Kapitel 93
Kaum hatte Jannik nach dem Lesen von „Bin gleich da" den Kopf gehoben, sah er Bea auch bereits die Cafeteria betreten und suchend ihren Kopf hin und her wendend, und als er aufstand und sie ihn entdeckte, glitt ein Strahlen über ihr Gesicht. In ein paar kurzen Schritten war sie bei ihm und sie an sich zu ziehen und ihr mit den Lippen das zu zeigen, was er empfand, war ein fließender Moment. Das Gefühl war beidseitig, und es schien wie ein Versuch, in einem Kuss alles nachzuholen, was sie in den letzten Wochen versäumt hatten. Ungeachtet des öffentlichen Ortes, an dem sie sich befanden, drückte sich Bea mit einer Heftigkeit an ihn, die ihn überraschte, aber nichtdestotrotz ausnehmend gut gefiel.
„Halt mich einfach ganz fest!", bat Bea in einer Atempause, was er sich nicht zweimal sagen ließ, seine Hände rutschten ihren Rücken hinunter und verweilten auf den Rundungen ihrer Rückseite, die er in vertrauter Weise an sich zog.
Mit vor Aufregung leicht geröteten Wangen, die Bea anziehend und ein wenig mädchenhaft aussehen ließen, lösten sie sich schließlich ein wenig atemlos voneinander und ließen sich in die Stühlen fallen, darauf bedacht, nur so viel Abstand zu halten, dass sich ihre Beine noch berühren konnten, was beständig kleine und durchaus nicht unangenehme, elektrische Impulse durch Janniks Körper sandte, ihre Hände hatten sie wortlos und ohne zu zögern auf der Tischplatte ineinander verschränkt.
„Willst du etwas trinken?", fragte er mit rauer Stimme, dabei im Stillen schon voller Bedauern, sie dafür loslassen und aufstehen zu müssen, doch Bea schüttelte nur den Kopf und sah ihn so intensiv an, als wäre jede Einzelheit seines Gesichts neu für sie.
„Ich muss ja bald wieder hoch. Aber ich musste dich einfach schon sehen!"
Sie zog die verschränkten Hände an ihre Wange, die sich unter seinen kühlen Fingern warm und weich anfühlte, schloss für einen kurzen Moment die Augen und seufzte.
Aus der Nähe und im Tageslicht entdeckte Jannik die tiefen Augenringe, die ihm letzte Nacht entgangen waren, und die davon Kenntnis ablegten, welcher Belastung Bea in den letzten Tagen ausgesetzt gewesen war. Er verzichtete darauf, seine Beobachtung zu kommentieren, löste stattdessen eine Hand und fuhr mit den Fingerspitzen zart den Bereich um ihre Augen entlang, wobei er wünschte, dass er die ganzen Strapazen der letzten Tage ebenso einfach beiseite wischen könnte. Auch ohne diese Zauberwirkung vertiefte sich jedoch das Lächeln auf Beas Gesicht und mit wenigen Worten, die eher einem Hauch ähnelten, gestand sie:
„Es tut so gut, dass du da bist!"
Unvermittelt schloss sie wieder die Augen und schien jede seine Berührungen in Gänze auszukosten, während die Aussage ihrer Worte in ihm nachhallte und ihm bewusst machte, was er ihr bedeutete, trotz allem, was passiert war.
„Die letzten Tage waren einfach schrecklich..."
„Willst du darüber reden?"
Bea schüttelte langsam den Kopf und schlug ihre Augen wieder auf, suchte seinen Blick.
„Jetzt nicht. Heut Nachmittag. Jetzt will ich einfach nur genießen, dass du da bist und für einen Moment alles andere vergessen."
In der nächsten Sekunde neigte sie ihren Kopf nach vorne und ließ ihren Worten Taten folgen, bis auch Jannik die Fragen vergaß, die ihm noch auf der Zunge gelegen hatten. Ihre Beine pressten sich in dem vergeblichen Bemühen, von der Realität der Cafeteria in ein privateres Umfeld einzutauchen, aneinander und es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis die Alltagsgeräusche einer zischenden Kaffeemaschine und das Hintergrundgemurmel entfernt geführter Unterhaltungen wieder an sein Ohr drangen.
Sie ließen sich wieder zurück in ihre Stühle fallen, sahen sich an mit Blicken, die einander etwas zu versprechen schienen, bis Bea schließlich die intensive Atmosphäre mit einer Frage unterbrach, die ihre Neigung, Dinge zu organisieren, widerspiegelte.
„Kannst du heute Nachmittag kommen? So gegen 15.oo Uhr? Vielleicht können wir ein wenig durch den Park gehen. Thorsten bleibt bei Hannah, da habe ich mehr Zeit als jetzt."
Jannik unterdrückte einen launigen Kommentar über seinen Vorgänger, der in diesem Moment unangebracht war, und nickte.
„Dann kann ich dir erzählen, was in den letzten Tagen alles passiert ist", fuhr Bea fort, während der Griff ihrer Hand unwillkürlich fester wurde, sie holte tief Luft und offenbarte leise und ohne Raum für Interpretationen:
„Bin so froh, dass du da bist, Jan! Irgendwie hilft mir das. Dann... dann stehe ich nicht so alleine davor. Es ist ja noch so viel unklar..."
Ihre Stimme brach leicht am Ende, aber sie behielt dennoch ihre Fassung, während Jannik, gelinde überrascht von ihrer Offenheit, dennoch ohne zu zögern bestätigte:
„Ich bin ja jetzt hier, Honey."
Sein beruhigender Blick schien seine Wirkung nicht zu verfehlen, Bea atmete erleichtert aus und entspannte sich wieder, murmelte dann „Alles nicht so einfach gerade", während sie den Blick auf ihre ineinander verschlungenen Hände gerichtet hielt. Jannik verspürte den Impuls, sie tröstend in den Arm zu nehmen, aber ihr abgewandter Blick signalisierte den Wunsch nach Distanz, zumindest hier und jetzt, den er respektierte.
„Das glaube ich dir", gab er daher nur sanft zurück und ließ seinen mitfühlenden Blick auf ihr ruhen, stellte dabei überrascht fest, wie kräftig das Rot ihrer Haare, deren Locken ungestüm über die Schultern fielen, heue schimmerte, bis er bemerkte, dass deren Ursache in der ungewohnten Blässe ihres Gesichts lag.
Die Cafeteria war inzwischen zunehmend voller geworden.
„Ich denke, ein Kaffee würde dir gut tun", sprach Jannik gegen die zunehmende Lautstärke an und erhob sich schon halb, als Bea ihn mit einem Kopfschütteln wieder in den Sitz zog.
„Lass! Der schmeckt hier ohnehin nur plörrig. Außerdem...", sie warf einen Blick auf die Uhr, „...ich muss wieder hoch." Ihren Worten zum Trotz blieb sie jedoch sitzen und zog eine leichte Grimasse, die ihren Unwillen deutlich machte, ihn schon wieder zu verlassen.
„Ich komme dann um 15.oo Uhr zu euch hoch...", nahm Jannik schließlich ihren eben gemachten Vorschlag wieder auf und stoppte überrascht angesichts Beas plötzlich betretenen Gesichtsausdruckes. Wortlos fixierte ihr Blick den unscheinbaren Vinyltisch, auf dem sie ihre Hände abgelegt hatten. Ein paar Sekunden hing ein Schweigen zwischen ihnen, bis Jannik schließlich begriff.
„Du willst nicht, dass ich hoch komme, stimmt's ?", brachte er tonlos heraus und spürte ein Kratzen in der auf einmal trockenen Kehle, als er versuchte zu begreifen, warum er in Hannahs Zimmer heute nicht mehr erwünscht war. Er hatte sich schon darauf gefreut, sie kurz sehen und sprechen zu können. Weil ihr Ex da war?
Endlich sah Bea auf und bedachte ihn mit einem Blick, in dem Bedauern und Entschlossenheit zugleich lagen. Ihre Begründung kam dann überraschend für ihn.
„Hannah würde sich bestimmt sehr freuen, dich zu sehen, Jan", begann Bea mit weicher Stimme und sie erlaubte sich ein kurzes Lächeln, wurde dann aber wieder ernst, als sie fortfuhr:
„Aber sie macht sich dann auch Hoffnung. Und ich weiß ja nicht, ob die erfüllt werden kann..."
Mit der für sie typischen Stärke, die sie unangenehmen Themen normalerweise nie ausweichen ließ – mit Ausnahme des Konfliktes mit ihrem Sohn letztes Jahr – , und die ihr trotz allem auch im Krankenhaus offenbar nicht abhanden gekommen war, hielt sie seinen Blick. Die plötzlich feucht schimmernden Augen verrieten, dass Hannah nicht die Einzige wäre, die sich Hoffnung machen würde, dennoch war Beas Stimme nichts von der Kraftanstrengung anzumerken, die es sie kosten musste, ruhig hinzuzufügen:
„Solange wir nicht wissen, wie es mit uns weitergeht..."
Jannik wollte widersprechen, ihr versichern, dass er sofort bei ihnen bliebe, nicht mehr nach Berlin zurück kehren würde, aber etwas hielt ihn zurück, ließ ihn nur stumm ihren Blick erwidern, denn ihm wurde klar, dass das sofortige Versprechen zu bleiben eine genauso unüberlegte Entscheidung wäre wie die, holterdiepolter nach Berlin zu ziehen; das, was Bea äußerte, war genau der Gedanke, der ihm heute Morgen auch bereits durch den Kopf gegangen war.
„Wir müssen reden", entschied er daher bestimmt, „Dann, wenn es für dich okay ist."
Bea nickte zustimmend.
„Ja, das sollten wir. Kannst du vielleicht bis Sonntag bleiben? Wenn es Hannah weiter besser geht, dann kann ich auch mal an etwas anderes denken. Wir könnten am Nachmittag ins Gundelach, da ist es nicht so laut."
Mit einer Geste, die irgendwo zwischen Nervosität und Gewohnheit angesiedelt war, zwirbelte sie eine Haarsträhne um ihren Finger und strich sie dann hinters Ohr. Noch während Jannik nickte, stand Bea bereits auf, nun unverkennbar unruhig, stieß hastig ein „Ich muss los!", aus und versetzte ihm einen flüchtigen Kuss, der zu seinem Bedauern wenig Ähnlichkeit mit den vorhergehenden Zärtlichkeitsbekundungen hatte.
„Heute Nachmittag, 15.oo Uhr, ja?"
Ihre Frage hatte etwas Bittendes, das Jannik noch beschäftigte, als sie längst außer Sichtweite war. Mit wenig Neigung, sich in das nasskalte Wetter nach draußen zu begeben, entschloss er sich noch zu einem Stück Kuchen und reihte sich in die Schlange ein, die sich inzwischen vor der Ausgabe gebildet hatte. Es ging nur langsam voran, ohne jedes Vorkommnis, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog, und so blieben seine Gedanken an dem hängen, was wie eine Wiederholungsschleife durch seinen Kopf zog.
Beas unausgesprochenes „Ich brauche dich", das ihre gesagten Worte kaum verhüllt hatten, hatte ihn getroffen, denn es war nicht Beas Art. Trotz mancher Zweifel, die sie hin und wieder bei bestimmten Gelegenheit überfielen, hatte sie stets eine außergewöhnliche innere Stärke vermittelt, ein Selbstbewusstsein, alleine klar kommen zu können, das sie unabhängig von anderen machte.
Auch wenn sie ihr Möglichstes getan hatte, dieses anschließend wieder zu kaschieren, als sie sich energisch dafür eingesetzt hatte, Hannah jegliche Aufregung zu ersparen, so hatte Jannik doch gespürt, dass die Fassade brüchig war, und dass sich darunter eine zutiefst erschütterte Sicherheit verbarg. Dies, mehr als alles andere, machte ihm deutlich, dass es eigentlich keine Option mehr war, in Berlin zu bleiben.
„Was möchten Sie?"
Die plötzliche Stimme der Verkäuferin, gelangweilt von der Tristesse, immer das Gleiche sagen zu müssen, riss ihn aus seinen Gedanken. Ohne es bemerkt zu haben, war Jannik an die Reihe gekommen, bedient zu werden, und hastig wählte er das erstbeste Tortenstück, das ihm ins Auge sprang. Er schlängelte sich durch eine Gruppe von Leuten, deren verschiedene Altersstufen und fehlende räumliche Distanz zueinander sie als Familie kennzeichnete, stutzte kurz, als sein Blick auf ein Mädchen etwa in Hannahs Alter fiel und setzte sich dann wieder an seinen Tisch.
So könnte es sein, dachte er und wartete auf die Unruhe, die sich beim Gedanken an Familie bei ihm einstellte. Aber sofern Nervosität vorhanden war, so wurde sie überlagert von dem alles beherrschenden Gefühl, für Bea da sein zu wollen, ihr den Halt zu geben, den sie bei ihm suchte.
Mechanisch brach er ein Stück von der Torte ab und schob die Gabel in den Mund, Sahne und Frucht vermischten sich dabei zu einer Köstlichkeit, die ihn normalerweise dazu gebracht hätte, sich angetan über die Lippen zu lecken und zügig das nächste Stück zu verspeisen. Heute jedoch ignorierte er die Geschmacksexplosion und sah stattdessen unbestimmt in Richtung Fenster, durch welches das Grau des Wintertages hindurch schimmerte; er war mit den Gedanken weit weg.
Trotz der inneren Bereitschaft, nach Hamburg zurück zu kehren, konnte Jannik jedoch nicht verhehlen, dass ihn der Gedanke, den gerade begonnen neuen Job vermutlich wieder aufgeben zu müssen, mit tiefem Bedauern erfüllte, denn diese Tätigkeit war genau das, was er sich vorgestellt hatte zu tun, und er zweifelte daran, dass ihm solch Glück noch einmal beschieden sein würde. Frustriert ließ er sein Kinn in die Handfläche seines aufgestützten Armes sinken und krallte einen kurzen Augenblick lang seine Finger in die Wange, bis sie zu schmerzen begann, das Tortenstück vor ihm war im Moment völlig vergessen.
Auch war noch völlig unklar, ob Hannah wieder vollständig gesund werden würde oder ob sie womöglich Schäden nachbehalten würde – daran durfte er gar nicht denken! –, was zu einer Herausforderung führen würde, die Jannik Respekt einflößte. Er seufzte tief angesichts dieser Schwierigkeit, als sei sie bereits existent. Doch wenn es eine reale Chance für ihre Beziehung gab, dann war er entschlossen, seine Freundin kein weiteres Mal zu enttäuschen! Bea brauchte ihn, nur das zählte und alles andere würde dahinter zurück stehen müssen.
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