Kapitel 90
Janniks Füße lenkten ihn wie von selbst in die Küche, die jahrelange Übung hatte sich so in sein Gedächtnis eingegraben, dass er den Weg noch immer in völliger Dunkelheit hätte schaffen können. Verschlafen rieb er sich die Augen, gewahrte ein wenig Sonnenlicht, das durch das Fenster in der Ecke fiel – das noch immer ohne jede Dekoration wie Gardine oder Pflanzen auskam – und blieb dann nicht wenig irritiert mitten im Raum stehen.
Es war die bekannte Küche, unverkennbar, das gleiche Mobiliar, die gleichen Geräte – und doch wieder nicht, Jannik zermarterte sich das Gehirn, um die Veränderung, die er unbewusst registrierte, zu erkennen, bis er schließlich die ungewöhnliche Ordnung und Sauberkeit wahrnahm, die der Küche ein völlig neues Aussehen verliehen.
Verwundert zog er die Augenbrauen hoch. Hatte es etwa seines Auszuges bedurft, damit Tobias und Luis in Sachen Haushalt zur Hochform auflaufen konnten? Wenn die beiden auch weniger unordentlich als er selbst waren, so schien solch eine Veränderung dennoch kaum vorstellbar. Der Kaffee immerhin befand sich noch in derselben Kaffeedose wie bisher, einer schwarzen Dose, auf dem das weiße Totenkopfemblem des FC St Pauli prangte, Jannik selbst hatte sie einst beigesteuert.
Großzügig schaufelte er mehrere Lot Kaffee in die Maschine, so dass für einen guten Start in den Morgen gesorgt war, und ließ dann langsam seinen Blick von einer Seite des Raumes zur anderen wandern und fragte sich, wie Tobias und Luis es schafften, diese Aufgeräumtheit im täglichen Gebrauch aufrecht zu erhalten. Vorsichtig hob er mit den Fingerspitzen ein wie eine Pyramide gefaltetes Geschirrtuch an und hätte sich jetzt nicht über etwas Selbstgebackenes gewundert, entdeckte aber nur die leere Arbeitsfläche, was ihm ein amüsiertes Grinsen entlockte. So weit ging die Liebe zur Haushaltsführung dann wohl doch nicht.
Abwartend lehnte sich Jannik gegen den Eckschrank und sah hinaus auf die Straße, wo ein wenig Schneematsch davon kündete, dass heute Nacht offenbar eine Spur von Winter durch die Stadt gezogen war, die der Morgen jedoch inzwischen fast vollständig getilgt hatte. Er stützte das Kinn in die Hand und blickte auf den morgendlichen Verkehr, ohne ihn wirklich wahr zu nehmen, um seine Mundwinkel spielte ein leichtes Lächeln, als er an das gestrige Wiedersehen dachte und den sich daran anschließenden Chat von heute Nacht.
Zu seiner Erleichterung und Freude hatte Bea ihn in all den Wochen genauso vermisst wie er sie, nichts schien darauf hinzudeuten, dass sie ihm sein dämliches Verhalten vom letzen Jahr noch übel nahm, und es war nicht zu leugnen, dass er seitdem wieder ein Gefühl von Vollkommenheit spürte. Noch vor einem Jahr hätte er über dieses Gefühl gelacht und es als für sich abwegig beiseite gewischt...
Sie hatten sich über ihre Zuneigung ausgetauscht, aber weder über Hannahs Zustand, den beide bewusst ausgeklammert hatten, um für ein Weilchen unbelastet den Zauber ihrer erwiderten Gefühle genießen zu können, noch über die Zukunft ein Wort verloren. Letzteres blieb einem Moment der Ruhe und persönlicher Anwesenheit vorbehalten, die hoffentlich bald durch weniger Sorge um Hannah getrübt sein würde.
Jannik war realistisch genug zu erkennen, dass ihre Versöhnung und selbst der Stimmungsumschwung von Jonas nur erste Schritte gewesen waren und dass die Schwierigkeit, angesichts der Veränderung in seinem Leben eine gemeinsame Zukunft zu gestalten, noch bevor stand. Die Ausgangslage war eine andere als noch vor wenigen Wochen und dämpfte seinen Optimismus, dass sich sicherlich noch alles zum Besten wenden würde, ein wenig.
Stattdessen vergegenwärtigte er sich jetzt noch einmal die Euphorie, die ihn erfasst hatte, als Bea ihm gestand, ihn auch vermisst zu haben, sowie die Sehnsucht, die ihre Berührungen in ihm hervorgerufen hatten, und schob damit jeden unerwünschten Gedanken von sich.
Während der Kaffeeautomat ein letztes Schnaufen von sich gab, verriet das Klappen der Badezimmertür, dass auch Tobias sein Duschen beendet hatte, mit nassen Haaren tauchte er in der Küche auf und schnupperte.
„Wie in alten Zeiten", kommentierte er schließlich angetan, zog zwei Becher aus dem Schrank, ließ sich dann auf die Bank fallen und nahm Jannik genauer unter die Lupe.
„Berlin scheint dir gut zu tun, du siehst voll und ganz zufrieden aus. Wenngleich mit Wildwuchs."
„Kann nicht klagen", gab Jannik aufgeräumt zu, ohne die Gründe für sein offensichtliches Glück preiszugeben und fuhr dann selbstkritisch mit dem Handrücken über seine immer länger werdenden Bartstoppeln.
„Ich bin da etwas bequem geworden... kann ich mir gleich mal deinen Apparat ausleihen?"
Tobias nickte gnädig und sah auf die Hand, mit der Jannik dann auf die aufgeräumte Küchenzeile wies.
„Ihr habt ja inzwischen offenbar Ordnung in eurem Leben", letztere Bemerkung mit einem Augenzwinkern versehen, der er selbstkritisch hinzufügte:
„Offenbar war ich hier früher die Drecksau. Ist ja Wahnsinn, was ihr ohne mich hinkriegt!"
„Hast du es endlich erfasst!"
Tobias brach in lautes Gelächter aus, in das Jannik einstimmte, ohne Tobias die unverblümte Zustimmung zu seiner eigenen kritischen aber etwas scherzhaft gemeinten Charakterisierung übel zu nehmen.
„Ehrlich gesagt ist dein Nachfolger daran nicht ganz unschuldig."
Tobias Heiterkeit verwandelte sich in ein Lächeln, das vom Ausmaß seiner Zufriedenheit kündete, als er ungefragt erläuterte:
Alex ist so eine ganz Ordentliche. Chemie im sechsten Semester. Da hat sie wohl den Fimmel her. Aber sie übernimmt immerhin von allein den größten Part, Luis und ich sind ihr da nicht ordentlich genug."
Es wurde deutlich, dass er diesen Service durchaus zu schätzen wusste, denn die Großspurigkeit, die er früher bezüglich Frauen und Haushalt an den Tag gelegt hatte, war völlig verschwunden. Jannik hob überrascht die Augenbrauen.
„Ihr habt euch ein Girlie in die WG geholt?!"
Kopfschüttelnd gesellte er sich mit dem fertigen Kaffee zu Tobias an den Tisch und füllte beide Becher.
„Ich dachte, du wolltest keine Frau in der WG haben", gab er dann seiner Verwunderung Ausdruck und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der ihm freien Blick auf den Flur ermöglichte, in der Hoffnung, einen Blick auf dieses außergewöhnlich ordentliche, feminine Wesen erhaschen zu können. Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie Tobias ihn sekundenlang schweigend ansah, als würde ihm Gedanken durch den Kopf gehen, die er jedoch nicht geneigt war preis zu geben, dann Sahne in seinen Kaffee goss und sich anschließend aufrichtete.
„Um ehrlich zu sein, wir wussten das gar nicht."
Er nahm einen Schluck Kaffee und angelte sich einen Keks aus der auf dem Küchentisch stehenden Schale.
„Alex, Studienfach Chemie. Ist doch klar, dass das ein Kerl ist, oder? Bis sie dann zum Gespräch hier auftauchte. Ich meine dann sagt man doch nicht, nee, wir nehmen nur Männer."
Er lachte vergnügt. Jannik streckte die Arme auf den Tisch, so dass seine Finger die Spitze eines Dreieckes bildeten, lehnte sich weit nach hinten und ein feines, wissendes Lächeln zog seine Mundwinkel in eine Richtung, die seine beginnende Belustigung nicht verbarg.
„Also sieht sie gut aus."
„Normal halt", gab Tobias zurück, ohne die Beschreibung näher auszuführen und ergänzte zufrieden:
„Und sehr sympathisch"
„Aha!"
Seine Gedanken standen Jannik deutlich ins Gesicht geschrieben und sorgten dafür, dass die Grübchen auf seinen Wangen erschienen, doch Tobias winkte nur lässig ab.
„Nicht, was du denkst!"
Mit einem plötzlichen Gähnen riss er den Mund weit auf und es war ein Grad für die Vertrautheit und Ungezwungenheit zwischen ihnen, dass Tobias darauf verzichtete, seine Hand in einer höflichen Geste empor zu reißen.
„Es gibt Nächte, da schlaucht das echt!"
Der Themenwechsel war mehr als abrupt, doch Jannik begriff sofort. Nach seinem spontanen Anruf gestern Abend hatte er Tobias in der Kneipe, in der er abends jobbte, einen Besuch abgestattet, ohne dass ihnen mehr Zeit für einen kurzen Plausch zur Verfügung gestanden hatte als eine Schlüsselübergabe erforderlich machte. Und mit Tobias' später nächtlicher Rückkehr zu einer Zeit, in der Jannik längst in einen traumlosen Schlaf gefallen war, hatte sich noch keine weitere Gelegenheit zum Austausch ergeben.
„Machst du das jeden Abend so lange?", wollte er wissen und zu einem nicht geringen Grad froh darüber, dass ihm so etwas erspart geblieben war.
„Dienstags bis Donnerstags, das reicht auch. Aber immerhin das Geld stimmt."
Tobias fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, um sich den letzten Rest von Sahne abzustreifen, der auf seiner Oberlippe liegen geblieben war, anschließend ließ er sich umfänglich über das Kellnern abends im Allgemeinen und die After-Work-Partys im Speziellen aus, die den Donnerstag zu einem anstrengenden langen Dienst machten und dadurch seine Fähigkeit, so Tobias, Freitags die Nacht durchzumachen, inzwischen merklich beeinträchtigten.
Die Krümel auf dem Tisch legten Zeugnis davon ab, dass beide die Männer sich an den Keksen gütlich getan hatten, die Schale war inzwischen völlig geleert, und Jannik bedauerte im Stillen, gestern nicht noch Aufbackbrötchen besorgt zu haben, denn er hätte jetzt durchaus etwas zu essen vertragen können, das mehr war als ein kohlenhydrathaltiger Appetitanreger.
„Sag mal, zu essen habt ihr nichts im Haus, oder?", wollte er mit ein wenig Hoffnung in der Stimme wissen, vielleicht sorgte ja das Wunderwesen der sorgfältigen Chemiestudentin mittlerweile auch für einen gefüllten Kühlschrank.
„Ich glaube, Alex hat so Proteinjoghurts und Obst da", teilte Tobias gedankenlos mit, ohne sich näher mit dem Konzept von mein und dein zu befassen, wie Jannik nicht umhin kam zu bemerken – nicht, dass ihn dieses überraschen würde, sie waren in der WG immer von „Was da ist, kann genommen werden" ausgegangen, manchmal mit Folgen, die die Stimmung zwischen für ein Weilchen merklich beeinträchtigt hatten – doch angesichts der genannten Auswahl verzog Jannik schmerzhaft das Gesicht.
„Eine Pizza kann ich dir anbieten", fiel Tobias ein und er schlug kopfschüttelnd mit der flachen Hand auf den Tisch, „Wie konnte ich das vergessen."
Ohne Janniks Antwort abzuwarten stand er auf und schob zwei Pizzen in den Backofen, und dann wandte sich das Gespräch schließlich Janniks neuer Tätigkeit zu.
„Nun erzähl mal, wie isses in Berlin, wie ist der Job?"
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