Kapitel 97

„Du machst dann einfach alles warm, okay?", hörte Jonas seine Mutter sagen, die zusammen mit Jannik in der Küche stand. „Auf einen Salat können wir ja heute verzichten."

Das Schmunzeln in ihren Worten war nicht zu überhören und weckte prompt einen empörten Widerspruch, der, so wie Jonas seine Mutter kannte, vielleicht Absicht gewesen war.

„Heh, ich kann Gemüse schneiden!"

„Tatsächlich? Dann habe ich es bei euch in der WG wohl nie gesehen, weil ihr es immer schon verspeist hattet?!", neckte Bea ihn.

„Lass dich überraschen", gab Jannik zurück und ihr beider Lachen ging rasch darauf in etwas über, das nach verlängerten Zärtlichkeitsbekundungen klang. Jonas schlüpfte in seine Schuhe und zog eine Grimasse. Zurück nahmen sich die beiden nur, wenn sie sich seiner Anwesenheit bewusst waren.

Auch wenn er es war, der Jannik in einer Woge von Impulsivität vor drei Wochen angerufen hatte, fiel es ihm dennoch nicht leicht, die Veränderung, die Jannik mitbrachte und die nun allem Anschein nach zur Kontinuität wurde, zu akzeptieren. Jonas bereute nicht, ihn angerufen zu haben, denn seine Mutter wirkte trotz der Sorgen um Hannah - der es aber jeden Tag besser ging – endlich wieder glücklicher und zufriedener. Obwohl Jonas es nach außen hin nicht zeigte, war er äußerst froh und erleichtert darüber.

Trotz seiner ehrlich gemeinten Entschuldigung während des ernsten Gespräches, das seine Mutter mit ihm geführt hatte, kurz nachdem sein Vater in die Schweiz zurück geflogen war, nagte noch immer das schlechte Gewissen an Jonas. Gerade weil seine Mutter nicht laut geworden war, nicht geschimpft hatte, war es eine unangenehme Unterhaltung gewesen. Er hatte sie mit gesenktem Kopf über sich ergehen lassen, den Blick stumm auf die zerkratzte Glasplatte des Fernsehtisches gerichtet, damit sie seine feucht glänzenden Augen nicht sah. Er konnte selbst nicht mehr begreifen, was da in ihn gefahren war.

Mit seiner Reue und dem Versprechen, zukünftig derartige Taten zu unterlassen, hatte sich die angespannte Atmosphäre zwischen ihnen rasch wieder in die frühere ausgeglichene Stimmung gewandelt, die den Alltag zwischen ihnen bestimmt hatte, bevor er beschlossen hatte, Mamas Freund das Leben schwer zu machen. Mit dem Gefühl, etwas wieder gut machen zu müssen, hatte er dann widerspruchslos dem Plan, den sie ihm unterbreitet hatte, zugestimmt, obwohl es ihm schwer fiel, der Veränderung mit Optimismus zu begegnen.

Entschlossen, jede unerfreulichen Gedanken zu verdrängen, steckte Jonas die Hände in die Hosentaschen, beugte sich vor und sah in den Spiegel hinein, vor dem er aus Spaß an der Freude ein paar Fratzen schnitt, bevor er daran ging, verschiedene Haltungen auszuprobieren. Schließlich spannte er seine Armmuskeln an, die durch das ständige Fußballtraining erfreulich definiert waren, und betrachtete sie stolz. Seine Begutachtung wurde allerdings jäh unterbrochen, als Bea und Jannik den Flur betraten und in einem Gefühl von Peinlichkeit zog Jonas seine Arme zurück an den Körper und drehte sich hastig um, aber die beiden Erwachsenen hatten nur Augen für sich selbst.

„Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauert", erklärte Bea grade und zog sich ihre Jacke über, „Da sind wohl noch ein paar Formalitäten zu regeln und vielleicht verschiebt sich das Arztgespräch ja auch ein wenig, die haben ja immer so viel zu tun."

„Was?!!!", fuhr Jonas auf und starrte seine Mutter entsetzt an. „Ich dachte, wir holen Hannah nur ab und fahren dann nach Hause."

Er hatte absolut keine Lust, Ewigkeiten im Krankenhaus zu warten, bis alles geregelt und besprochen war! Seine Mutter registrierte erfreut, dass er bereits abfahrbereit im Flur stand und versuchte ihn lächelnd zu besänftigen:

„Ach, das dauert bestimmt nicht lange", was im Widerspruch zu dem stand, was sie gerade Jannik mitgeteilt hatte. „Du wolltest Hannah doch mit abholen."

„Aber lange warten finde ich scheiße!", entgegnete Jonas unverblümt, „Kann ich nicht hier bleiben?"

Seine Mutter schürzte erst konsterniert die Lippen, sah dann zu ihrem Freund hinüber. Konnte sie das nicht alleine entscheiden?, fuhr es Jonas missbilligend durch den Kopf, doch noch bevor er diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, vernahm er bereits Janniks Antwort auf die wortlos gestellte Frage.

„Lass ihn doch!"

Seine Mutter bedachte erst ihn, dann Jannik mit einem zweifelnden Blick, so dass Jonas genervt die Augenbrauen hoch zog und die Augen verdrehte. Was dachte sie, dass er und Jannik sich an die Gurgel gehen würden? Er hatte ja inzwischen begonnen, sich gezwungenermaßen an ihn zu gewöhnen, wenngleich er zugeben musste, dass die Zeit, die sie bislang gemeinsam in einem Raum verbracht hatten, ohne dass seine Mutter ebenfalls zugegen war, überschaubar geblieben war.

Dann warf er Jannik einen forschenden Blick von der Seite zu, doch dieser schien gänzlich unberührt von dem, was seine Mutter zu befürchten schien, er lehnte mit offenen Handflächen im Türrahmen und ließ seine Finger locker Richtung Boden hängen. Seine Mutter betrachte ihn noch immer nachdenklich und Jonas beeilte sich daher zu sagen:

„Ich muss außerdem noch Chemie machen."

Bea zog unentschlossen die Stirn in Falten und einen Mundwinkel nach unten, was ihr einen wenig ansprechenden Gesichtsausdruck bescherte, was Jonas nicht umhin kam, im Stillen zu bemerken.

„Wenn ihr meint...", kam es dann zögernd und sie schlüpfte in ihre Stiefel und verließ dann mit einem letzten kritischen Blick auf ihn und Jannik die Wohnung.

Das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür hallte ein wenig im Flur nach. Auf einmal gehemmt und nervös – würde Jannik jetzt noch etwas zu der Sache mit dem Foto sagen? – machte Jonas Anstalten, den Flur zu verlassen, während er Janniks Augen in seinem Rücken spürte.

„Wenn du Lust hast und Chemie noch ein wenig hinaus schieben willst, könnten wir ein wenig Fußball zusammen spielen", vernahm er dann dessen selbstbewusste Worte. Unwillkürlich blieb Jonas stehen und drehte sich langsam um. Jannik stand noch immer im Türrahmen und sah ihn abwartend an. Jonas beneidete ihn um seine offensichtliche Gelassenheit, während er selbst nervös mit dem Für und Wider des Angebotes kämpfte. Ihr letztes Kicken, das durchaus Spaß gemachte hatte, hatte unschön geendet. Ob Jannik noch daran dachte?

Sofern dieses der Fall war, war ihm jedoch nichts davon anzumerken, geduldig und mit neutralem Gesichtsausdruck wartete er auf Jonas' Entscheidung.

„Okay, können wir machen", äußerte Jonas schließlich und war froh darüber, dass seine Stimme so gelassen klang wie es beabsichtigt war, obwohl er durchaus Lust dazu verspürte, sich ein wenig herausfordern zu lassen. Falls er jedoch dachte, dass sich Jannik sichtbar über seine Zustimmung freuen würde, so hatte er sich geirrt. Im gleichen Tonfall gab dieser zurück:

„Okay. Holst du einen Ball?"

In Jonas' Gedanken arbeitete es. War Janniks Angebot einfach Höflichkeit gewesen? Der Versuch, sich bei ihm einzuschleimen? Oder lag ihm wirklich etwas daran, mit ihm zu kicken? Ohne sich anmerken zu lassen, was ihm durch den Kopf ging, brummte er zustimmend und holte den Fußball aus seinem Zimmer.

Schweigend wartete Jannik, bis Jonas die Wohnung abgeschlossen hatte, und noch immer stumm stiegen sie in stillem Einvernehmen darüber, auf den Fahrstuhl zu verzichten, die Treppe hinunter. Draußen schlug Jonas einen anderen Weg ein als seinerzeit, nervös erklärte er:

„Es gibt hier in der Nähe einen besseren Platz."

Beherzt ging er voran, während Jannik sich erkundigte: „Trainiert ihr jetzt in der Halle?"

Jannik hatte zu ihm aufgeschlossen und blieb neben ihm, während er sein Tempo dem Jüngeren anpasste. Jonas Antwort kam einsilbig und mit dem Gefühl, dass das doch ein wenig dürftig gewesen war, setzte er hinzu:

„Wir müssen immer ganz nach St. Pauli fahren, hier in der Nähe ist alles belegt."

Die nasskalte Luft eines trostlosen Wintermonats biss unangenehm in sein Gesicht und Jonas war fast froh über die Torwarthandschuhe, die seine Hände vor der Kälte schützten. Das unwirtliche Wetter lockte wenig Menschen auf die Straße und nur vereinzelt fuhr ab und an ein Auto an ihnen vorbei.

„Da ist es ja nicht weit bis zum Millerntor. Nicht doch mal Lust, ein Spiel anzuschauen?"

Jannik zwinkerte ihm zu und ungewollt erschien ein Lächeln auf Jonas' Gesicht, als ihm für einen Moment der Gedanke durch den Kopf zog, dass sie beide etwas gemeinsam darin hatten, dass sie sich anders als Jonas' Familie nicht zur Anhängerschaft des HSV zählten.

„Nur wenn der FCB zu Gast kommt...", erwiderte er jedoch, was unwahrscheinlich war, da beide Vereine in verschiedenen Ligen spielten. Mit diesen Worten bog Jonas in einen schmalen Weg zwischen zwei Wohnkomplexen ein, der dank des bedeckten Wetters und der Gebäude zu beiden Seiten zwar wenig einladend aussah und sie an Sammelmüllcontainern vorbei führte, aber dann bei einem Rasenstück entließ, das sich anmutig einen Hügel hinab schwang und in eine Grünfläche direkt neben dem Fahrradweg Richtung Innenstadt mündete.

Jonas deutete auf eine große Eiche, deren entlaubter Ast sich optimal zur Seite streckte, um die obere Begrenzung eines Tores zu markieren und mit großen Schritten maß er eine Breite von ca. fünf Metern ab und markierte das seitliche Ende des behelfsmäßigen Tores mit seiner Jacke.

„Praktisch", kommentierte Jannik und begann den Ball locker über den Rasen zu dribbeln, bis Jonas startklar war. Er verzichtete auf die harmlosen Schüsse, mit denen er bei ihrem Kicken im Herbst gestartet war, wofür Jonas ihm dankbar war, denn es lag deutlich mehr Befriedigung darin, kräftige Schüsse zu halten.

Zu seiner Freude gelang es ihm fast vollständig, die Bälle, die Jannik aus der Bewegung heraus auf das Tor schoss, abzuwehren, was Jannik ab und an einen lobenden Kommentar entlockte, den Jonas mit Zufriedenheit registrierte, ohne sich sein Hochgefühl anmerken zu lassen.

„Können wir auch Strafstöße machen?", rief er Jannik zu und zog die Mütze vom Kopf, um sie neben seine zerknüllt auf dem Boden liegende Jacke zu werfen.

„Klar!", erwiderte Jannik und schritt einen Abstand von elf Metern zur Torlinie aus, wie Jonas nicht umhin kam zu bemerken. Er zog es jedoch vor, das unkommentiert zu lassen. Im Prinzip war es ja richtig, denn Jannik brauchte schließlich nicht die vorteilhaften geringeren zwei Meter aus dem Jugendfußball, andererseits jedoch würde die längere Flugbahn Jonas das Abfangen erschweren. Zumindest ließ sich aber auch so gut die Wahrnehmung, wohin der Torschütze den Ball lenken würde, trainieren, dachte Jonas und wippte ein paar Mal auf den Fußballen auf und ab.

Dann beugte er sich konzentriert leicht nach vorne und lauerte auf den Elfmeter. Jannik legte sich den Ball penibel auf die durch seine Jacke markierte Linie, nahm Anlauf und schoss und der Fußball sauste in die Ecke zwischen Stamm und Ast, während Jonas in die Gegenrichtung gehechtet war und über den Rasen schlitterte. Mist!

Mit einem Stirnrunzeln stand er auf und für einen kurzen Moment fuhr ihm der banale Gedanke durch den Kopf, was seine Mutter zu den Grasflecken in der Jeans sagen würde, die unverkennbar den blauen Stoff zierten. Er hätte sich seine Fußballsachen anziehen sollen. Erneut nahm er seine Position ein, versuchte Janniks Absicht voraus zu ahnen, doch wieder hatte er die Seite falsch kalkuliert.

Auch die nächsten Schüsse waren – zumindest was ihn anging – nicht von Erfolg gekrönt, denn der eine Fall, in dem Janniks Schuss über das Tor hinweg gesegelt waren, konnte er nicht mitzählen. Und zwei weitere Male hatte er zwar die Richtung geahnt, aber den Ball lediglich mit den Fingerspitzen berühren können, ohne ihn abzuwehren.

Jonas fluchte frustriert. Er war normalerweise nicht so schlecht, selbst gegenüber gegnerischen Spielern nicht, deren Spielweise ihm unbekannt war. Konnte das an den elf Metern liegen, die er nicht gewohnt war? Er hätte nur zu gern den guten Eindruck, den er vor zehn Minuten noch hinterlassen hatte, verstärkt.

Ohne es sich selbst einzugestehen, wäre es Jonas nun durchaus recht gewesen, wenn Jannik ihm einen Kinderbonus eingeräumt und weniger kräftiger geschossen hätte. Wobei, wenn man es genau betrachtete, das nicht sein Problem war, sondern seine falsche Einschätzung von Janniks Absichten. Dass dies nicht einer gewissen Komik entbehrte, da seine heutige Wahrnehmung ein Spiegelbild seiner früheren falschen Unterstellung war, kam dem Teenager nicht in den Sinn.

Im Hintergrund hörte man das laute Bellen eines Hundes, dann den energischen Ruf „Falko, aus!" und schließlich ein leises Winseln, doch Jonas ignorierte die Geräuschkulisse und gab Jannik, der unschlüssig zu sein schien, ob Jonas eine Fortsetzung wünschte, ein Zeichen. Verdammt, das musste doch hinzukriegen sein! In Jonas' Frust mischt sich der Trotz, nicht klein bei zu geben.

Wieder legte sich Jannik den Ball zurecht und auf einmal begriff Jonas, was ihm die ganze Zeit entgangen war. Konzentriert blickte er in Janniks Gesicht und für den Bruchteil einer Sekunde durchfuhr ihn dieses Gefühl einer Ahnung, das er von früheren Trainings und Spielen kannte, und instinktiv warf er sich zur Seite, der Ball prallte mit Wucht gegen seine Handflächen und dann zurück auf das Spielfeld.

Jonas landete auf seiner Schulter, schmerzhafter als bisher, aber dieses Mal mit einem fetten Grinsen im Gesicht.

„Heh, das war klasse!", kam es von begeistern von Jannik, der zusätzlich das „Daumen hoch"-Zeichen von sich gab. Überaus motiviert richtete sich Jonas rasch auf und verlangte einen weiteren Elfer, dessen Verwandlung er erneut erfolgreich verhinderte.

Jetzt hatte er die unbewussten Signale seines Gegenübers zu entschlüsseln verstanden. Und wenn er auch nicht jeden einzelnen Schuss verhindern konnte, so übermannte Jonas dennoch die Befriedigung, seine Fähigkeiten als Torwart schlussendlich eindrucksvoll unter Beweis gestellt zu haben.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top