Kapitel 95

Im Versuch das Wochenende bis in den Abend auszudehnen, war es voll geworden, und mit einem Stirnrunzeln beobachtete Bea, wie sich eine fünfköpfige Schar Jugendlicher, die der Lautstärke nach zu urteilen der Ansicht war, allein auf der Welt zu sein, um den Nachbartisch herumgruppierte. Ihr ausgelassener Wortwechsel würde jedes private Gespräch zum Scheitern verurteilen, was einen Aufschub ihres Gespräches nötig zu machen schien, für den Bea, nun erfüllt von dem Wunsch nach Klarheit, nur eine geringe Bereitschaft an Geduld mitbrachte.

Sie beobachtete daher mit säuerlicher Miene, wie sich die jungen Leute lachend über die einzig vorhandene Speisekarte beugten, während einer von ihnen plötzlich nach seinem Handy griff und eine offenbar unerfreuliche Aussage erhielt; auch ohne die Worte verstehen zu können, machte die Art, wie er die Augen verzog, deutlich, dass der Inhalt des Anrufes nicht in seinem Sinne war.

Mit dem, was er seinen Freunden zuraunte, trat automatisch Stille ein, die bisher ausgelassene Fröhlichkeit machte nun allseits einem Murren Platz, Stühle wurden gerückt und ehe Bea es sich versah, war die Gruppe bereits wieder dabei, das Cafe zu verlassen, nicht ohne aufgebrachte Dialoge von sich zu geben, von denen Bea nur einzelne Worte vernehmen konnte: „Kann ja nun echt nicht wahr sein...", „...wenn man einmal..." und „...ich hasse sie!", was verdächtig nach Ärger über Erziehungsberechtige klang, die einem jeden Spaß verdarben.

Bea hingegen konnte ein erleichtertes Lächeln nicht unterdrücken, und als sie Jannik, die Hände je ein Glas balancierend, sich nähern sah, hatte sich ihre Stimmung bereits wieder in eine Haltung verwandelt, mit der sie ihm freudig und gleichzeitig ein wenig nervös entgegen sah.

„Voilá!"

Mit Schwung stellte er ein hohes Glas vor ihr ab, dessen Dekoration Gedanken an Karibik aufkommen ließ und dessen pastellfarbene Farbe nach ihrem Lieblingscocktail aussah, während er sich mit einem Bier begnügt hatte und auf Beas kurzen Moment der Überraschung angesichts der Tatsache, dass er normalerweise gerne den einen oder anderen Cocktail trank, wenn sie zu zweit ausgegangen waren, ungefragt erläuterte:

„Muss ja noch fahren."

Er ließ sich auf das Sofa neben ihr fallen und wirkte so gelöst und entspannt, dass Bea nicht umhin kam, ihn um seine Nonchalance ein wenig zu beneiden, die allerdings gleichzeitig unwillkommene Zweifel darüber weckte, wie viel Bedeutung er dem kommenden Gespräch beimaß.

„Ist das mit Alkohol?", erkundigte sie sich, da sie den Umständen geschuldet in letzter Zeit nur wenig gegessen hatte, und beugte sich über ihr Glas, um zu schnuppern.

„Ja, was Stärkeres für Gelassenheit", scherzte Jannik und stieß heiter mit seinem Kelch gegen ihr Cocktailglas, so dass ein zartes Klingen erklang.

Fern davon zu würdigen, dass das Anstoßen auf viele frühere unbeschwerte Treffen verwies, reagierte Bea auf seine inhaltliche Aussage und zog als Antwort die Augenbrauen hoch.

„Wird das notwendig?"

Abrupt verschwand Janniks Fröhlichkeit, als hätte sie jemand mit einem Pinselstrich beiseite gewischt, und eine gewisse Anspannung lag in seinem Blick, als er vorsichtig erwiderte:

„Eigentlich nicht..."

Er nahm einen großen Schluck Bier und ergänzte dann ungewohnt verlegen:

„Sorry, blöder Scherz."

Verstrickt in ihre eigenen Gedanken schwieg Bea dazu. Zum Einen wollte sie Jannik sagen, wie sehr sein wortloser Fortgang sie verletzt hatte, wollte wissen, was dahinterstand, wollte verstehen, was für sie unbegreiflich gewesen war.

Zum Anderen wollte sie sich für Jonas' Art entschuldigen beziehungsweise für ihren Umgang damit in den vergangenen Monaten. Denn dies war schon lange fällig. Bea sah sich normalerweise als jemanden, der Dinge offen ansprach, aber was Jonas anging, hatte sie einfach den Kopf in den Sand gesteckt. Sie hatte wider besseres Wissens darauf gehofft, dass Jonas irgendwann aufgeben würde, statt ihm klar und deutlich zu vermitteln, dass sein Verhalten indiskutabel war. Wie konnte es nur sein, dass sie ganze Zeit die Augen vor etwas verschlossen hatte, das das Potenzial gehabt hatte, fast alles zum Einstürzen zu bringen, was ihr wichtig war?

Das peinigende Gefühl, versagt zu haben, beraubte Bea der Worte, die sie vorgehabt hatte zu sagen. Sie griff daher ebenfalls zum Glas und konzentrierte sich für einen Moment auf die kühle, benetzende Flüssigkeit, die noch lange angenehm in ihrem Rachen nachhallte, während sie Jannik musterte, als würde sie ihn zum ersten Mal betrachten.

Seine dunklen Augen blickten sie aufmerksam und mit einer leichten Nervosität an, allerdings ohne den irritierenden Hang einiger Menschen, die nach einigen Sekunden dem auf sie gerichteten Fokus auswichen und zur Seite blickten. Janniks vorheriges Lachen war einer Ernsthaftigkeit gewichen, die ihn als den Mann erkennen ließ, den sie neben seiner zuweilen ausgelassenen und frechen Art zu lieben gelernt hatte. Der Drei-Tage-Bart, der sie noch bei seinem abendlichen Besuch so überrascht hatte, war zugunsten einer frischen Rasur verschwunden.

Sein Haar war länger geworden, ein paar Haarsträhnen kringelten sich um seine Ohrläppchen, die auf eine Anlage zu Locken aufmerksam machten, die ihr noch nie aufgefallen war, und völlig aus dem Nichts stellte sich Bea die Frage, wie er wohl mit einem Haarschnitt aussehen würde, der anstelle der bisherigen Frisur längere Haare aufwies. Mit einer Stimme, die gar nicht von ihr zu kommen schien, hörte sie sich fragen:

„Wie sahst du eigentlich als kleiner Junge aus?"

Falls Jannik über die unerwartete Frage überrascht war, so zeigte er es nicht, und es dauerte nur einen Moment, bis sich auf seinem Gesicht dieses verschmitzte Lächeln ausbreitete, das ihr in den letzten Wochen vor Augen gestanden hatte, wann immer sie an ihn hatte denken müssen.

„Wie ein blonder Engel."

Während Bea noch dabei war, sich Jannik als kleinen lockigen Cherub vorzustellen, verschwand die Heiterkeit aus seinem Gesicht, er senkte den Kopf und blickte auf seine Finger, die sich kontinuierlich umeinander wandten. Schließlich gab er sich sichtbar einen Ruck, in dem er die Schultern straffte und den Kopf hob.

„Apropos engelhaft...", begann er und suchte ihren Blick, „...mein Verhalten letztes Jahr war es wohl nicht."

Er holte tief Luft und fügte, noch bevor Bea den Satz kommentieren konnte, hinzu:

„Sorry, dass ich einfach nach Berlin abgehauen bin, ohne vorher mit dir darüber zu reden. Das war ziemlich blöd."

Ohne Bea aus den Augen zu lassen, verlor er seine aufrechte Pose und neigte sich leicht nach vorn. Seine Lippen zuckten kurz, als wollten sie noch etwas sagen, blieben aber stumm.

Bea konnte sich dem ehrlichen Bedauern, das Jannik ausstrahlte, nicht entziehen. Sie machte Anstalten, etwas zu sagen, aber Jannik fuhr bereits fort:

„Die Petra – die Leiterin der Bundeszentrale – war gerade in Hamburg gewesen, wir hatten uns daher getroffen und ein paar Tage später hatte sie mir den Job angeboten..."

Er verstummte, als warte er auf eine Reaktion von ihr, auf ein Zeichen fortzufahren, während er ihr verhalten entgegen sah und auszuloten schien, wie groß ihr Ärger noch war. Wenngleich Bea froh über seine Entschuldigung war, konnte sie dennoch nicht verhehlen, dass sich der Grund für sein Verhalten ihrem Verständnis entzog und fragte daher geradeheraus:

„Warum hattest du mich danach nicht einfach angerufen? Du kannst doch nicht einfach so wegziehen, ohne mit mir zu reden..."

Nervös kreisten ihre Finger über die Tischplatte und sie spürte noch einmal die Verzweiflung und Fassungslosigkeit, die sie damals empfunden hatte, als sie seine knappe Nachricht erhalten hatte, und merkte kaum, wie sich unversehens ihre Schultern verspannten, als sie mit zugeschnürter Kehle herausbrachte:

„Das hat mich unglaublich verletzt, Jan."

„Ich weiß", erwiderte er leise, „Tut mir echt leid!"

Impulsiv griff er nach ihrer Hand und wenn auch das prickelnde Gefühl der vorigen Berührungen im Moment fehlte, so war Bea dennoch fern davon, ihm ihre Hand wieder zu entziehen. Tief in Gedanken versunken – längst bereit ihm zu verzeihen, aber nicht ohne Furcht vor einer Wiederholung – blieb ihr Blick auf seinen Fingern hängen. War es Janniks Art, wegzulaufen statt Probleme direkt anzusprechen?

Janniks nächster Satz riss sie aus ihren Gedanken.

„Aber ich hatte gedacht...", mit einem Blick, der fast scheu zu nennen war, hob er wieder den Kopf und korrigierte sich, „...hatte das Gefühl, dass du unsere Beziehung längst abgeschrieben hattest..."

„Wieso... du hast doch...", begann Bea zu widersprechen und hielt dann mitten im Satz inne, überrascht darüber, bei Jannik eine ungewohnte Unsicherheit wahrzunehmen, die den Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu unterstreichen schien.

Das plötzliche laute Lachen am Nachbartisch ließ sie zusammenzucken, so sehr hatte sie in den letzten Momenten die Geräuschkulisse des Cafes ausgeblendet, in der völligen Fokussierung auf ihr Gegenüber. Dann versuchte Bea zu begreifen, was Jannik zu dieserFehleinschätzung veranlasst hatte.

„Ich habe doch nichts dergleichen gesagt!"

Mit der freien Hand fuhr sie sich über den Hinterkopf und blickte Jannik sowohl bestürzt als auch empört an. Sein Selbstbewusstsein kehrte so schnell zurück wie es verschwunden war, er straffte seine Haltung und reckte das Kinn herausfordernd nach vorne, als er mit plötzlicher Heftigkeit entgegnete:

„Irgendwie habe ich manchmal den Eindruck, dass du die Kinder vorschiebst, wenn du dich mit einem Thema nicht beschäftigen willst. Oder was bedeutet Anscheinend ist es für ihn einfach noch zu früh, dass ich eine neue Beziehung habe? Heißt das nicht, du musst solange warten, bis dein Sohn bereit dafür ist?!"

Bea hatte den Eindruck, dass noch mehr darin mitklang, Dinge, die sie nur erahnen konnte, die er jedoch für sich behielt. Der Zug an ihrer Hand, die bis eben noch in ihrem Schoß gelegen hatte, verstärkte sich durch Janniks Haltungswechsel, ohne dass er jedoch Anstalten machte, sie loszulassen.

„Ich habe nicht...", begann Bea, die von Berufswegen oft zu widersprechen gewohnt war, automatisch, dann biss sie sich auf die Zunge und sah betroffen in den Raum hinein, in dem das fröhliche Treiben in Kontrast zu der angespannten Atmosphäre stand, die zwischen ihnen beiden plötzlich entstanden war. Die Wiederholung einer Auseinandersetzung, unter deren Folgen sie offenbar beide gelitten hatten, war nicht das, was sie anstrebte. Sie nahm einen tiefen Atemzug.

„Habe ich das echt gesagt?"

Janniks Nicken war nachdrücklich und kam ohne begleitende Worte aus.

„Aber das heißt doch nicht... ich meinte doch nur... Also es ging doch nur um Jonas", verteidigte sich Bea, mit einem Maß aus Hilflosigkeit und Fassungslosigkeit, das die fehlende Absicht der Folgewirkung ihres Satzes deutlich werden ließ.

Sie erinnerte sich nicht mehr an ihren genauen Ausdruck, doch die Wortwahl schien ihr plausibel; so geschockt wie sie über Jonas' Verhalten gewesen war, hatte sie vermutlich einfach das geäußert, was ihr durch den Kopf gegangen war, ohne ihre Worte auf die Goldwaage zu legen. Frustriert über Janniks falsche Interpretation ihrer achtlosen Aussage verfiel Bea in Schweigen, griff nach ihrem Cocktail und nahm einen großen Schluck.

Sein Blick, der auf ihr ruhte, war unergründlich, doch Bea glaubte, in dem gedimmten Oberlicht des Cafes eine gewisse Erwartung darin auszumachen, die durch Janniks nächsten Satz bestärkt wurde, als er nun konkret wissen wollte:

„Das heißt also, wir könnten auch zusammen sein, ohne dass Jonas damit einverstanden ist?"

Sensibel für die Feinheiten der Sprache erkannte Bea durchaus den verwendeten Konjunktiv, der eine Wiederaufnahme ihrer Beziehung nur in den Bereich des Möglichen rückte, jedoch nicht selbstverständlich machte. Die Zerbrechlichkeit dessen, was sie lange Zeit als tragfähig angesehen hatte, versetzte ihr einen Stich – wie hatte es nur so weit kommen können!

Jannik sah sie abwartend an, ohne seine Konzentration zu verringern, nur der Griff seiner Hand, die unversehens fester geworden war, kündete von der Bedeutung, die ihre Antwort für ihn hatte.

Mit dem Entschluss, den sie bereits kurz vor Hannahs Unfall gefasst hatte, dass sie ihr Liebesglück nicht von der Zustimmung ihres Sohnes abhängig machen wollte, fiel Bea die Antwort inzwischen nicht mehr schwer. Sie lehnte sie sich dicht zu ihm hinüber, so dass es ihr sowohl gelang, das Stimmengewirr um sie herum auszublenden als auch ihre Unterhaltung vor neugierigen Ohren zu schützen, und erwiderte mit Nachdruck in der Stimme:

„Jannik Kerner, dein Verhalten war echt unverzeihlich."

Ein Wangenmuskel zuckte in seinem Gesicht und seine Augen schlossen sich für den Bruchteil einer Sekunde, doch bevor er etwas einwenden konnte, bekannte Bea bereits ohne zu zögern:

„Ich habe dich trotzdem achteinhalb Wochen lang jeden Tag wahnsinnig vermisst. Glaub nicht, dass ihr dir noch mal die Chance gebe, aus meinem Leben zu verschwinden!"

Sie schmunzelte und dann zog ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie ihm endlich die Antwort gab, die er hören wollte:

„Nicht Jonas hat zu bestimmen, mit wem ich zusammen bin, sondern es ist meine Entscheidung!", verkündete sie entschlossen und setzte dann leiser, aber deutlich hinzu: 

„Und es tut mir leid, dass ich den Eindruck erweckt hatte, dass du mir nicht wichtig genug bist!"

Verschiedene Emotionen überrollten Bea – Reue für den Schmerz, den sie Jannik ungewollt bereitet hatte, unermessliche Erleichterung darüber, dass er jetzt nach Hamburg gekommen war und ein unbeschreibliches Glücksgefühl, das sich langsam in jede Zelle ihres Körpers ausbreitete, bis es sich schließlich auch auf ihrem Gesicht spiegelte. Ohne dass Bea überlegen oder inne halten musste, kamen ihr die nächsten Worte über die Lippen, als hätten diese nur darauf gewartet, endlich zum Vorschein zu kommen:

„Ich liebe dich, Jan. Die Wochen ohne dich waren wie ein Leben ohne Lachen und wie ein Sommer ohne Sonnenschein. Du fehlst mir einfach!" 

Mit dem Daumen fuhr sie zärtlich seinen Handrücken entlang und mit einem Herzschlag, der seine Geschwindigkeit verdoppelt zu haben schien und der Anspannung darüber geschuldet war, dass sie sich längst nicht sicher war, wie Jannik reagieren würde, fasste sie ihren Wunsch in kurzen Worten zusammen und sah ihn dann nervös an.

„Wollen wir nicht noch einmal neu anfangen?"

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