Kapitel 92
Es war kurz nach elf Uhr, als Jannik wieder auf den Parkplatz rollte, den er nur zwölf Stunden vorher verlassen hatte, getrieben von einer Unruhe, die es ihm unmöglich machte, zu Hause bei Tobias auf Beas Anruf zu warten oder ziellos durch die Stadt zu schlendern. Nicht eine einzige Nachricht lag seit ihrem Chat von letzter Nacht vor, weder per What App noch hatte sie versucht, ihn anzurufen – was er gleich mehrmals überprüft hatte – und der Versuch, sie selbst telefonisch zu erreichen, war, nicht ganz unerwartet, gescheitert; sie hatte angekündigt, dass sie im Krankenhaus ihr Handy stummgeschaltet ließ.
Auch von Jonas war heute Morgen nicht mehr als ein knappes Okay auf seine Mitteilung, in Hamburg angekommen zu sein, zu vernehmen gewesen, aber genau genommen hatte Jannik von dem Teenager auch keine großen Worte erwartet.
Da Geduld keine Charaktereigenschaft war, die Jannik kennzeichnete, hatte er sich schließlich erneut auf dem Weg zum Krankenhaus gemacht, entschlossen, der Ursache von Beas Schweigen auf den Grund zu gehen.
Eisige Luft zog ins Auto, als Jannik die Fahrertür öffnete, und ließ ihn sehnsuchtsvoll an den warmen Strand Mallorcas denken; in der Eile des Aufbruchs letzten Abend hatte er versäumt, sich eine der Jahreszeit angemessenen Jacke überzuziehen, zumal es in Berlin deutlich milder gewesen war. Klägliche Reste des Schneefalles von heute Nacht zierten den Parkbereich und ließen ihn grau und unwillkommen wirken und nicht überall schien gestreut worden zu sein, denn während Jannik mit Schwung die Autotür zuwarf, wäre er beinahe auf einer glatten Fläche ausgerutscht.Es gelang ihm gerade noch, sich an seinem Auto abzustützen und dadurch das Gleichgewicht zu bewahren.
Das fehlte noch, mir jetzt den Fuß zu verletzen, dachte er grimmig, ging aber dessen ungeachtet ohne weitere Vorsicht über die unebene Parkfläche hinüber zum Haupteingang, wo er nach Betreten der Halle, froh über die Wärme, die ihm entgegen schlug, ein wenig verharrte und die Hände aneinander rieb.
Eine lange Schlange hatte sich vor dem Schalter mit der Auskunft Anmeldung gebildet und im Hintergrund war ein plärrendes Kind zu hören.
Uninteressiert an den Schicksalen, die jeder dieser Patienten sein Eigen nannte und die sie ungewollt hierher getrieben hatte, glitt Janniks Blick über sie hinweg und verweilte auf einem in betont fröhliche Farben gehaltenen abstrakten Gemälde neben dem Empfang, das offenbar die Stimmung heben sollte, aber der Klinik nichts von ihrer typischen, durch Farbe und Geruch verursachten Einschüchterung nahm.
Er trat ein wenig zur Seite, froh darüber, sich nicht in die Notaufnahme einreihen zu müssen, und zog sein Handy aus der Hosentasche. Mit einem leisen Geräusch kündigte es den Eingang einer neuen Nachricht an und diesmal war es endlich Bea:
Sorry, Jan, dass ich mich den ganzen Morgen nicht gemeldet habe... Untersuchungen und Gespräche... aber die Ärzte sind optimistisch. Das künstliche Koma war eine Sicherheitsmaßnahme gewesen, weil die Schwere von Hannas Kopfverletzungen noch unklar war. Sie ist nun etwas länger wach, aber es ist trotzdem alles natürlich enorm anstrengend für sie. Morgen kommt sie wahrscheinlich schon auf eine andere Station und bald dann ins Kinderkrankenhaus. Hier ist noch total viel los, kannst du deshalb heute Nachmittag kommen? Ich texte dir. Bin so tot, das glaubst du gar nicht, aber freue mich schon total auf dich!!! XXX, Bea.
Zu spät, ich bin schon hier, dachte er unwillkürlich und ein stilles Lächeln flog über sein Gesicht angesichts einer Freude, die ihn mit der angenehmen Wärme eines beginnenden Sommertages erfüllte, und er war gerade dabei, eine Antwort zu tippen, als er jemanden zögernd seinen Namen aussprechen hörte, mit einer Zurückhaltung, die Höflichkeit als treibende Kraft vermuten ließ.
„Hallo Jannik."
Er sah auf und gewahrte Jonas, der in geringer Entfernung linkisch und verlegen vor ihm stand, als wäre er sich nicht ganz sicher, wie Jannik reagieren würde. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch mit dem Glücksgefühl, welches ihm das gestrige Wiedersehen mit Bea beschert hatte, hatte Jannik dem Jungen schon fast verziehen. Noch bevor er jedoch mehr tun konnte, als Jonas zuzunicken, vernahm er die bedeutend tiefere Stimme eines Mannes, der hinter Jonas auftauchte und Jannik unverhohlen musterte.
„Ist er das?"
Die Frage war offenbar an Jonas gerichtet, obgleich der Mann Jannik nicht aus den Augen ließ; unwillkürlich spannte Jannik seine Kiefermuskeln an und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, mit der er sein Gegenüber merklich überragte. Fast war er versucht, dessen unhöfliche Art zu kopieren, besann sich aber und erwiderte stattdessen kühl:
„Er heißt Jannik Kerner. Und du bist vermutlich Beas Ex-Mann? Angenehm."
Selten war eine Lüge offensichtlicher als in diesem Moment, nichtdestotrotz reichte Jannik ihm betont höflich die Hand, während Jonas neugierig jede Regung der beiden Männer verfolgte. Thorsten hatte den Anstand, verlegen die Mundwinkel zu verziehen, verzichtete allerdings auf eine Entschuldigung und reichte ihm lediglich mit einem knappen „Thorsten Büttner" die Hand.
Schweigend musterten sich beide Männer mit Blicken und während Jannik die ergrauenden Schläfen im dunklen Haar, das Holzfällerhemd und die insgesamt etwas runde Form seines Gegenübers, dem regelmäßiger Sport durchaus gut täte, registrierte, fragte er sich, ob Thorsten ihn womöglich noch als Konkurrenten sah oder ob seine Unfreundlichkeit der belastenden Situation mit seiner Tochter geschuldet war.
„Können wir weiter? Oder wollt ihr hier Wurzeln schlagen?!", nörgelte Jonas nun ungeduldig und riss die Männer aus ihrer Konzentration heraus. Ohne ein weiteres Wort wandte sich der Teenager um und stiefelte in Richtung des Fahrstuhles.
Mit dem Versuch, die Atmosphäre durch Smalltalk zu lockern, erkundigte sich Jannik bei Thorsten nach seiner Arbeit in der Schweiz, von der dieser in knappen Worten zu berichten wusste. Währenddessen verließ der durch gerunzelte Augenbrauen entstandene Ausdruck die ganze Zeit nicht Thorsten Gesicht, als zöge etwas die ganze Zeit sein Missfallen auf sich, was Jannik mit einem inneren Schulterzucken quittierte; er war nicht der Typ, der sich davon nervös machen ließ.
Zusammen mit ihnen drängte eine fünfköpfige Familie in den ankommenden Fahrstuhl, die eine Fortsetzung des Gesprächs durch ihr lautstarkes Unterhalten unmöglich machte. Mit Blicken, die dem Aufenthalt im Fahrstuhl unter Fremden eigen sind, starrten Jannik und Thorsten mit neutralem Ausdruck in Richtungen, die weniger Blick auf die Passagiere, sondern auf das Innere des Fahrstuhles boten, während ein unangenehmer Geruch nach feuchter Kleidung in der abgestandenen Luft hing.
Jonas war der erste, der aus dem Fahrstuhl schlüpfte und sich bereits zügig auf den Weg zur Station machte, während die Erwachsenen durch die Erfordernis, um die Mitfahrer herum navigieren zu müssen, am raschen Verlassen des Fahrstuhles gehindert wurden. Als die Fahrstuhltüren langsam zuglitten, spürte Jannik eine Hand an seinem Ellenbogen, die ihn mit leichtem Druck davon abhielt, Jonas zu folgen. Jannik wandte sich unwillig um und diesen Moment nutzte Thorsten, um ihm mit einem entschlossenen Zug um den Mund und einer gewissen Schärfe in der Stimme zu verdeutlichen:
„Bea ist eine tolle Frau und lässt nichts auf die Menschen kommen, die sie liebt. Sie hat Kummer nicht verdient. Wehe daher, du verletzt sie nochmal!"
Empört ob des anmaßenden letzten Satzes, der für ihn klang, als wäre Bea Thorsten' Eigentum, zog Jannik seinen Arm fort und gab bissig zurück:
„Ich werde mich sicher hüten, es dir gleich zu tun!"
Der Konter mit der Erinnerung an Thorsten' Seitensprung traf diesen unvorbereitet, mit einem Ruck wandte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort zu sagen auf die Station zu, während Jannik ihm finster hinterher sah, aufgebracht über Thorsten' Verhalten, das er mehr als Einmischung denn als freundlichen Hinweis verstanden hatte.
Die Bemerkung, er habe Bea verletzt, hatte ihn darüber hinaus getroffen, da er sich dessen ohnehin selbst bewusst war, aber er hatte sein Möglichstes getan, das mit seiner Erwiderung zu überspielen. Dass er damit nun Thorsten verärgert hatte, war ihm zwar gleich, nährte aber die Erkenntnis, dass es nicht ratsam schien, zusammen mit diesem im Krankenzimmer aufzutauchen, zumal Bea außerdem um einen Besuch am Nachmittag gebeten hatte.
Mit der zornigen Energie, die ihn noch immer durchströmte und es ihm unmöglich machte, in Ruhe auf den Fahrstuhl zu warten, eilte er das Treppenhaus hinunter, wo er, etwas atemlos im Erdgeschoss angekommen, tief seufzte und eine Nachricht an Bea tippte.
Die Ewigkeit, die es dauerte, bis Bea antwortete, ging auf fünfzehn Minuten zu, die Jannik ungeduldig zwischen dem Haupteingang und dem Nebeneingang von gestern Abend hin und her gehen ließ. Es war dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, das er hasste, weil es ihn darum brachte, aktiv etwas zu tun, auch wenn er hier selbst derjenige gewesen war, der darauf verzichtet hatte, einfach das Krankenhaus zu verlassen und heute Nachmittag zurückzukehren.
Hast du noch etwas Zeit? Ich würde dann in 20 – 30 min runter ins Cafe kommen. XXX, Bea
Die Ungeduld, weiter warten zu müssen, wurde von der Freude, Bea doch noch gleich sehen zu können, überlagert und mit Schritten, die fern davon waren, denen von ein paar Minuten zuvor zu gleichen, wandte sich Jannik nun beschwingt der Cafeteria zu.
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