Kapitel 74

Schwärze.

Es war das Einzige, das Janniks Augen wahrnahmen. Die Schwärze eines Raumes, der sich um ihn zu drehen schien. Instinktiv griff er nach etwas Solidem, das seine Finger zu fassen bekamen, das Mobiliar eines vom Zahn der Zeit angegriffenen Tresens, der bereits mehrfach von ausgedrückten Zigaretten malträtiert worden war.

„Nun ist aber genug!"

Die entschlossen klingende Stimme des Wirtes erreichte seine Ohren, ohne dass er den Inhalt der Aussage begriff; in automatischer Geste schob er ihm das Glas entgegen, das jedoch nicht neu gefüllt wurde. Verwünschungen murmelnd stierte er einen Moment lang in den schummerig beleuchteten Bereich hinter den Tresen und wandte den Blick dann nach oben zu einer der Lichtquellen, ein paar hässliche rote Glühbirnen, die genauso wie das schäbige Interieur des Innenraumes offenbar mal bessere Zeiten gesehen hatten.

Die paar Anwesenden, die im dämmerigen Licht an den Tischen auszumachen waren, schien das nicht zu stören, auch Jannik war es eigentlich gleichgültig, sofern die Versorgung mit Getränken sicher gestellt war. Wobei gerade Letzteres nicht der Fall zu sein schien, hatte der Wirt nicht gerade abgelehnt, ihm nachzufüllen? Irritiert fixierte Jannik ihn mit seinem Blick, doch der Grauhaarige, der vom Alter her fast sein Vater hätte sein können, war mit dem Einräumen von Geschirr beschäftigt und bekam es daher nicht mit.

Beas heutiges Auftauchen in seiner Wohnung schien inzwischen eine Ewigkeit her zu sein, die visuellen und akustischen Erinnerungen verschwammen in einem Nebel, doch auf die Intensität seiner Gefühle hatte sich lediglich ein leichter Schleier gelegt, was zu wenig war, um ihnen entfliehen zu können. Jannik kniff die Augen zu und zog krampfhaft die Augenbrauen zusammen, bis sein Kopf anfing zu schmerzen. Das hatte er nun davon, dass er sich auf eine Beziehung eingelassen hatte!

Das Leben als Single erschien ihm plötzlich wieder unglaublich verheißungsvoll, mit vielfältigen One-night-stands zu Zufriedenheit aller Beteiligten ohne emotionales Gepäck. Allein, die Hervorhebung der Annehmlichkeiten dieser Lebensgestaltung reichte nicht aus, um die Leere zu füllen, die Jannik in seinem Inneren spürte.

Er hatte es schätzen und lieben gelernt, das Gefühl von der Akzeptanz all seiner Facetten, nicht nur eines Teiles davon, wie sie entweder seine Kommilitonen oder seine politischen Mitstreiter kannten, und das Wissen, dass sich Bea für alle Belange seines Lebens interessierte, auch wenn sie zuweilen intensiv darüber diskutierten. Auch hatte er es genossen, sie mit Aufmerksamkeiten zu verwöhnen, das Strahlen in ihren Augen zu sehen, wenn er sie nach einem anstrengenden Arbeitstag abholte, und einfach zu wissen, dass er es schaffte, sie glücklich zu machen.

Es tat weh, sich daran zu erinnern.

Gereizt richtete er sich auf.

„Heh!" Er rief es auffordernd, mit einer Spur von Autorität, und der Wirt drehte sich zu ihm und machte eine Kopfbewegung, die die Bitte um noch etwas Geduld zu signalisieren schien.

Jannik seufzte laut und setzte sein Glas an den Mund, obwohl bis auf die Neige nichts mehr enthalten war.

Gott, er wollte alles vergessen! Einfach nicht darüber nachdenken, was heute vorgefallen war.

Und während sein Nacken und Kiefer sich anfühlten wie in einen Schraubstock gespannt, alles schmerzte und durch das Kopfschütteln des Kopfes, in dem Versuch, die verspannten Muskeln zu lockern, nur noch schlimmer wurde, schlug sein Herz dennoch weiter, unbeirrt, blödes Ding!

Die Erinnerungen an den heutigen Tag taten ihm jedoch nicht den Gefallen, zu verschwinden. Im Alltag hatte Jannik sich frustriert damit abgefunden, dass er bei Bea immer an zweiter Stelle stehen würde, aber dass sie bei so einem Vorfall auch noch Entschuldigungen für ihren Sohn suchte, statt dessen Handlung zu verurteilen und sich mit ihm selbst solidarisch zu zeigen, war bitter. Dies umso mehr, da er sich stets zusammengerissen und zurückgehalten hatte, obwohl sich Jonas Frechheiten ständig gesteigert hatten. Wie blöd war er nur gewesen, sich auf eine Frau mit Kindern einzulassen! Er hätte es besser wissen müssen!

„Fuck, fuck, fuck!!!"

Aufgebracht stampfte er mehrmals mit dem Fuß auf den Boden, ohne zu merken, dass ihm der Wirt einen schrägen Blick zuwarf.

Wie konnte es sein, dass es einem Kind gelang, sie auseinander zu bringen, dachte Jannik wütend und starrte finster auf die an der gegenüberliegenden Wand aufgereihten Flaschen, die ein vergeblicher Versuch waren, etwas Baratmosphäre zu erzeugen. Dieses intrigante kleine Arschloch hatte sein Ziel erreicht, wenn auch vermutlich anders als geplant.

Beas haltloser Vorwurf hatte Jannik tief verletzt – gerade weil er nun wirklich jeden Flirt, der mehr hätte werden können, ausgeschlagen hatte. Denn was bedeutete es, dass ausgerechnet sie, die einer der Menschen war, die ihn am besten kannte, überzeugt davon gewesen war, dass er sie betrügen würde?

Dass sich Bea dann auch noch nicht deutlich vom Verhalten ihres Sohnes distanziert hatte und sich im Zweifel immer auf dessen Seite schlagen würde – dass hatte Jannik mehr als alles andere klar gemacht, dass er einfach keine Chance gegen ihre Kinder haben würde, und er war zu stolz, um sich damit zufrieden zu geben, auf lange Sicht immer die Rolle desjenigen einzunehmen, der für alles Verständnis haben musste.

Er war schließlich über seinen Schatten gesprungen und hatte sich wider besseres Wissens auf Kinder eingelassen, hatte all seine Gefühle in diese Beziehung investiert und nicht weniger hatte er von Bea erwartet. Jetzt realisieren zu müssen, dass Beas Liebe zu ihm offenbar geringer ausgeprägt war, war schwer zu ertragen und füllte ihm mit solch einem Zorn, dass er das Glas mit Wucht auf den Tisch schmetterte.

„Jetzt ist aber Schluss! Es wird Zeit, dass du gehst!"

Der Wirt war auf einmal zu ihm getreten, breitete sich mit massiver Präsenz vor ihm auf und verschränkte entschlossen die Arme vor der Brust, was Jannik mit einem aggressiven Blick erwiderte und mit kaum verhüllter Drohung zurück gab:

„Und wenn ich nicht will?!"

Die Worte kamen undeutlich, leicht fahrig, doch der Wirt schien sie dennoch verstanden zu haben, mit einer Haltung, die keinen Widerspruch duldete, versetzte er:

„Du bist nicht der Erste, der mir komisch kommt, Freundchen. Die Polizei ist nur einen Anruf entfernt."

„Meinst du, ich habe Angst vor den Bullen?!", brachte Jannik unartikuliert hervor und spuckte voller Verachtung vor ihm aus, was jedoch lediglich dazu führte, dass ihm ein Teil des Speichels langsam das Kinn hinab lief.

„Junge, werde erst mal wieder nüchtern", empfahl der Wirt mit demonstrativer Gelassenheit, die deutlich machte, dass er bereits seinen Anteil an unerfreulichen Situationen im Leben erlebt hatte und sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ.

Mit den letzten noch funktionsfähigen Gehirnzellen erkannte die Jannik die Lächerlichkeit, der er sich hier preis gab, und machte einen Rückzieher.

„Iss ja gut, iss ja gut, iss ja gut."

Er rutschte vom Hocker und gelangte stolpernd zum Ausgang, den ihm der Wirt mit der Hand wies, wobei ihm nur das Abstützen an etwas Haltbarem daran hinderte, sich dem Schwindelgefühl zu ergeben, das ihn unvermittelt wieder befallen hatte.

Draußen fuhr ihm eine Böe ins Gesicht, die bereits von einer Temperatur durchsetzt war, die sich der Null-Grad-Marke näherte, doch Jannik spürte die Kälte kaum. Taumelnd ging er ein paar Schritte und ließ sich dann kraftlos zu Boden sinken. Mit dem Rücken gegen eine Hauswand gepresst sah er hinauf in den dunklen Himmel, über den in schneller Fahrt Wolken hinweg zogen, die im Licht der den Himmel immer ein wenig illuminierenden Großstadt gerade noch sichtbar waren. Und endlich, endlich lösten sich die gesamten Gedanken, die durch seinen Kopf zogen, in Luft auf und ließen für ein paar Augenblicke ein angenehmes Nichts zurück, bis ihn schließlich der Schlaf überwältigte.

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