Kapitel 77

Hallo Bea, wenn du das liest, bin ich bereits auf dem Weg nach Berlin, habe den Job dort angenommen. Es passt wohl nicht mit uns. Sorry.
Jan

Ein fassungsloses „Das kann er doch nicht machen" war Beas erste Reaktion, gefolgt von mehreren Minuten stummen Starrens auf die Nachricht, die sie soeben auf ihrem Handy erhalten hatte und die sie zu sehr schockierte, um mehr zu tun als die dürren Sätze wieder und wieder zu lesen. Die ganze Zeit hatte sie gehofft, dass Jannik sich melden würde, dass er begreifen würde, dass sie doch nicht anders handeln konnte und dass sie die Möglichkeit haben würden, noch einmal über alles in Ruhe zu sprechen, hatte auch selbst schon mit dem Gedanken gespielt, den ersten Schritt zu tun. Beim Eingang einer Nachricht von ihm hatte sich sofort ihr Puls beschleunigt – doch auf diesen Inhalt hätte Bea getrost verzichten können.

Unkontrolliert begann ihre Hand zu zittern und schnell legte sie das Handy vor sich ab, gleichzeitig spürte sie Tränen in sich aufsteigen. Rasch stand sie auf und schloss die Tür zum Flur, dann drehte sie sich zum Fenster. Es passt wohl nicht mit uns, hämmerte es in ihrem Kopf und ihre Brust wurde eng, so dass sie das Gefühl hatte, nicht mehr genug Luft zu bekommen. Jannik hatte endgültig und final Schluss gemacht, ohne dass er ihr noch Gelegenheit zur Aussprache eingeräumt hatte!

Offenbar waren seine Worte im Urlaub nur hohles Gerede gewesen, dachte Bea niedergeschmettert, ansonsten hätte er doch wohl noch ein Gespräch gesucht. Wie konnte er tagelang schweigen und sich nun einfach nach Berlin absetzen?

Sie versuchte, den Zorn heraufzubeschwören, den sie verspürt hatte, als sie dachte, er hätte etwas mit einer anderen, doch alles, was passierte, war ein krampfhaftes Einatmen und dann wurde sie von Schluchzern geschüttelt, denen es ihr nicht gelang Einhalt zu gebieten. Ihre Schultern bebten, während sie verzweifelt versuchte, ihrer Emotionen Herr zu werden, und kraftlos lehnte sie die Stirn gegen die Fensterscheibe, deren Kühle sie einen Moment lang als angenehm empfand, ihr Blick ging durch einen Schleier von Tränen hindurch ins Leere.

Sie verlor jegliches Zeitgefühl, realisierte nur nebenbei die Wiederaufnahme der Bauarbeiten im Neubau gegenüber, dessen Dröhnen der Pressluftmaschine sich in ihren Kopf fraß wie ein körperlicher Schmerz. Ein Klopfen an der Tür ließ Bea schließlich zusammenzucken, hastig wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen, drehte sich um und hoffte gegen alle Vernunft, man würde ihr ihren aufgelösten Zustand nicht ansehen.

„Herein."

Sie registrierte erleichtert, dass ihre Stimme fest wie immer klang und war fast dankbar über die neue Anfrage eines Kollegen, die Ablenkung versprach.

„Hier, der Transport geht nach Kasachstan, auf Gefahr unseres Kunden. Das können wir doch dann problemlos versichern, oder?"

Sven wedelte mit dem Ausdruck einer E-Mail-Korrespondenz und sah sie hoffnungsvoll an, doch nur einen Moment später ließ er verlegen die Hand sinken und wandte den Blick ab. Bea merkte es nicht, sie bemühte sich, seine Frage still zu wiederholen, um ihre Gedanken auf das vorgebrachte Thema zu fokussieren, in das ihr das Einfinden heute unglaublich schwer fiel.

Sven starrte angelegentlich auf seine Turnschuhe, deren angetrocknete Reste von einem matschigen Spaziergang zeugten, und mied ihren Blick, er war einer der letzten Neuzugänge im Büro und besaß nicht die Selbstsicherheit, Bea einfach zu fragen, was los wäre, ein Umstand, den sie aktuell zu schätzen wusste.

Sie erfasste schließlich das Problem, das ihr aus den schwarzen Zeilen entgegen sprang, und schüttelte bedauernd den Kopf.

„Leider ist das nicht so klar. Wir müssen gucken, was die Gesetzgebung in Kasachstan dazu sagt. Wo endet denn der Transport?"

„In Almaty."

Bea streckte auffordernd die Hand nach dem Papier aus versenkte sich in die Details, die aus dem Ausdruck hervor gingen, wonach der Transport in China starten sollte; damit gelang es ihr, die Gedanken an Jannik fürs Erste zu verdrängen.

„Wir haben die chinesische Firma versichert?"

Sven nickte und ließ sich in den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. Bea hatte inzwischen wieder auf ihrem Stuhl Platz genommen, öffnete eines ihrer Nachschlagewerke im Internet und studierte gewissenhaft die dort dargelegten Details, während Sven geduldig wartete. Schließlich schob sie den Stuhl zurück und beantwortete Sven fragenden Blick erneut mit einem Kopfschütteln.

„Geht tatsächlich nicht. Sieht man in Kasachstan als lokales Risiko an. Keine Chance, da muss sich der Empfänger selbst versichern."

„Mist!" Sven zog ärgerlich die Stirn in Falten. „Da wird sich der Kunde wieder freuen. Und ich muss es ausbaden."

Frustriert verließ er Beas Büro, wobei er in seinem Ärger vergaß, die Tür wieder zu schließen. Seufzend stand Bea auf und kümmerte sich selbst darum, dann lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür, die ihr in ihrer Stabilität irgendwie Halt vermittelte, und nahm einen tiefen Atemzug. Nicht zum ersten Mal war sie die Überbringerin schlechter Nachrichten, das brachte ihr Job so mit sich, aber nicht das war es, was ihr jetzt zu schaffen machte.

Sie weigerte sich wahr zu haben, was sie Schwarz auf Weiß auf ihrem Handy hatte lesen müssen. Mit hängenden Schultern und dem letzten bisschen Hoffnung, an das sie selbst kaum glaubte, ging sie zurück zu ihrem Schreibtisch, um Janniks Nachricht noch einmal genau zu lesen, vielleicht hatte sie ja irgendetwas falsch verstanden.

Doch der kurze Text war bar jeder Unklarheit, es gab kein Vertun, keine andere Interpretationsmöglichkeit. Mit einem kräftigen Plonk ließ Bea ihre Ellenbogen auf den Tisch fallen und den Kopf in die Hände, mühevoll hielt sie die Tränen zurück, die hinter den geschlossenen Augenlidern nur darauf warteten hervorzuschießen und sie jeder Nachdenkmöglichkeit zu berauben. Es musste einen Weg geben! So konnte es doch nicht enden!

Verzweifelt tippte sie eine Nachricht an Andrea, fuhr in aller Eile ihren Computer herunter und verließ geradezu fluchtartig das Büro, die verwunderten Blicke zweier Kollegen im Flur dabei absichtlich ignorierend. In ihrer aufgewühlten Stimmung wählte sie das Treppenhaus und war fast froh über den Lärm, den ihre Absätze in einem monotonen Stakkato auf den Stufen hinterließen. Unten angekommen sah sie ungeduldig auf das Display, das zu ihrer Erleichterung eine positive Antwort von Andrea präsentierte, die vorschlug, sich am Kuhmühlenteich zu treffen, in dessen Nähe sie wohnte.

Der Verkehr schien heute besonders zähflüssig zu fließen, mehrfach trommelten Beas Finger ungeduldig auf dem Lenkrad herum, bis sie den Wagen endlich auf einen Parkplatz in Mundsburg lenken konnte. Andrea erwartete sie schon und ohne etwas zu sagen schloss sie Bea in die Arme und hielt sie tröstend umfangen.

Froh über die Anwesenheit ihrer Freundin ließ Bea ihren Kummer freien Lauf, ihre Schultern bebten unter der emotionalen Wucht, mit der Janniks Entscheidung sie getroffen hatte, und sie verbarg ihr tränennasses Gesicht an Andreas Schulter, erleichtert darüber, für den Moment nichts anderes tun zu müssen als sich in ihrer Trauer fallen lassen zu können. Erschöpft und leergeweint trat sie anschließend einen Schritt zurück und trocknete sich mit dem Taschentuch, das sie dankbar von Andrea entgegen nahm, die feuchten Augen.

„So, nun erzähl mal in aller Ruhe", forderte Andrea sie auf und schob sie in Richtung Teich.

Wortlos präsentierte Bea ihr das Display, das Andrea im Gehen mit den Augen überflog, während sie leise die Luft durch die gerollten Lippen einzog, was sich in einem leisen Zischen äußerte.

„So ein verdammter Feigling!", fluchte Bea mit Inbrunst und starrte zornig auf die nackten Bäume, die sich bereits von ihrem Herbstlaub verabschiedet hatten. Die Trostlosigkeit, die von den dunklen Ästen ausging, empfand sie als ungemein passend zu ihrer Grundstimmung, wenngleich im Laufe der Autofahrt die verschiedensten Empfindungen auf sie eingeströmt waren und inzwischen einem gewissen Fatalismus Platz gemacht hatten.

„Es passt nicht mit uns? Fein, auf jemand mit so unreifem Benehmen lege ich ohnehin keinen Wert", presste sie wütend hervor und ballte die in der Jackentasche versenkten Hände zu Fäusten.

„Bea..." Andrea wollte etwas einwerfen, aber Bea ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Das hätte ich mir ja gleich denken können, dass so ein Jungspund kein Durchhaltevermögen hat! Beim ersten Problem kriegt er kalte Füße und sucht das Weite!"

Unwillkürlich beschleunigte sie die Schritte und folgte dem ausgetretenen Pfad durch die Bäume, so dass Andrea Mühe hatte, ihr zu folgen.

„Warum war ich bloß so blöd, mich auf ihn einzulassen!"

Zornig drehte sie sich zu Andrea um, weniger einen Kommentar auf ihre rhetorische Frage erwartend als mehr sicher stellend, die Aufmerksamkeit zu erzielen, nach der es sie verlangte. Andrea war weise genug zu erkennen, dass jeglicher Einwand von ihr bei Bea im Moment auf taube Ohren stoßen würde und versuchte daher gar nicht erst, ihre Freundin bei ihren wütenden Kommentaren zu unterbrechen, die sie zutreffend als ein Mittel für Bea begriff, ihren Kummer zu verbergen.

„Ich wusste es! Ich wusste es, dass es nur Unglück bringt, sich mit Männern einzulassen!"

Ein leichter Ton von Verzweiflung schob sich in die sarkastische Bemerkung, doch mit einer raschen Drehung wandte sich Bea um und steuerte den Teich an. Andrea schloss zu ihrer Freundin auf und dann blieben beide schweigend am Ufer des Teiches stehen. Aus der Ferne war das Krächzen einer einsamen Krähe zu vernehmen und kurz darauf drang das Dröhnen einer anfahrenden U-Bahn durch die Stille der kleinen Parkanlage. Ein paar einsame Enten wurden auf sie aufmerksam und schwammen hungrig näher, zogen aber alsbald wieder ab, als sie merkten, dass es bei den beiden Frauen nichts zu holen gab.

„Nun warte doch erst mal ab", versuchte Andrea die Wogen schließlich zu glätten, nachdem Bea mehrere Minuten mit leerem Blick auf das Wasser des Mühlenteiches gestarrt hatte, als hätte sich darunter all das verborgen, was ein schönes Leben ausmachte.

„Da gibt es nichts abzuwarten", fuhr Bea jedoch sofort wieder auf, „Er ist fort nach Berlin, final und endgültig, und von mir aus kann er da bleiben bis zum Nimmerleinstag!"

Es tat ihr gut, diese Wut auszuleben, obwohl es die Trauer nicht auflöste, die sie tief in ihr drin weiterhin spürte, doch Bea war entschlossen, dieser keinen Raum mehr zu geben.

Andrea ließ sich jedoch von Beas Rage nun nicht abhalten, beruhigend legte sie ihre Hand auf deren Schulter und schlug vernünftig vor:

„Lass ein, zwei Wochen ins Land gehen, vielleicht meldet er sich oder du versuchst, ihn zu erreichen... Berlin ist doch nicht aus der Welt."

„Einen Teufel werde ich tun!", unterbrach Bea, schüttelte vehement den Kopf und fügte in einem ihrem Alter unangemessenem Trotz hinzu:

„Wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will, dann streiche ich ihn eben auch aus meinem Leben!"

Sie richtete sich auf, straffte die Schultern und versuchte sich einzureden, dass es ihr gar nichts ausmache, ja, dass sie ohne ihn ohnehin besser dran wäre. Endlich wieder ein Leben, das in ruhigen Bahnen verlief, ohne dass sie auf mehreren Hochzeiten zugleich tanzen musste und sich dabei aufrieb, es allen recht zu machen. Ein Leben, wie sie es gewohnt gewesen war, bevor sie Jannik kennengelernt hatte, zufrieden und harmonisch und perfekt. Sie hatte sich und die Kinder und mehr brauchte es nicht zum Glücklichsein.

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