Kapitel 98
Der Anruf hatte das Ende ihres Trainierens eingeläutet und sie befanden sich bereits wieder auf dem Rückweg. Jonas war in Hochstimmung und im Gegensatz zu dem beklemmenden Schweigen, das beim Verlassen der Wohnung zwischen ihnen geherrscht hatte, hatte die jetzige wortlose Stille zwischen ihnen einen Anstrich von Harmonie und angenehmer Gelassenheit.
Es war schön, dass der Erwachsene neben ihm nicht mit einer Reihe von Fragen nervte, wie es seiner Mutter meist eigen war. Die Gesellschaft einer männlichen Person hatte doch etwas ungemein Befreiendes, befand Jonas und kramte in seiner Hosentasche nach dem Haustürschlüssel.
„Lass uns jetzt den Fahrstuhl nehmen, das geht schneller", schlug Jannik vor und zog eine amüsierte Grimasse. „Sonst krieg ich Ärger, wenn das Essen nicht warm ist."
„Den kriegst du sowieso, weil du jetzt keinen Salat gemacht hast", fiel Jonas vergnügt ein, Janniks Stimmung aufgreifend, der sich daraufhin mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug und lauthals Luft durch die Lippen sog.
„Man sollte wohl vorsichtig sein mit dem, was man verspricht..."
Kameradschaftlich grinste Jannik ihn an und Jonas erwiderte seinen Blick mit einem heiteren Lächeln. Ihm war klar, dass seine Mutter ihrem Freund kaum wirklich böse sein würde, zumal wenn sie erfuhr, was der Grund für Janniks Versäumnis gewesen war.
Sie betraten den Fahrstuhl, der einladend auf sie zu warten schien, und während Janniks Blick trotz der geäußerten Eile versonnen lächelnd auf der Fahrstuhlwand ruhte, musterte Jonas ihn gedankenverloren. Denn da gab es etwas, das Jonas bedrückte und ihm noch immer Schuldgefühle verursachte, etwas, das er bei seiner Mutter nicht hatte ansprechen können, aus Angst, dann mit ihrem Kummer konfrontiert zu werden. Aber diese Frage arbeitete in ihm und ließ ihm einfach keine Ruhe. Jetzt, allein mit Jannik, war vermutlich die beste Gelegenheit, sie zu stellen.
„Du, Jannik...?"
Jonas' Blick glitt von dessen Jacke über seine Jeans hinunter zu den dreckverkrusteten Turnschuhen, die vermutlich seinen eigenen ähnelten, und verweilte dort zögernd.
„Mhm...?"
Er spürte mehr als dass er sah, wie Jannik nun seinen Blick auf ihn richtete und sein Herz klopfte ein aufgeregtes Stakkato und ließ ihm die Kehle trocken werden. Laut räusperte er sich und mit dieser Regung kam der Entschluss, es nun schnell hinter sich zu bringen.
„Ich... ich bin schuld daran, dass ihr nun eine Fernbeziehung führt, nicht?", brachte er leise heraus und hielt weiterhin den Blick auf Janniks Schuhe gerichtet. Wenn er nicht diese dämliche Sache mit dem Foto angezettelt hätte, wäre Jannik wohl kaum nach Berlin gezogen.
Das Aufgleiten der Tür enthob Jannik für einen Moment der Notwendigkeit, sofort antworten zu müssen. Jonas verlies hastig den Fahrstuhl, sein Gesicht brannte und er bereute fast, die Frage gestellt zu haben. Was, wenn Jannik nun ärgerlich wurde? Sie hatten eine echt schöne Stunde zusammen verbracht und es wäre nicht auszudenken, wie seine Mutter reagieren würde, wenn sie gleich mit Hannah käme und schon wieder eine gespannte Stimmung vorfinden würde.
Nervös schloss er die Haustür auf und betrat den Flur.
„Hör mal, Jonas..."
Jannik folgte ihm und schloss die Tür, so dass sie nun im Halbdunklen des Raumes standen, dessen einzige Helligkeit von der geöffneten Wohnzimmertür her rührte. Jonas war versucht, den Lichtschalter zu betätigen, unterließ es aber in seiner Befangenheit und es dauerte nicht lange, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Unentschlossen blieb er mitten im Flur stehen und drehte sich schließlich zögernd um, da von Jannik nichts mehr zu hören war.
Dieser sah ihn einen Augenblick lang an, ohne dass Jonas im Halbdunkel seinen Gesichtsausdruck ausmachen konnte, und erwiderte schließlich nachdrücklich:
„Mach dir darüber keine Gedanken. Der Job in Berlin stand schon zur Debatte, bevor du... bevor deine Mutter und ich uns gestritten hatten. Der hatte mich da schon fasziniert und ich bin sicher, dass wir dann im Endeffekt ebenso bei der jetzigen Lösung gelandet wären. Einziger Unterschied ist, dass Bea jetzt diesen Vorschlag gemacht hat. Letztes Jahr wäre ich wahrscheinlich derjenige gewesen, der damit zuerst gekommen wäre."
Jonas fiel ein Stein vom Herzen. Wenn seine Mutter das sogar vorgeschlagen hatte... In der plötzlichen Beschwingtheit, die ihn erfasst hatte, bot er großzügig an:
„Soll ich dir beim Salat helfen?"
„Hast du Übung im Gemüseschnippeln?"
Man hörte das Grinsen auf Janniks Gesicht, der sich wahrscheinlich dachte, dass Jonas genauso wenig wie er selbst die Küche zum Lieblingsort auserkoren würde, eine Einschätzung, mit der er zweifellos Recht hatte.
„Nö, nicht so..."
Jonas bereute seine Geste bereits, aber zum Glück winkte Jannik in der plötzlichen Helligkeit, die sein Betätigen des Lichtschalters ausgelöst hatte, ab.
„Nein, lass mal. Ich mache jetzt erst mal das Essen warm", entgegnete er und fügte mit einem launigen Kommentar, mit dem er sich selbst auf die Schippe nahm, hinzu:
„Und wenn ich dabei noch nicht gestorben bin, versuche ich mich an dem Salat."
Mit diesen Worten streifte er seine Schuhe von den Füßen und verschwand zielgerichtet in der Küche. Erheitert vor sich hin grinsend entledigte sich Jonas ebenfalls seines Schuhwerkes, ohne den Dreckklümpchen, die an ihren Schuhen geklebt hatten und sich jetzt langsam lösten und im Flur verteilten, Beachtung zu schenken.
Er schaffte es gerade noch, in eine frische Jeans und T-Shirt zu steigen, als es auch schon Sturm an der Tür klingelte. Das war unverkennbar Hannah und mit einer Freude, die er zwar abwertend als albern diagnostizierte, nichtdestotrotz jedoch seiner momentanen Empfindung entsprach, eilte er zur Tür und drückte den Summer.
Jonas hätte nie gedacht, dass er seine Schwester einmal so vermissen würde. Normalerweise hatten ihre Lebensbereiche wenig Überschneidendes an sich, wenn man davon absah, dass sie sich über der Erfüllung der Hausarbeitspflichten oder die Nutzung des Fernsehers zu Zeiten, in denen wichtige Fußballspiele liefen, zankten. Aber die letzten Wochen ihrer erzwungenen Abwesenheit hatten Jonas gezeigt, dass er die Momente vermisste, in denen sie so manches Mal vertrauensvoll etwas von ihm wissen wollte in dem festen Glauben, dass die zweieinhalb Jahre, die er ihr voraus hatte, ihn mit einem Erfahrungsvorsprung versorgten. Sowie ihr fröhliches Gelächter und nicht zuletzt das Gefühl, ab und an eine gemeinsame Front gegen ihre Mutter bilden zu können oder gemeinsam zu leiden, wenn sie eine ihre nörgelnden Predigten hielt.
Erwartungsvoll öffnete er daher bereits die Haustür, doch es dauerte noch ein paar Minuten, bis sich die Türen des Fahrstuhles eine halbe Etage unter ihnen öffneten und Hannah stürmisch die Treppen empor stieg.
„Hannah, vorsichtig, du sollst dich schonen!", ließ sich seine Mutter vernehmen, die gerade mal begonnen hatte, den Fuß auf die ersten Treppenstufe zu setzen, da warf sich Hannah auch schon ihrer überschwänglichen Art in Jonas' Arme. Fast ein bisschen gerührt ließ Jonas seine kleine Schwester gewähren,
„Boah, das war so langweilig im Krankenhaus", verkündete sie und fuhr fast ohne Pause mit einer gewissen Unlogik fort:
„Aber ich habe da eine Freundin gefunden. Die muss aber leider noch länger da bleiben."
Sie wandte sich zu ihrer Mutter um, die inzwischen auch im Flur stand und eine Reisetasche abstellte, und wollte ungeduldig wissen:
„Können wir sie morgen besuchen?"
Es war, es brause ein Sturm voller Energie durch die Wohnung, der einem nach der Ruhe der letzen Wochen erst den Atem nahm, und nichts außer Beas bremsenden Worten „Wir wollen das jetzt nicht übertreiben, Hannah..." kündete im Moment davon, dass Hannah vor einigen Wochen einen schweren Verkehrsunfall erlitten hatte.
Hannah lachte die Bemerkung einfach weg und verkündete, schon auf dem Weg zu ihrem Zimmer: „Ich habe nur noch ganz selten Kopfschmerzen."
Im gleichen Atemzug und mit einem Blick über die Schulter zu ihrer Mutter wollte sie dann wissen:
„Wo ist die Überraschung? In meinem Zimmer?"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top