Kapitel 79

Es war wieder ein Abend wie die vorherigen auch, an dem Bea im Wohnzimmer saß und unkonzentriert auf den Bildschirm ihres Fernsehers starrte, während ihr die genauen Einzelheiten eines Krimis, der irgendwie in einem kleinen Bergdorf in den Alpen spielte, längst entgangen waren. Es war unmöglich, Jannik aus ihren Gedanken zu vertreiben, so sehr Bea es auch versuchte. Jeder Abend, nachdem die Kinder im Bett waren, erinnerte sie daran, dass sie unter der Woche entweder telefoniert oder gechattet hatten.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Der Esstisch, an dem sie manches Mal zusammen mit Hannah sonntags gefrühstückt hatten, warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, der Platz auf dem Sofa, auf dem er immer gesessen hatte, wartete mit deprimierender Leere auf. Das Leben hatte jede Fröhlichkeit verloren, zwar lachte Bea pflichtschuldig, wenn die Kinder herumalberten, war jedoch mit dem Herzen nicht dabei und haderte mit dem Schicksal, das sie erneut an den Falschen hatte geraten lassen.

An den Wochenenden war es am Schlimmsten, wenn selbst die Arbeit fehlte, die ihr sonst Ablenkung bot; sie stürzte sich in Aktivitäten mit den Kindern, soweit das möglich war, und versuchte, sich viel mit Freundinnen zu verabreden, doch im Hintergrund lauerte stets die Erinnerung an Janniks Lachen und die schönen Alltagsmomente mit ihm.

Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass Jannik einfach fortgefahren war, ohne ihr noch ein paar persönliche Worte zu gönnen. Natürlich verstand sie seinen Ärger über Jonas' unmögliche Aktion, denn was Jonas sich geleistet hatte, ging wirklich gar nicht und sie musste mit ihrem Sohn unbedingt noch darüber reden.

Andererseits würde es nichts mehr daran ändern, was anschließend passiert war. Jannik war nun fort und hatte in so einer distanziertenArt Schluss gemacht, wie sie es zwischen ihnen beiden nie für möglich gehalten hätte. Monatelang waren sie ein Paar gewesen, doch hier behandelte er sie, als wäre sie eine seiner früheren One-Night-Stands.

Es tat verdammt weh und die vergangenen Wochen hatten nichts getan, ihren Schmerz zu lindern. In schlechten Momenten untergrub es ihr Selbstbewusstsein, wenn sie sich gekränkt fragte, ob sie ihm so wenig wert gewesen war. Sie griff sich ein Sofakissen und schleuderte es verzweifelt auf den Boden, aber das Gefühl, einer Entscheidung ausgeliefert zu sein, bei der ihr die Mitsprache vorenthalten worden war, ließ sich nicht vertreiben.

War es Thorsten damals so gegangen, als sie ihn rausgeschmissen hatte und nicht bereit gewesen war, seine Entschuldigungen anzuhören? War sie damit letzten Endes Schuld gewesen, dass ihre Ehe auseinander gegangen war? So wie sie jetzt Schuld daran war, dass Jannik das Weite gesucht hatte?

Bea biss sich auf die Lippen und verbat sich die Selbstgeißelung – sie hatte bei Thorsten gute Gründe gehabt und dafür, dass Jannik ihr anscheinend übel nahm, dass sie ihren Sohn verteidigt hatte, konnte sie nichts. Vielleicht sollte sie stattdessen lieber froh darüber sein, dass jemand, der die Beziehung zwischen Müttern und Kindern nicht verstand, nicht verstehen konnte, nicht mehr Teil ihres Lebens war.

Dennoch ging dieser Aspekt unter in den vielen anderen Seiten, die sie an Jannik so liebgewonnen hatte, sein Humor und Optimismus, ihre gemeinsamen politischen und philosophischen Diskussionen, sein savoir vivre, seine Zärtlichkeit... und die sie alle schmerzlich vermisste. Vielleicht hatte sie einen Fehler gemacht, als sie sich mehr darauf konzentriert hatte, wie es Jonas ging, statt daran zu denken, wie ihr Verhalten auf Jannik wirken musste...

Düster starrte sie hinaus in die Novemberdunkelheit hinter den Fenstern, die ihre niedergedrückte Stimmung noch verstärkte, während im Fernsehen längst der Abspann des Films zu hören war.

Gerade heute war alles wieder sehr präsent gewesen, als Tobias vorbei gekommen war, um ihr ihre Sachen zu bringen, die sich noch bei Jannik befunden hatten. Luis und Tobias würden in zwei Wochen einen neuen Mitbewohner bekommen und mehr brauchte es nicht, um Bea deutlich zu machen, dass Jannik nicht vor hatte, nach Hamburg zurück zu kehren.

Wieso, verdammt, hatte er einfach die Flinte ins Korn geschmissen? Ja gut, Jonas war ständig überaus unverschämt gewesen, aber irgendwie hatte sie den Eindruck gehabt, dass Jannik dies an sich hatte abprallen lassen...

Da Tobias sich angekündigt hatte, war Bea über das Klingeln nicht überrascht gewesen, sie hatte sich gerade im Bad befunden und hatte daher Hannah zum Öffnen geschickt. Durch die Tür hindurch hatte sie Tobias' Zögern vernehmen können, nachdem Hannah ihm die Tür aufgemacht hatte.

„Ähm... wohnt hier eine Bea Lichtenfeld?"

„Ja, das ist meine Mutter."

Bea hatte anschließend unbemerkt den Flur betreten und Tobias überraschten Blick gesehen, als er Hannah in Augenschein nahm, während er freundlich fragte:

„Ich habe hier noch Sachen für sie. Kann ich die Tüte hier hin stellen?"

„Mama?"

Hannah hatte ihr Kommen bemerkt und sich zu ihr hingedreht, woraufhin auch Tobias auf sie aufmerksam geworden war. Verhalten hatte er ihr zugelächelt.

„Hi Bea."

„Hallo Tobias."

Die Erinnerung, wie sie alle zusammen regelmäßig auf dem Kiez gefeiert hatten, war schwer zu ertragen gewesen, aber Bea hatte sich nichts anmerken lassen, sondern sich nur freundlich für das Vorbeibringen ihrer Sachen bedankt. Mit einem raschen Seitenblick auf Hannah hatte sich Tobias leise erkundigt:

„War sie der Grund, dass ihr euch getrennt habt?"

„Nichts, was man nicht mit etwas gutem Willen hinbekommen hätte", hatte Bea gekontert und hätte leicht verärgert am liebsten darauf hingewiesen, dass es sich nicht um eine gemeinschaftliche Entscheidung gehandelt hatte, sondern dass Jannik einfach gegangen war, als es schwierig wurde – allein die Tatsache, dass Hannah noch immer im Flur stand, hielt sie davon ab.

„Na ja, er hat nie verheimlicht, dass er kein Familienmensch ist", hatte Tobias unbefangen kommentiert, ohne sich darum zu kümmern, dass Hannah ihnen zuhörte.

Bea verzog wieder das Gesicht, als sie an dieses Gespräch dachte. Zwar hatte sie es anschließend Hannah gegenüber abgestritten, dass Jonas und sie der Grund dafür waren, dass Jannik aus ihrem Leben verschwunden war, aber im Stillen hatte sie begonnen sich zu fragen, was es zu bedeuten hatte, dass Jannik seinen Mitbewohnern Hannah und Jonas verschwiegen hatte.

Er schien zumindest Hannah doch gemocht zu haben... und war in ihrem Beisein weit mehr Familienmensch gewesen, als nach seinem anfänglichen Zögern zu erwarten gewesen war. War er ihrer Tochter und ihr gegenüber unaufrichtig gewesen? Oder seinen Mitbewohnern gegenüber?

Hannah hatte sich an sie geschmiegt, nachdem Tobias gegangen war, schließlich nachdenklich zu ihr hochgeguckt und hatte ihr dann leise zugeflüstert:

„Jonas sagt, Jannik war bei einer anderen Frau..."

Diese Aussage hatte Bea unweigerlich einen Stich versetzt, aber mit mühsam kaschierter Emotion hatte sie nur gelassen erwidert, dass Hannah ihrem Bruder nicht immer jedes einzelne Wort glauben solle. Zu ihrer Überraschung hatte sie festgestellt, dass es ihr trotz allem nicht egal war, wie Jannik in den Augen ihrer Tochter erschien, und möglichst glaubwürdig hatte sie dann begründet:

„Wir hatten in einem wichtigen Punkt verschiedene Ansichten, und deshalb konnte es nicht weiter gehen." Hannah hatte leise geseufzt, sich noch einmal an sie gekuschelt, es aber fraglos akzeptiert.

Auch Bea seufzte nun, erhob sich und ging in die Küche, um sich mit einem späten Snack zu versorgen. Sie wusste, dass auch Hannah Jannik vermisste, merkte es an ihren nebenbei geäußerten Kommentaren wie „Mit Jannik hatte ich..." oder „Weißt du noch, als Jannik...", ohne dass ihre Tochter ansonsten konkret wurde. Jannik hatte schnell ihr Herz erobert gehabt und er war nun der Zweite, der auch aus ihrem Leben verschwunden war.

Neben der großen Leere, die Bea in sich spürte, war ein Großteil ihrer Wut inzwischen verraucht – und wenn sie darüber nachdachte, war sie sich längst nicht mehr darüber im Klaren, auf wen sie ihre Wut hätte richten sollen – auf sich selbst, auf Jannik, auf Jonas?

Jonas hatte sich später bedrückt dafür entschuldigt, dass er für dieses Foto gesorgt hatte und glaubhaft versichert, dass es ihm für seine Mutter mega leid täte, dass sich Jannik als so ein Arsch herausgestellt hatte. Obwohl Bea wusste, dass es absolut notwendig war, mit Jonas ein ernstes Gespräch zuführen, hatte sie es nicht über das Herz gebracht, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren: dass nicht Janniks angebliches Fremdgehen der Grund ihrer Trennung gewesen war, sondern die Unmöglichkeit, eine Beziehung zu führen, bei der ein Familienmitglied alles daran setzte, diese zu torpedieren.

Jonas' Verhalten war absolut indiskutabel. Aber im Moment war sie noch nicht in der Verfassung dafür, mit Jonas in Ruhe zu reden. Außerdem würde es ohnehin nichts mehr ändern und nichts mehr ungeschehen machen. Jannik wohnte nun Hunderte von Kilometern entfernt und hatte durch seine unvermittelte Entscheidung ja klar gemacht, dass seine früheren Worte nur Schall und Rauch gewesen waren...

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