Kapitel 81
Langsam rollte Jannik die Straße entlang, die bis auf parkende Autos zwar leer war, aber sich durch die funkelnde Weihnachtsbeleuchtung an den Wohnungsfenstern heimelig und friedlich präsentierte. Ein günstiges Schicksal sorgte dafür, dass just in diesem Moment eines der Autos seinen Parkplatz verließ und Jannik nicht zögern ließ, diese Chance sofort zu nutzen. Mit dem bis zum Anschlag herumgedrehten Zündschlüssel erstarb unweigerlich die Musik, aber er verzichtete darauf, sie wieder anzumachen, sah stattdessen aus dem Fenster hinüber zur anderen Straßenseite.
Um ihr Küchenfenster herum glitzerte es weihnachtlich und in ihrem Schlafzimmer sorgte ein Kerzenbogen für die diesen Monat angemessene Stimmung. Ob sie zu Hause waren? Oder bei ihren Eltern feierten? Vor nicht allzu langer Zeit war er noch davon ausgegangen, dass sie gemeinsam Heiligabend verbringen würden, doch soweit, konkrete Pläne zu machen, waren sie nie gekommen.
Jannik hielt den Blick unverwandt auf die Fenster ihrer Wohnung gerichtet und presste die Kiefer aufeinander. Es war alles so anders gekommen. In einem kurzen Moment hatte sich das Glück um hundertachtzig Grad gedreht und ihn vom siebten Himmel in eine Art Einsamkeit befördert, die er bislang noch nicht erlebt hatte. Er hatte versucht, an sein früheres Leben vor Bea anzuknüpfen und er hatte keinen Mangel an Leuten, die das Partyleben ebenso liebten wie er. In diesen Stunden konnte er seinen Kummer vergessen, konnte die Momente auskosten, die die Endorphine in schwindelerregende Höhen trieben, als gäbe es kein Morgen.
Nur um im Alltag immer wieder erneut zu spüren, dass es nicht reichte, mit seinem Mitbewohner herumzublödeln oder zu fachsimpeln, vor dem Computer zu hängen, für die Antifa aktiv zu werden oder an der Spree entlang zu joggen. Beas Präsenz fehlte ihm - der Austausch von Banalitäten im Alltag, das Teilen ihrer Interessen, ihre Liebe, die in vielen Gesten und Handlungen zum Ausdruck kam, ja selbst die Auseinandersetzungen, wenn ihre Temperamente aufeinander krachten und die anschließende Versöhnung...
Es schien ihm jetzt unbegreiflich, dass er sich früher mit einem beziehungsarmen Leben zufrieden gegeben hatte.
Nicht ein Wort, nicht eine Silbe hatte er in den letzten Wochen von Bea gehört und deshalb resigniert begriffen, dass er seinen Traum, Bea würde ihn anrufen und mitteilen, dass sich die Probleme mit Jonas in Luft aufgelöst hätten, begraben konnte. Auch lediglich ein Anruf von ihr, in dem sie vorschlagen würde, dass sie gemeinsam die Probleme mit ihrem Sohn lösen würden, und der ihm immerhin signalisieren würde, dass er ihr wichtig war, wäre ihm mehr als recht gewesen.
Aber dass sie sich nicht wieder bei ihm gemeldet hatte, konnte Janniks Ansicht nach nur bedeuten, dass Bea entweder nicht genug an ihm lag oder dass sie aufgrund des Verhaltens ihres Sohnes keine Chance für ihre Beziehung sah. Daher erübrigte sich auch eine Kontaktaufnahme seinerseits, ein Gedanke, den er zunehmend öfter in Erwägung gezogen hatte, zumal er derjenige war, der sich einem klärenden Gespräch entzogen hatte.
Doch Scham über sein Verhalten, das auch nach seiner eigenen Wahrnehmung rückblickend eine bescheuerte Kurzschlussreaktion gewesen war – warum hatte er bloß nicht noch einmal mit Bea geredet, bevor er den Job in Berlin annahm – und die Angst vor ihrer Zurückweisung hielten ihn jedes Mal davon ab, sich selbst wieder bei Bea zu melden.
Mit den Händen massierte er seinen Nacken, dem das lange Starren nach oben nicht gut getan hatte, und sah auf die Uhrzeit. Es war kurz vor 16.oo Uhr und die gleich darauf einsetzenden Kirchenglocken erinnerten ihn an die unzähligen Weihnachtsgottesdienste, die immer an Heiligabend stattfanden. Womöglich waren sie dort und würden sich gleich auf den Heimweg begeben? Hatte Hannah nicht erzählt gehabt, dass sie einen der Engel dieses Jahr verkörpern durfte?
Es war mittlerweile empfindlich kalt im Auto geworden und Jannik rieb seine Hände, um sie zu wärmen. Desinteressiert flog sein Blick über das Innere des Wagens, den er sich teils aus Gleichgültigkeit, teils aus dem Bedürfnis heraus, im Job mobiler sein zu können, zugelegt hatte. Wie überrascht Bea wäre, fuhr es ihm unweigerlich durch den Kopf. Aber eigentlich kennzeichnete dieser Erwerb nur, wie sehr sich alles geändert hatte: neues Leben, neue Stadt, neuer Job, neues Auto.
Seine Augen glitten aufmerksam die Straße entlang in der Hoffnung, möglicherweise einen kurzen Blick auf Bea und auch Hannah zu erhaschen, einfach um zu sehen, dass es ihnen gut ginge, doch die Straße glänzte weiterhin mit Leere, die Bewohner der Gegend schienen es vorgezogen zu haben, entweder bereits Bescherung zu feiern oder sie noch vorzubereiten.
Jannik seufzte laut bei dem Gedanken, dass ihn in Kürze das Weihnachtsessen mit seinen Eltern erwartete. Sie würden mit Sicherheit wieder auf seine beruflichen Pläne zu sprechen kommen, was unweigerlich erneut zu Diskussion führen würde. Mit Beginn seines Jobs im Januar würde er endlich finanziell unabhängig sein und dann konnte er diese unnötigen Treffen ausschlagen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Der einzige Lichtblick heute stellte das anschließend geplante Treffen mit Luis und Tobias am Abend dar.
Erneut sah Jannik zu den Fenstern hoch, irgendwie unwillig, die eventuelle Nähe zu Bea gleich wieder zu vergrößern zu müssen, aber nicht eine einzige Bewegung an den Fenstern kündete davon, dass sie zu Hause war, obgleich natürlich die Möglichkeit bestand, dass sich alle im Wohnzimmer aufhielten, das in Richtung Parkanlage hinaus ging. Unruhig trommelten seine Finger auf dem Lenkrad herum und sein Atem kondensierte in der kühlen Luft.
Er hatte nicht geplant gehabt, hierher zu fahren, es war eine impulsive Entscheidung gewesen, doch langsam begann er sich zu fragen, ob das ein Fehler gewesen war. Hier vor ihrem Haus zu stehen hatte etwas ungemein Deprimierendes an sich und verstärkte nur das Gefühl des Verlusts.
„Warum, Bea, warum?"
Er flüsterte es, obwohl niemand da war, der ihn hätte hören können. Wieso war es bloß so weit gekommen? Mit dem Gefühl unermesslicher Verzweiflung ließ er seinen Kopf auf das Lenkrad sinken und schloss die Augen, um die Tränen zurück zu halten, die warm aus seinen Augen hervorquollen. Seine Hände krallten sich um seine Knie. Dann schluckte er schwer in dem Bemühen, seiner Gefühle wieder Herr zu werden, und richtete sich fast gewaltsam wieder auf. Zwei Mal ließ er vergeblich den Motor an, bevor dieser endlich fasste, und mit noch einem leichten Tränenschleier vor Augen rollte er langsam aus der Parklücke.
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