Kapitel 85

Schon auf halbem Weg zum Automaten wurde Jonas bewusst, dass dieser den Schein vermutlich nicht akzeptieren würde, sondern Münzen nötig werden würden, und mit dem Ziel, um Kleingeld zu bitten, kehrte er daher um. Seine Sohlen hinterließen ein leises quietschendes Geräusch auf dem Boden, das jedoch schon bald von einem Servicewagen geschluckt wurde, den ein Krankenpfleger an ihm vorbei schob, beladen mit Kaffeekannen und Geschirr. Jonas war überrascht, eine männliche Krankenschwester zu sehen und starrte dem jungen Mann hinterher, bis dieser in einem anliegenden Zimmer verschwunden war.

Er war gerade dabei, sich der offenen Tür von Hannahs Zimmer zu nähern, als er seinen Namen hörte, stutzte und stehen blieb.

„....Jonas enttäuscht." Das war die Stimme seiner Mutter.

Leise blieb Jonas da stehen, wo er sich befand, auch ohne dass er seine Eltern sehen konnte, waren ihre Stimmen klar und deutlich zu vernehmen.

Die Antwort seines Vater war ein Brummen, gefolgt von einem verlegenen „Ich weiß. Aber ich hatte den zweiten Weihnachtstag noch mit Helen verbringen wollen."

Noch bevor Jonas Gelegenheit hatte, darauf mit mehr zu reagieren als sich überrascht die Hand vor den Mund zu legen, kommentierte seine Mutter leise:

„Helen heißt sie also."

Sie klang gefasst und nicht im Geringsten so erschlagen wie Jonas, für den diese Nachricht wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam.

Sein Vater hatte eine Freundin? Nicht ein Sterbenswörtchen hatte er davon erzählt! Jonas biss sich auf die Lippen, als er begriff, dass es eine Illusion gewesen war zu glauben, seine Eltern könnten wieder zusammen kommen. Wieso konnte denn nicht mal was gut laufen!, beschwerte er sich still bei einem Gott, an den er gar nicht glaubte. Böse starrte er auf seine Turnschuhe hinab, die noch immer dreckverkrustet vom letzten Wochenende waren.

Durch seine Enttäuschung abgelenkt waren ihm die letzten Sätze entgangen, die seine Eltern gewechselt hatten und er hörte nur noch, wie sein Vater von einem enthusiastischen „Im April wollen wir zum Klettern in die Berge...." zu einem Satz voller Mitgefühl wechselte:

„Tut mir leid, dass es mit dir und deinem Freund vorbei ist. Und dann auch noch... auf diese Art. Ich hätte dir etwas anderes gewünscht."

Seine Mutter erwiderte leise etwas, das nicht zu hören war und dann fuhr Thorsten auch schon fort, viel sanfter als er sich sonst immer gegenüber Jonas geäußert hatte:

„Der war ohnehin viel zu jung für dich, Bea. Du hast schon zwei Kinder, da brauchst doch nicht noch einen Studenten, der vom wahren Leben noch keine Ahnung hat und dir finanziell nur auf der Tasche liegt."

Seine ruhige Stimme verbarg nicht die Kritik, die in seinen Worten steckte, und Jonas zuckte zusammen, als er seine Mutter plötzlich unerwartet heftig erwidern hörte:

„Hör auf, Thorsten! Hör auf, über jemanden zu urteilen, den du gar nicht kennst! Jannik ist jung, aber hat sich mehr Zeit für Hannah genommen, als du es je getan hast. Und hätte es auch für Jonas getan, wenn der ihn nur gelassen hätte!"

Jonas lehnte sich vorsichtig mit dem Rücken gegen die Wand, um nur kein Geräusch von sich zu geben, und hoffte inständig, dass keine Krankenschwester vorbei kommen und ihn ansprechen würde. Sein Vater klang ein wenig beleidigt, als er mit gepresster Stimme erwiderte:

„Was erwartest du, ich lebe schließlich in der Schweiz."

Beas Stimme wurde wieder ruhiger, als sie sehr sachlich erwiderte:

„Du warst immer unterwegs, als du hier warst, hast du das vergessen? Jedes Wochenende mit Freunden bei deinen Hobbys und ein kleiner Moment fiel für die Kinder ab..." Sie verstummte.

Jonas spürte seine feuchten Hände an der Wand abrutschen und ließ sie dann einfach hängen, doch unwillkürlich krallten sich die Finger in eine Faust und sein Atem beschleunigte sich. Er konnte sich noch an die Zeit erinnern, als er in der Grundschule gewesen war, es war normalerweise seine Mutter gewesen, die den Fußballspielen beigewohnt hatte, die mit ihnen Ausflüge in den Zoo oder Barfußpark gemacht hatte und wenn sein Vater dann mal Zeit gehabt hatte mitzukommen, war das immer eine große Freude gewesen... Er hatte das völlig vergessen gehabt, hatte auch vergessen, dass es immer mal wieder Streit zwischen seinen Eltern deswegen gegeben hatte.

Das Schweigen zwischen seinen Eltern breitete sich aus und Jonas fragte sich beklommen, ob sie sich womöglich mit Blicken angifteten, vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, zu ihnen hinüber zu gehen und unbedarft nach Kleingeld zu fragen.

„Dann hat er es zwar auch nicht mit der Treue so genau genommen, aber war zumindest familienorientierter?", brach es in dem Moment aus seinem Vater heraus, es klang bitter. „Jedenfalls bist du konsequent in deinen Entschlüssen, das muss man schon sagen."

Wieder folgte ein langes Schweigen; Jonas, unfähig zu entscheiden, was er tun sollte, blieb schließlich einfach stehen und spielte nervös mit dem Geldschein in seiner Hand.

Seine Mutter seufzte hörbar, fuhr dann aber so leise fort, dass Jonas sich anstrengen musste, alles zu verstehen, was sie sagte.

„Ich weiß nicht, was Jonas dir genau erzählt hat, aber Jannik hatte nichts mit einer anderen. Jonas hat völlig falsche Schlüsse aus einem Foto gezogen."

Jonas riss die Augen auf, sein Mund öffnete sich, als wolle er einen Laut ausstoßen, doch er blieb stumm und reglos stehen und starrte nur mit einem leeren Blick auf die sichtbare, halb offenstehende Tür, überzeugt davon, dass er sich verhört haben musste.

„Wie – falsche Schlüsse aus einem Foto?"

Sein Vater wirkte auch nicht so, als hätte er alles verstanden. Die Einzelheiten der Beschattungssituation hatte Jonas ihm wohlweißlich verschwiegen, er war davon ausgegangen, dass sein Vater davon genauso wenig erbaut sein würde wie seine Mutter. Aber er begriff nicht, was an dem Foto misszuverstehen war, es war doch ein Fakt, dass sich Jannik mit dieser anderen Frau getroffen hatte. Als seine Mutter dann zur Erklärung ansetzte, war ihre Stimme emotionslos und flach.

„Jonas hatte seinen Freund offenbar damit beauftragt, Jannik zu beschatten. Und der hat dann ein Foto geknipst, als sich Jannik mit einer guten Bekannten getroffen hat. Das mir Jonas dann mit betrübtem Blick präsentiert hat und ohne genau drauf zu schauen, bin ich dann los, um Jannik die Hölle heiß zu machen..."

„Das kann ich mir vorstellen", murmelte sein Vater mittendrin, ohne ihre Redenfluss zu unterbrechen.

„...und habe dann erst gemerkt, dass es sich um Janniks Adoptivschwester, sozusagen, gehandelt hat", fuhr seine Mutter fort. Sie seufzte laut. „War wahrlich nicht der beste Moment meines Lebens..."

Jonas spürte, wie seine Wangen vor Hitze zu glühen begannen und hatte das Gefühl, jemand drücke ihm die Kehle zu, er bekam für einen Moment kaum Luft. Sie hat es die ganze Zeit gewusst und nichts gesagt!, rotierte es ohne Unterlass in seinem Kopf und in seinen Ohren begann es zu rauschen. Haltsuchend stützten sich seine Hände an der hinter ihm liegenden Wand ab, während die Erkenntnis in seine Gedanken sickerte, dass er Jannik zu Unrecht beschuldigt hatte. Wenn der nicht der Herzensbrecher war, für den Jonas ihn gehalten hatte und sein Vater längst eine andere liebte, was blieb dann noch von seinem Widerstand?

Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte er in den Flur hinein und fand keine Antwort auf die Frage, warum weder seine Mutter noch Jannik ihm etwas davon gesagt hatten, dass alles ganz anders war, als er gedacht hatte!

Ohne dass Jonas es bemerkt hatte, hatten seine Eltern inzwischen ihr Gespräch fortgesetzt.

„...weiß es nicht." Bea klang auf einmal sehr müde. „Aber mit einem Sohn, der so absolut und total gegen Mamas Freund ist und anscheinend vor keinem Mittel zurückschreckt, schien es nicht mehr sinnvoll, darum zu kämpfen. Und jetzt, wo man nicht genau weiß, was mit Hannah wird..."

Ihr plötzlicher Tränenausbruch hallte in dem stillen Flur umso lauter wieder, für einen kurzen Moment war die Hand seines Vaters zu sehen, bis schließlich die Tür mit Schwung zuknallte und der Nachhall des Klangs langsam im Flur verebbte.

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