auflösende Gruppenkonstellation, um sich der Nähe der anderen zu entziehen, denn auf einmal wurde ihm wieder alles zu viel.

„Ich gehe in mein Zimmer", verkündete er und schob noch sicherheitshalber begründend hinterher: „Chemie."

Bevor er sich umdrehte, nahm er gerade noch das erfreute Lächeln wahr, das ihm seine Mutter zuwarf, und dann verschwand er in sein Zimmer, wo er sich auf sein Bett plumpsen ließ. Anschließend öffnete er die App und nahm das Bild, das Jannik von ihnen geknipst hatte, in Augenschein. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, sah er grauenhaft aus.

Das Bett knarzte leise, als Jonas an das Kopfende rutschte und die Füße aufstellte. Erneut besah er sich die Aufnahme, um auch den Rest des Bildes in Augenschein zu nehmen, das zwei Erwachsene und zwei Kinder in offensichtlicher Harmonie zeigte. Die Zufriedenheit, die aus all ihren Gesichtern sprach, ließ sich nicht leugnen.

Es war nicht ein Eindruck von Familie, der Jonas beim Betrachten widerfuhr und es war nicht die Empfindung, die er damals gehabt hatte, als Papa noch zu ihnen gehört hatte. Aber es war unbestritten ein schönes Gefühl. Und diese Empfindung ließ Jonas der Zukunft ungleich gelassener entgegenblicken. Mama war wieder glücklich, Hanna auf dem Weg, vollständig gesund zu werden und er hatte möglicherweise die Aussicht auf weitere gute Fußballspiele mit Jannik.

Seine früheren Sorgen über die Reaktion Anderer auf die untypische Liebesbeziehung seiner Mutter hatten sich zwar nicht in Luft aufgelöst, aber vielleicht würde diese Veränderung in seinem Leben doch nicht so gravierend sein wie er mal gedacht hatte. Mit einem entspannten Lächeln sank Jonas in die Kissen und gestattete sich ein klein wenig Freude bei dem Gedanken an die Zukunft...






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