Kapitel 75
Während des gesamten Unterrichts verfolgten Jonas die rotgeweinten Augen seiner Mutter. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu überschminken, was dann wohl hieß, dass sie zu Hause bleiben würde. Abwesend und wortkarg hatte sie ihnen die Brote für die Schule geschmiert und selbst Hannah hatte kaum gewagt, sie anzusprechen.
„Was ist mit Mama?", hatte Hannah auf dem Weg zur Schule wissen wollen, worauf Jonas ihr die Wahrheit offenbarte, dass Jannik mit einer anderen Frau zusammen gewesen war, wozu Hanna schließlich entsetzt geschwiegen hatte, bis sie an der Bushaltestelle auf ihre Freundin getroffen waren, mit der sich Hannah dann an das andere Ende der Haltestelle verzogen hatte.
Jetzt saß Jonas im Matheunterricht von Herrn Meyer und kaute gedankenverloren auf seinem Bleistift herum. War es ein Fehler gewesen, seiner Mutter das Foto zu zeigen? Wenn er sich ihre gestrige Reaktion vor Augen rief, war klar, dass sie nicht im Geringsten mit so etwas gerechnet hatte – offenbar war etwas dran an dem Satz Liebe macht blind. So wenig überrascht Jonas selbst darüber war, Jannik bei einem Seitensprung ertappt zu haben und so sehr er es diesem auch gönnte, dass sein Doppelspiel nun aufgeflogen war, so sehr tat ihm andererseits seine Mutter leid und er haderte damit, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er den Mund gehalten hätte.
Andererseits, versuchte er sich zu beruhigen, würde seine Mutter umso länger leiden, je länger ihre Beziehung gedauert hätte. Genaugenommen wäre es sogar besser gewesen, wenn er bereits früher Janniks Lügen enthüllt hätte. Wieso hatte seiner Mutter aber auch nicht auf ihn hören wollen, als er versucht hatte, sie zu warnen?
Die jetzige Situation erinnerte ihn an die Zeit, an der er jünger gewesen war und seine Mutter seinen Vater aus der Wohnung geschmissen hatte. Dieser hatte sich ein ums andere Mal bei seiner Mutter für den Seitensprung entschuldigt, aber so sehr sie auch gelitten hatte, sie hatte die Trennung nicht zurückgenommen und die sich anschließende Scheidung durchgezogen.
Dabei hatten sie doch eigentlich gut zusammen gepasst! Es hatte niemals katastrophale Streitereien zwischen ihnen gegeben, jedenfalls nicht, solange sich Jonas erinnern konnte.
„Träumst du?"
Pawel stieß ihn mit dem Ellenbogen an und gehorsam sah Jonas wieder an die Tafel, die Herr Meyer inzwischen mit Formeln gefüllt hatte und mit einem erwartungsvollen Blick darauf wartete, dass einer seiner Schüler die gestellte Frage richtig beantwortete.
„Jonas, wie wäre es mit dir?", wandte sich Herr Meyer schließlich nach mehreren Sekunden Warterei, in der sich kein Freiwilliger meldete, an ihn. Jonas war normalerweise eine feste Bank, bei der sich der Lehrer mit einer Antwort rechnen konnte, doch dieses Mal schüttelte Jonas nur abwesend den Kopf, denn die Begrüßung des Lehrers vorhin war das Einzige, das er heute bewusst mitbekommen hatte.
Die Enttäuschung im Blick des Lehrers, bevor er dazu überging, die Antwort zu erläutern, prallte an Jonas ab, pflichtschuldig sah er an die Tafel, während er einen Bleistift durch seine Finger kreisen ließ und der Rest des Unterrichts weiter an ihm vorbei zog.
Der Gong der Pausenglocke kam wie eine Erlösung. Das Scharren von Stühlen und Rascheln von Papieren, die hastig verstaut wurden, kündete von der Unruhe einer Schulklasse, die es nicht erwarten konnte, ins Freie zu stürmen. Jonas griff sich seine Jacke und reihte sich in die Schlange derjenigen, die sich durch die Tür zwängten.
„Heh, Mann, was ist los?", fragte Pawel keuchend, nachdem er Jonas im Treppenhaus eingeholt hatte. Das Poltern unzähliger Schuhe auf den Treppen hallte durch den Flur, und ein kräftiger Windstoß drückte ein Fenster weit auf, das augenscheinlich zum Lüften offen gelassen worden war. Jonas und Pawel wichen geschmeidig aus und folgten einer Gruppe von kichernden Mädchen nach unten ins Erdgeschoss.
Da ihre beiden ebenfalls Fußball spielenden Mitschüler fehlten, schlenderten Jonas und Pawel direkt zur neben dem Pavillon gelegenen Rosenhecke hinüber, die jetzt im Spätherbst nur noch ein mickriges Bild der Pracht bot, die sie im Sommer an den Tag legte; mit der Fußspitze rührte Jonas auf dem Boden herum, bis sich der Sand in kleine Häufchen aufgeschichtet hatte.
„Du hast Herrn Meyer traurig gemacht", feixte Pawel in dem vergeblichen Versuch, die Stimmung aufzuheitern.
„Mir doch egal", knurrte Jonas und beobachtete die Vertiefung, die sein Fuß kreiert hatte. Mit den Schuldgefühlen, die ihn plagten, war er versucht, seiner Mutter eine Nachricht zu schicken und zu fragen, wie es ihr ging. Doch die Überlegung, dass es ihm nicht weiter hielfe, wenn sie nicht oder mit einem schlecht antworten würde, gekoppelt mit der Tatsache, dass die Handybenutzung in der Schule verboten war, ließ ihn wieder davon Abstand nehmen.
„Nun red schon! Kann man ja nicht ertragen, die Stimmung, die du verbreitest."
Pawels unstet hin und her fliegender Blick verbarg kaum dessen Ungeduld. Jonas sah auf seinen einen halben Kopf kleineren Kumpel hinunter, der beim Fußball seine geringe Körpergröße mit einer erstaunlichen Wieseligkeit im Sturm kompensierte, und zögerte. Aus der Nähe war das Lärmen und Kreischen ein paar jüngerer Schüler zu vernehmen.
„Dann halt nicht!", stöhnte Pawel genervt und stieß sich von der Hauswand ab, an die er sich gelehnt hatte.
„Hab's meiner Mutter gestern erzählt", brach es dann hastig aus Jonas heraus, den Blick auf Pawels Rücken gerichtet, der bereits im Aufbruch war.
Dieser blieb mitten in der Bewegung stehen, wandte Jonas aber weiter die Rückseite zu, was diesem das Weitersprechen ermöglichte.
„Der geht's richtig schlecht."
Langsam drehte Pawel sich um.
„Was hast du denn erwartet?"
Jonas zuckte mit den Schultern und blickte auf den staubtrockenen Boden zu seinen Füßen. Eine Assel fühlte sich von ihm bedroht, da er einen Stein beiseite geschoben hatte, und krabbelte eilig von dannen. Der fröhliche Lärm vom Pausenhof war unverändert hoch und erinnerte Jonas an sorglose Zeiten, an denen er sich nicht ständig über dieses und jenes hatte Gedanken machen müssen, und für einen Moment wünschte er sich, wieder zurück in der fünften Klasse zu sein, ohne die Probleme und Verantwortungen, die mit dem Älterwerden einher gingen, so wie seine beneidenswerte kleine Schwester.
„Natürlich ist sie traurig. Aber das wäre doch noch mehr geworden, wenn es noch später aufgeflogen wäre", drang Pawels Kommentar an sein Ohr und echote damit die Gedanken, die Jonas auch schon durch den Kopf gegangen waren.
„Jaaa..." bestätigte Jonas gedehnt, ohne dass es ihn beruhigte, denn letzten Endes war er es doch gewesen, der ihr die schlechte Botschaft übermittelt hatte. Im Prinzip wäre es besser gewesen, wenn sie es allein herausgefunden hätte, dachte er frustriert. Noch besser wäre es natürlich gewesen, wenn sie sich gar nicht erst mit diesem Jannik eingelassen hätte! Warum, warum, warum? Es war doch vorher alles gut gewesen wie es war!
„Die kommt schon wieder darüber hinweg. Meine große Schwester hat auch oft Liebeskummer und nach ein paar Tagen ist es dann vorbei", ließ sich nun Pawel gleichmütig vernehmen.
Jonas gab sich einen Ruck und richtete sich auf, Pawel hatte Recht, jetzt war es ohnehin nicht mehr zu ändern. Er beschloss, seiner Mutter nachher die Tafel Nussschokolade zu holen, die sie so gerne mochte, und in den nächsten Tagen ganz besonders lieb zu ihr zu sein. In diesem Moment klingelte es zur nächsten Stunde, was Jonas und Pawel ohne den geringsten Enthusiasmus den Weg zurück in den Klassenraum antreten ließ.
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Mit dem Gedanken bereits bei der neuen Strategie, die er bei Fortnite auszuprobieren gedachte - was ihn ein wenig von seinen Gedanken um seine Mutter und von seinem schlechten Gewissen ablenkte -, verließ Jonas den Bus an der Endstation. Ohne sich die Mühe zu machen, sein Handy in die Hosentasche zu stecken, überquerte er gedankenverloren die Kreuzung, bei der sich vor der Ampel auf der viel befahrenen Straße Auto an Auto reihte. Es roch heute besonders kräftig nach Abgasen und Jonas rümpfte unwillkürlich die Nase, bis er wieder den gegenüberliegenden Fußweg erreicht hatte.
Die Sonne glitt für einen Moment zwischen den Wolken hervor, ohne jedoch mehr als plötzliche Helligkeit zu vermitteln, es blieb weiterhin ungemütlich kühl. Jonas begegnete dem überraschenden Auftauchen des Himmelskörpers mit Missfallen, erschwerte er ihm doch den Blick auf das Display. Mit einem Stirnrunzeln fingerte er während des Gehens an seinem Mobiltelefon herum, um die Helligkeit zu justieren.
Als zu seiner Rechten die Holzwand eines umschlossenen Grundstückes auftauchte, von dem aus ein Baum seinen Schatten auf den Weg warf, blieb Jonas schließlich stehen, eine Instagram-Nachricht hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Lionel Messi hatte ein neues Bild gepostet und angetan glitten Jonas' Augen über ein Foto, das den erfolgreichen Fußballer beim Training zeigte.
„Na, bist du jetzt stolz auf das, was du erreicht hast?!"
Der beißende Tonfall, der ihm unerwartet von vorne entgegen schallte, traf Jonas unerwartet und fast wäre er zusammen gezuckt. Nervös sah er auf und gewahrte Jannik, der mit in den Jackentaschen vergrabenen Händen auf ihn zu schlenderte und ihn dabei finster anstarrte. Statt die Schritte schließlich zu verkürzen hielt er direkt auf Jonas zu, was diesen dazu veranlasste, unwillkürlich einen Schritt nach hinten auszuweichen; er stand jetzt direkt vor der Holzwand und spürte deutlich sein Herz klopfen.
Zorn stand Jannik ins Gesicht geschrieben und unweigerlich empfand Jonas Angst davor, wie dieser nun reagieren würde, bemühte sich jedoch, sich das nicht anmerken zu lassen. Er reckte sich zu seinen vollen 1,70 m und drückte die Schultern nach hinten; lediglich der Griff seiner Hand um sein Handy wurde fester, als verspräche das Gerät ihm Halt, die andere Hand an seiner Seite ballte er zur Faust. Er würde sich nicht einschüchtern lassen, er war schließlich Sportler und durchtrainiert, versuchte sich Jonas Mut zu machen und legte Entschlossenheit in sein Gesicht, während er Janniks Frage ins Leere laufen ließ.
Aus der Nähe entging ihm nicht, dass Janniks sonst so ansprechende Gesichtszüge tiefen Augenringen und eine eher gräulichen Gesichtsfarbe Platz gemacht hatten, was ein dürftiges Abbild seines normalerweise attraktiven Äußeres darstellte. Dessen Augen allerdings bargen ein unheilvolles Lodern, das jegliches Mitleid seitens Jonas sofort erstickte. Die Trennung hatte offenbar auch bei Jannik Spuren hinterlassen, aber, rechtfertigte sich Jonas im Stillen, Jannik war ja selbst schuld daran.
„Du bist das mieseste kleine Arschloch, das mir je untergekommen ist", zischte Jannik ihm nun zwischen zusammengebissenen Zähnen entgegen. Er war Jonas nun so nahe, dass dieser den Pfefferminzduft von Janniks Atem wahrnahm.
Ohne nachzudenken entfuhr es Jonas: „Wenn du mir was tust, erzähl ich es meiner Mutter."
"Als wenn das jetzt noch eine Rolle spielt", gab Jannik bitter zurück, während eine Grimasse seinen Gesichtszügen etwas Maskenhaftes gab.
Mit Schrecken wurde Jonas klar, dass es inzwischen für Jannik keinen Grund mehr gab, seinen Ärger zu zügeln. Verstohlen ließ er seinen Blick über die Straße gleiten, die heute jedoch bar jedes Spaziergängers war, und die beginnende Furcht ließ seinen Atem schneller werden.
Jannik schenkte ihm ein spöttisches Lächeln und schien Jonas' Schrecken ein paar Sekunden lang auszukosten, während dieser darum kämpfte, Haltung zu bewahren. Bei einer körperlichen Auseinandersetzung würde er den Kürzeren ziehen, das war klar, und mittlerweile hätte er eine rasche Flucht der Peinlichkeit, vor einer Prügelei zu kneifen, vorgezogen; er war noch nie jemand gewesen, der gern seine Fäuste benutzte, sofern es nicht um die Abwehr eines aufs Tor geschmetterten Fußballs ging.
Sekunden verrannen, die Jonas wie Minuten vorkamen. Janniks Lächeln, das Jonas zumindest die Hoffnung vermittelt hatte, es würde Jannik womöglich reichen, ihn lediglich zu beschimpfen, war verschwunden, er starrte Jonas nun zornig ins Gesicht und sein Schweigen wirkte auf den Jungen wie eine Bedrohung.
Jonas fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach und sich unter den Achseln und am Rücken sammelte und er war nur eine Handbreit davon entfernt, „Bitte, bitte tu mir nichts" zu stammeln, seine Finger schmerzten bereits von dem angespannten Druck, mit dem er sie malträtierte.
„Ich hoffe, du wirst glücklich damit, dass du alles kaputt gemacht hast!", stieß Jannik abrupt hervor, mit einer Vehemenz, die am Ende zu kippen schien. Dann wandte er sich um, überquerte die Straße und war kurz darauf außer Sicht.
Erleichtert schloss Jonas für einen Moment seine Augen, lockerte dann seine Anspannung und sackte ein bisschen in sich zusammen. Da war er ja wohl gerade noch mit einem blauen Auge davongekommen, dachte er reumütig und setzte in deutlich gedämpfter Stimmung seinen Weg nach Hause fort.
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