Kapitel 94
Bea und Jannik hatten in einem der plüschigen Sofas im abgeschirmten hinteren Teil des Cafes Platz genommen, in dem man gar nicht anders konnte als tief in ihnen zu versinken, was den Charme hatte, dass es ihre Körper automatisch nah zueinanderrutschen ließ, und nachdem Bea gleich zu Beginn eine weitere Verbesserung in Hannahs Gesundheitszustand verkündete hatte, war sie nun völlig damit zufrieden, sich gegen Jannik zu lehnen, sein herbes Aftershave einzuatmen und seinen Arm um ihre Schulter zu spüren.
Erst seit er so unverhofft am Donnerstagabend wieder aufgetaucht war, realisierte sie, wie sehr sie auch die kleinen, so beiläufigen, alltäglichen Berührungen vermisst hatte, denen sich ihr Körper nun entgegenstreckte, und wie unabsichtlich ließ sie ihre Hand auf sein Bein sinken und dort verweilen.
„Sieht so aus, als wollest du mich ablenken", wisperte Jannik in ihr Ohr und lachte leise.
„Stimmt", gab Bea unumwunden zu, mit einer Leichtigkeit, die Hannahs gesundheitlichen Fortschritten geschuldet waren. Es würde eine Zeitlang dauern, bis ihre Kopfverletzung und ihr Armbruch heilen würden und sie hatte noch längere Zeit im Krankenhaus zu verbringen, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was sie noch vor einigen Tagen hatten befürchten müssen. Sie fühlte sich daher gelöst und frei, ihre Gedanken auch mal wieder um andere Dinge kreisen zu lassen und bedauerte die Tatsache, sich wegen der Anwesenheit von Jonas und Thorsten nicht in ihre Wohnung zurück ziehen zu können.
Mit dem Blick unverfänglich in die Mitte des Cafes gerichtet, in dem im sanften Licht der Tischlampen unzählige Gäste die Tische bevölkerten, miteinander tafelten oder etwas tranken, so dass die anfängliche Stille am Nachmittag allmählich von ihren lebhaften Gesprächen gefüllt wurde, ließ Bea ihre Hand langsam über Janniks Oberschenkel wandern. Ein leichtes Öffnen der Beine war alles, was sich Jannik daraufhin erlaubte, während sich seine Hand unversehens fester in ihre Schulter krallte.
„Du bist ganz schön unverfroren, Beatrice Lichtenfeld", raunte er ihr zu und schaffte es dabei, den verhassten Namen wie eine Liebkosung klingen zu lassen.
Bea setzte eine Unschuldsmiene auf und flötete, ohne ihn anzusehen: „Ich weiß nicht, was du meinst..."
„So, du weißt also nicht, was ich meine...", wiederholte Jannik eine Spur amüsiert und schob dann seine Hand so rasch unter ihrem Pulli zu ihrer Brust hinüber, dass Bea überrascht die Luft einzog und ihren Kopf zu ihm hin drehte.
„Jetzt, wo du es sagst..." Sie konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen und erschauerte unter seinen Fingerspitzen, mit denen er von außen nicht sichtbar zart ihre Haut entlang fuhr und die ihren Puls verräterisch in die Höhe trieben, woraufhin sie den durch die Umstände schon bald bedingten Stopp der Intimitäten bedauerte.
„Nicht der geeignetste Ort für so etwas", seufzte sie schließlich unter Janniks zustimmendem Murmeln und in dem Blick, mit dem sie sich dann ansahen, lag eine stille Vereinbarung, die begonnenen Zärtlichkeiten baldmöglichst in privaterer Atmosphäre nachzuholen.
„Ich hole uns mal etwas Neues zu trinken", verkündete Jannik, obwohl die noch halbvollen Getränke unübersehbar auf dem kleinen Tischen vor ihnen standen. Bea sah seiner schlanken Gestalt hinterher, die sich zum Tresen durchschlängelte und konnte sich mit einem Schmunzeln des Gedankens nicht erwehren, wie es wohl wäre, mit Jannik in irgendeine dunkle Ecke zu verschwinden. Du bist unmöglich, Bea, schalt sie sich lächelnd, und musste bei dem Gedanken daran, was ihre Eltern von ihrer gewagten Überlegung halten würden, leise lachen.
Es tat ihr gut, wieder sorgenfreier sein. Seit dem Anruf des Krankenhauses hatte sie das Gefühl gehabt, auf Autopilot geschaltet gewesen zu sein, sie hatte alles getan, was erforderlich war, ihre Eltern und Thorsten informiert und dafür gesorgt, dass Jonas in guten Händen war, während sie selbst Tag und Nacht nicht von Hannahs Seite gewichen war und sich nicht erlaubt hatte, über die Zukunft nachzudenken, um sich die Kraft zu bewahren, die schreckliche Situation durchzustehen.
Selbst bei Andreas Besuch und ihrer Schilderung des Unfallherganges, so wie ihn ihr ihre Tochter beschrieben hatte, war sie seltsam emotionslos geblieben, während Andrea Tränen in den Augen gehabt hatte und ihre Tochter Nele anscheinend die ersten Nächte schreiend aufgewacht war. Doch sie hatte sich mit äußerstem Willen beherrscht und bis auf ein paar wenige Tränen gegenüber Thorsten einen Dammbruch zurück gehalten, denn sie konnte es sich schlichtweg nicht leisten, zusammen zu brechen.
Ihre Fingerspitzen legten sich um das kühle Glas, in dem trotz der Wärme des Raumes noch ein letztes verbliebenes Eisstückchen sein Dasein fristete, und ihre Gedanken glitten zurück zum Freitagnachmittag, an dem sie auf dem Spaziergang durch die Parkanlagen des Krankenhauses, menschenleer aufgrund des nasskalten Wetters, Jannik schließlich anvertraut hatte, wie viel Angst sie ausgestanden hatte, als das Ausmaß von Hannahs Verletzungen noch unklar gewesen war.
Er hatte teilnahmsvoll zugehört, ohne sie zu unterbrechen, und sie dann fest in seine Arme geschlossen, und umgeben von diesem Gefühl der Geborgenheit, das sie bei niemand anderem empfunden hatte, war jegliche Barriere in sich zusammen gefallen und hatten einem Meer von Tränen Platz gemacht, die ihrem Kummer und ihrer Erleichterung zugleich geschuldet gewesen waren.
Die Tatsache, dass Hannah jetzt glücklicherweise definitiv auf dem Wege der Besserung war, hatte Bea in eine Euphorie versetzt, deren Intensität die der vorigen Anspannung und Angst in nichts nachstand. Dennoch konnte sie nicht verhehlen, wie überaus erleichtert und froh sie war, Jannik wieder hier in Hamburg zu haben und seinen Trost und seine Zuversicht spüren zu können, und sie bedauerte, dass er nicht von Beginn an als Fels in der Brandung an ihrer Seite gewesen war.
Für einen Moment abgelenkt starrte Bea auf das Glas in ihrer Hand, das einen Lichtstrahl eingefangen hatte und ihn glitzernd in seine bunten Fragmente zerbrach. Neugierig brachte sie das Glas mit einer Drehung ihres Handgelenkes in eine andere Position, so dass das einfallende Licht nicht mehr gebrochen werden konnte, und stellte es dann mit der ihr eigenen Sensibilität für Kleinigkeiten nachdenklich wieder zurück auf den Tisch.
Hannahs Unfall hatte deutlich gemacht, wie fragil das Leben sein konnte. Es hatte Bea auch ihre eigenen Grenzen aufgezeigt, als sie zum Warten verdammt an Hannahs Bett gesessen hatte, ohne wie sonst durch ihr Handeln etwas ändern zu können, allein mit verzweifelter Hoffnung und einem Glauben, den sie aus der Not geboren wieder aktiviert hatte, als sie Gott darum gebeten hatte, Hannah wieder gesund zu machen. Wenn auch das kindliche Vertrauen in die Allmacht eines Gottes unwiederbringlich entschwunden war, so hatte Bea doch mit einem Gefühl, dass es nicht schaden könnte, parallel zum Vertrauen in die Ärzte auch ihn um Beistand gebeten.
Was auch immer den Ausschlag gegeben hatte, es hatte zum Glück funktioniert und damit jetzt ein Thema auf die Tagesordnung befördert, das nicht mehr umgangen werden konnte und Bea fragte sich leicht beklommen, wie der heutige Nachmittag enden würde. Umständehalber hatte sie nur kurz mit Jonas über letzte Woche sprechen können, er hatte mit knappen Worten und einem Ausdruck, der deutlich machte, dass ihm die Situation unangenehm war, bestätigt, Jannik angerufen und sich dabei auch entschuldigt zu haben.
Ihre Hoffnung auf Anknüpfen an frühere Zeiten erschien daher nicht unberechtigt, dennoch ließ die Unsicherheit, ob alles, was sie auseinander gebracht hatte, überwunden werden konnte, nun die Beine übereinander schlagen und leicht nervös mit den Zehen auf den Boden tappen. Die letzten Wochen und vor allem auch die letzten Tage hatten deutlich gemacht, dass ein Leben ohne Jannik viel von der Attraktivität einbüßte, die es hatte, wenn man sich mit einem geliebten Menschen über die Vorkommnisse des Tages austauschte, Gemeinsames erlebte oder in schwierigen Zeiten für einander da war.
Der Gedanke, dass er erneut aus ihrem Leben verschwinden würde, war schwer zu ertragen. Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass er genauso wie sie zu empfinden schien... dennoch verbot sich Bea, zu viel in sein Verhalten hinein zu interpretieren. Die nächste Stunde würde darauf Antwort geben, wie Jannik die Zukunft ihrer Beziehung sah...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top