Kapitel 82
Jonas war genervt. Dauernd wollte sie einen auf Familie machen, einen Ausflug, ein Spiel spielen, Filme gucken, obwohl sie sah, dass er mit seinem Handy beschäftigt war oder in eines seiner Spiele vertieft war. Er hatte es sich in seinem Zimmer auf dem Bett gemütlich gemacht und runzelte die Stirn. Einen missbilligenden Blick hatte sie ihm zugeworfen, als er statt wie geplant mit ihr und Hannah Kekse zu backen seine Kumpels bei ihm auftauchten, um gemeinsam Counterstrike zu spielen. Dabei wusste sie noch nicht einmal, um welches Spiel es sich handelte, denn das hätte sie garantiert verboten, es war erst ab sechzehn. Jonas fand jedoch, dass sie froh sein konnte, dass er nicht allein vor dem Computer saß.
Hannah war ein ebensolcher Familienmensch, was ihm dann einen vorwurfsvollen Blick von beiden einbrachte, wenn er sich wiederholt weigerte, sich ihnen anzuschließen. Außerdem wollte Hannah dauernd Tiktoks mit ihm machen, was etwas war, worüber er nur die Augen verdrehen konnte. Ernsthaft, was fanden sie und ihre Freundinnen bloß daran, alberne Verrenkungen zu einem kurzen Musikausschnitt zu machen?
Wieso konnte es nicht so sein wie bei Pawel, seine Eltern ließen ihn in Ruhe – jedenfalls solange er nicht zu sehr über die Stränge schlug – und seine große Schwester wohnte nicht mehr zu Hause. Jonas' Finger flogen über die Tasten und seine Augen scannten in der Manier eines geübten Lesers die neuen, interessanten Bilder, die ihm Instagram anbot.
Nach einem Weilchen begann er sich auf Facebook einzuloggen, aber bei seiner Mutter war nichts Spannendes zu sehen, nur hin und wieder ein Foto von ihr und Andrea mit allen drei Mädchen von den letzten beiden Ausflügen, mit denen sie ihn zum Glück verschont hatte. Und das Foto von ihnen dreien im Spaßbad, das er freigegeben hatte. Für einen Moment verharrte er darauf, ein Lächeln im Gesicht, denn er musste zugeben, dass er diesen Tag im Schwimmbad genossen hatte.
Aus reiner Neugier klickte er außerdem auf Janniks Account, doch die Preisgabe dessen letzter Wochen war im Grunde genommen unspektakulär, denn neben Bildern und Kommentaren, die sich vor allem um Berlin drehten, zeigten einige wenige Partyschnappschüsse lediglich Jannik selbst und ein paar weitere Typen. Überrascht und ein wenig gelangweilt schloss er facebook wieder; er war davon ausgegangen, erneut irgendwelche heißen Bräute auftauchen zu sehen.
War es nur das Aussehen, das einen bei Frauen landen ließ? Oder ein dicker Geldbeutel? Frustriert blickte er an sich hinunter, mit beidem konnte er kaum aufwarten. Wenn er doch bloß einen geilen Job später bekäme, sinnierte er und sah sich vor seinem inneren Auge umringt von knapp bekleideten Frauen, während er unglaublich cool an einem 911 Carrera Porsche-Cabriolet lehnte.
Das Bett knarrte leise, als er seine Position ein wenig änderte und mit einem Klick stellte er seine Musik auf volle Dröhnung und malte sich in seiner Fantasie aus, wie die Frauen ihn anschmachten würden... Ein Weilchen später klopfte es von unten kräftig gegen den Fußboden und einem Automatismus gleich stürzte seine Mutter Sekunden später in sein Zimmer, mit zornig zusammengezogenen Augenbrauen fuhr sie ihn an:
„Jonas, mach sofort die Musik leiser, wir haben Nachbarn!"
Unsanft aus seinen Tagträumen gerissen verdrehte er die Augen und bedauerte, seine Tür nicht abgeschlossen zu haben. Musste sie einfach so reinplatzen?
„Mann, man muss auch mal leben, was kann ich dafür, wenn die Olle nichts zu tun hat außer ständig zu meckern!", reagierte er gereizt und fuhr die Musik ein wenig herunter.
„Auch mir ist deine Musik zu laut", konkretisierte seine Mutter verärgert, „Ich höre sie bis ins Wohnzimmer."
Ohne nachzudenken sprach Jonas den Gedanken aus, der ihm spontan in den Sinn kam.
„Mensch, musst du ständig an mir rumnörgeln? Kannst du nicht mal woanders sein als immer zu Hause?"
Der Blick, den ihm seine Mutter daraufhin zuwarf, war fast mörderisch zu nennen, sie starrte ihn an mit Augen, die Blitze auf ihn zu werfen schienen, die Augenbrauen waren in einem V über der Nasenwurzel zusammen gezogen und das Kinn energisch nach vorn geschoben. Für einen kurzen Augenblick schrak Jonas ein wenig zusammen und vergaß, was er noch hatte sagen wollen. Er begriff nicht, was plötzlich mit seiner Mutter los war, so hatte er sie noch nie erlebt. Der weiblichen Biologie gegenüber unkundig tippte er auf beginnende Wechseljahre.
„Hast du nicht effektiv dafür gesorgt, dass ich wieder dauernd zu Hause bin?!", fauchte seine Mutter dann und sah nicht so aus, als würde sie sich sobald wieder beruhigen.
Diese Anschuldigung konnte Jonas nicht auf sich sitzen lassen, er richtete sich aus seiner liegenden Haltung auf, verschränkte die Arme vor der Brust und kommentierte daher bemüht ruhig:
„Ich nicht, sondern dein Ex."
Irgendwie war es schon fast wieder interessant, seine Mutter so aufgebracht zu erleben. Sie holte jetzt tief Luft, kämpfte entweder um Souveränität oder war kurz davor, eine Schimpftirade loszulassen. Jonas kam ihr zuvor.
„Lass deine Wut über deinen Ex bitte nicht an mir aus", forderte er betont höflich, allerdings vergeblich, in sehr untypischer Art fuhr sie ihm über den Mund:
„Du hast keine Ahnung, wovon du redest, halt einfach die Klappe!"
Beleidigt presste Jonas die Lippen zusammen und hielt sich mühsam zurück, obwohl er hätte explodieren können, er fühlte sich in diesen Momenten deutlich erwachsener als sie. Wieso musste er es ausbaden, wenn sie an den falschen Typ geriet, zürnte er im Stillen und ballte die Hände zu Fäusten. Hätte sie nicht einfach früher auf ihn hören können?
Pawels Prognose, dass nach zwei Wochen Liebeskummer alles vorbei sein würde, hatte sich als totale Fehleinschätzung erwiesen. Jonas' schlechtes Gewissen hatte ihn die folgenden Tage dazu gebracht, ungewöhnlich aufmerksam und hilfsbereit zu sein, wenngleich er nicht sicher war, ob seine Mutter das überhaupt wahrgenommen hatte, denn sie hatte nie darauf reagiert.
Inzwischen hatte seine Mutter zumindest nicht mehr verheulte Augen, doch war sie deutlich wortkarger geworden, jedenfalls ihm gegenüber, starrte manchmal minutenlang ins Leere, hörte traurige Musik und hing wahnsinnig viel vor dem Fernseher. Einmal hatte er darauf hingewiesen, dass das mit dem Fernseher genau so war wie bei ihm mit dem Handy, das sie immer kritisierte, aber nur einen bösen Blick geerntet.
Ab und an war sie ihm gegenüber von einer Reserviertheit, die ungewohnt war, weil er es nicht von ihr kannte, aber er wusste es besser als sie danach zu fragen – schon in der Geschichte waren es oft die Überbringer schlechter Botschaften, die darunter zu leiden hatten, das hatten sie gerade erst kürzlich im Geschichtsunterricht über das antike Rom gehabt. Er trug es mit Fassung, wartete darauf, dass sie endlich über Jannik hinweg kommen würde und wunderte sich nur über die schwer zu deutenden Blicke, die sie ihm so von der Seite zuwarf, wenn sie dachte, er merke es nicht. Jetzt jedenfalls hatte sie wortlos sein Zimmer verlassen, so dass Jonas erleichtert ausatmen konnte.
Irgendwie hatte er neuerdings auch mit Hannah öfters Streit, er wusste gar nicht warum. Sie war manches Mal ungemein nervig, oft aber auch total süß und schaute zu ihm auf, da fühlte es sich klasse an, großer Bruder zu sein. Doch das war jetzt schon lange nicht mehr gewesen, im Gegenteil, neulich hatte sie ihm doch tatsächlich vorgeworfen, er sei Schuld daran, dass Jannik nicht mehr käme. Er hatte versucht ihr zu erklären, was vorgefallen war, doch ärgerlicherweise hatte Hannah sofort widersprochen:
„Mama hat gesagt, ich soll dir nicht alles glauben."
Was sollte das jetzt?!, war es ihm durch den Kopf gefahren und kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, Hannah das von dem Foto zu erzählen. Wegen seines schlechten Gewissens hatte er es dann doch dabei belassen, sie stattdessen von oben herab, totale Gleichgültigkeit ausstrahlend, zu fragen:
„Und – was hat sie stattdessen gesagt?"
„Dass sie auseinander sind, weil sie nicht zusammen passen."
„Das hätte ich dir auch von Anfang an sagen können", hatte er erwidert, die Augen verdreht und beinahe gelacht. Und dann, um sie ein wenig zu ärgern, noch hinzugefügt:
„Mama wollte dich doch nur schonen, weil du so vernarrt in Jannik warst und hat dir deshalb den wahren Grund verschwiegen."
Hannah hatte die Lippen geschürzt, wie sie es immer tat, wenn ihr nicht passte, was jemand sagte, sie aber keine Erwiderung parat hatte, und war dann ohne ein weiteres Wort zu sagen abgedreht und in ihr Zimmer gegangen.
Jonas entknotete seine Beine und legte sich wieder auf sein Bett, aber die entspannte Atmosphäre von vorhin stellte sich nicht mehr ein, denn auch sein Vater hatte ihm Anlass gegeben, sich zu ärgern. Trotz seines Versprechens von einem längeren Weihnachtsurlaub war er bereits gestern Nachmittag schon wieder abgereist, obwohl ja heute noch Feiertag war, umrahmt von der lächerlichen Ausrede, er müsse noch etwas für seine Geschäftsreise am 27. Dezember vorbereiten.
Jonas hatte ihm kein Wort geglaubt, er war mehr als sauer und enttäuscht gewesen, weil sich die schöne Vorstellung, seine Eltern würden sich anlässlich des friedlichen Festes wieder näher kommen, in Luft aufgelöst hatte – es war das erste gemeinsame Heiligabend seit mehreren Jahren gewesen, bisher hatten Hannah und er den ersten Weihnachtstag immer mit ihm und den Norderstedter Großeltern verbracht, wohingegen Heiligabend ihnen dreien vorbehalten gewesen war. Dieses Jahr jedoch waren die Großeltern in den Urlaub gefahren.
Mit einem Stirnrunzeln starrte er an die Decke und hatte das dumme Gefühl, dass das Leben immer schwerer wurde, je älter er wurde. Irgendwie war früher alles leichter gewesen als er kleiner war und das nicht nur, weil sie noch eine Familie gewesen waren, dachte er entmutigt. Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, manchmal noch mal klein sein zu wollen und andererseits erwachsene Verantwortung zu tragen fühlte er sich wie ein Blatt, das im Sturm des Lebens mal in die eine, mal in die andere Richtung gewirbelt wurde. Und so manches Mal wünschte er sich, jemand würde ihm den genauen Weg weisen – nicht, dass er das jemals zugeben würde...
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