Kapitel 73

Janniks Frage ein Weilchen später brach wie ein plötzliches Wetterleuchten in die Momente der Glückseligkeit.

„Woher kommt eigentlich dieses Foto?"

Resigniert begriff Bea, dass das Vorkommnis, das zu ihrem emotionalen Ausbruch geführt hatte, von Jannik offenbar doch noch nicht ad acta gelegt werden konnte. Sie öffnete die Augen, sah unbestimmt in Richtung Fenster und erwiderte ohne lange nachzudenken:

„Von Jonas."

Die Reaktionen, sowohl Janniks als auch ihre eigene, kamen unvermittelt. Sein Körper verspannte sich merklich und auch Bea atmete kräftig ein, als sie realisierte, was mit dieser Aussage einher ging. Sie sah Jannik an, dessen Augen ihr Erschrecken widerzuspiegeln schienen und in ihrem Magen stellte sich ein flaues Gefühl ein.

Die Gedanken, die ihr durch den Kopf flogen, purzelten ohne Punkt und Komma durcheinander. Woher hatte Jonas dieses Foto? Wieso hatte er es ihr gezeigt? Wieso hatte er behauptet, es wäre von der Alster und vom Wochenende? Bei der Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, wurde ihr buchstäblich schlecht.

Ihre Hände lagen noch immer ineinander, aber Bea spürte es kaum, merkte nur eine plötzliche Kälte, die sie frösteln ließ. Jannik sagte etwas, doch sie war außerstande, seine Worte wahrzunehmen, sah durch ihn hindurch und bei zugeschnürter Kehle präsentierten sich ihr ungefragt Erinnerungsbilder aus den früheren Jahren:

Jonas als Kleinkind am Strand, grinsend mit einer Zahnlücke in der ersten Klasse und als beginnender, schlaksiger Teenager stolz mit einem Fußball-Pokal in der Hand. Ein lustiger, fröhlicher Kerl, mittlerweile zwar zurückhaltend, aber noch immer höflich und freundlich gegenüber seiner Umwelt und voller Begeisterung für seinen Fußball.

Und nun dies! Die Präsentierung eines verfänglichen Fotos, das kein Zufall zu sein schien, offenbar bewusst aufgenommen worden war, um sie und Jannik auseinander zu bringen... Bea weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Sie atmete tief ein und versuchte sich zu beruhigen, vielleicht verrannte sie sich hier genauso wie vorhin mit ihrer Einschätzung.

„Wann hast du dich mit Bianca getroffen?", brachte sie flüsternd heraus, zu mehr war ihre Stimme nicht fähig.

„Gestern Nachmittag, so gegen fünf Uhr. Wir haben uns vor ihrem Haus getroffen und sind dann rüber in den Park."

Janniks Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Bea dachte fieberhaft nach. Gestern war Jonas zu Hause gewesen, er hatte sich ursprünglich mit Pawel treffen wollen, dann aber wegen der Präsentation für die Schule abgesagt. Er konnte das Foto daher nicht gemacht haben.

„Jonas war gestern zu Hause", verteidigte sie ihren Sohn automatisch gegenüber Janniks Blick, dem sie einem Vorwurf zu entnehmen glaubte.

„So ein Bild entsteht aber nicht zufällig...", wandte Jannik ein, er klang weniger verärgert als mehr resigniert, als überrasche ihn dieses in keinster Weise.

„Das stimmt", gab Bea seiner Aussage leise recht und dachte weiter nach. War es vorstellbar, dass Pawel...? Irgendwoher musste Jonas das Foto ja bekommen haben...

„Ist dir denn jemand dort aufgefallen?"

Mit der konzentrierten Fokussierung auf die Analyse nach dem Zustandekommen des Fotos gelang es Bea, ihre Emotionen vorerst in Schach zu halten.

Jannik sah sie einen Moment lang schweigend an und schüttelte dann den Kopf.

„Ich habe nur gewartet, bis Bianca rauskam, und dann sind wir sofort in den Park gegangen."

Er schwieg und sah einige Moment gedankenverloren auf den Teppichboden, bis er plötzlich den Kopf hob.

„Halt, warte! Hinter uns war so ne Gruppe von Sportlern, die haben ziemlich laut gesprochen. Ich habe da kurz hingeguckt, weil das so nervig war. Und da habe ich aus den Augenwinkeln gesehen, wie da irgend so ein ein Typ durch's Gebüsch gehuscht ist."

„Und dann?"

„Nichts und dann. Der ist eh gleich abgehauen."

Jannik zuckte mit den Schultern und stellte eine Gelassenheit zur Schau, die mit Beas eigener Nervosität kontrastierte.

„Wie sah er denn aus?"

Angespannt beugte sie sich leicht nach vorne und starrte ihren Freund ungeduldig an.

„Keine Ahnung", gab dieser nun etwas hilflos angesichts der Intensität ihres Blickes zurück. „Mir sind nur die Schuhe aufgefallen, der hatte so knallig orangefarbene an."

Bea stieß die angehaltene Luft mit einem Ruck aus und ließ sich gegen die die Rückwand der Couch fallen. Pawel hatte orangefarbene Turnschuhe.

Jannik deutete ihre Reaktion richtig und konstatierte mit plötzlicher Schärfe im Ton:

„Du kennst ihn."

Bea wich den Augen, die sie nun seinerseits genauestens fixierten, aus und murmelte:

„Jonas' Freund hat solche Turnschuhe."

Indem sie ihre eigenen Überlegungen in Worte fasste, traf die Enormität der Realität Bea mit Macht, ihr entrang sich ein ersticktes Keuchen und sie schloss verzweifelt ihre Augen.
Das konnte nicht sein!
Es durfte einfach nicht sein!
Nicht Jonas!
Nicht ihr Sohn!

Ihr Puls raste, als hätte sie soeben einen Sprint hingelegt und am liebsten hätte sie laut geschrien. Sie vergaß, wo sie sich befand und spürte kaum, wie Jannik ihre Schulter berührte. Wie durch Watte vernahm sie das Klingeln ihres Handys, kontinuierlich, unerbittlich, bis es schließlich, endlich, verstummte.

„Du musst mit ihm reden!", forderte Jannik, drängend, und es klang noch mehr aus seiner Stimme, doch Bea war im Moment außerstande, das einzuordnen. Sie öffnete die Augen und gewahrte seine Erregung, das Thema wühlte auch ihn jetzt deutlich auf, doch das berührte sie nur am Rande.

Sie begriff es einfach nicht. Warum hatte Jonas das gemacht? Sie hatte doch mehrfach versucht, mit ihm zu reden, sie hätte sich bemüht, ihm deutlich zu machen, dass er ihr weiterhin wichtig war – allein, Jonas hatte jedes Gespräch verweigert und sie hatte schließlich einfach auf die Zeit vertraut, gehofft, dass er sich beruhigen würde. Ein kardinaler Fehler, wie sich jetzt zeigte. Sie hätte weiter versuchen müssen, mit ihm zu reden, wieso hatte sie einfach aufgegeben? Wie konnte sie nur so versagen?

„Bea!"

Janniks Stimme riss sie aus ihren Überlegungen, er hatte ihre Hände genommen und beugte sie zu ihr, unbeteiligt registrierte sie, wie sich ihre Knie berührten.

„Wir sollten ihm gemeinsam gegenüber treten. Als Paar. Und darüber reden. So was geht nicht!"

Seine Worte hallten in Bea nach, ohne auf fruchtbaren Boden zu fallen, sie war noch immer völlig von ihren Gedanken überwältigt und sah Jannik an, ohne ihn wirklich wahr zu nehmen.

„Ich wusste nicht... wie schlimm muss es ihm gehen, wenn er zu solchen Mittel greift...", flüsterte sie.

Ungefragt meldete sich in Bea das Schuldgefühl zurück, das sie früher hin und wieder überfallen hatte, wenn sie sich gefragt hatte, ob die Scheidung von Thorsten für die Kinder das Richtige gewesen war. Trugen Scheidungskinder nicht immer anschließend ein Trauma mit sich herum? War das vielleicht der Grund dafür, dass Jonas Jannik so kontinuierlich ablehnte?

Wie automatisch purzelten die nächsten Worte aus Beas Mund, ohne dass sie ihnen Einhalt zu gebieten vermochte.

„Anscheinend ist es für ihn einfach noch zu früh, dass ich eine neue Beziehung habe..."

Ihre Finger schmerzten vom plötzlichen harten Griff, den Janniks Hände ausübten, und jetzt erst registrierte sie seine Miene, die Augen unnatürlich groß, die Lippen halb geöffnet, als wolle er etwas sagen, doch schien er darauf zu warten, dass sie weiter sprach.

Bea schwieg jedoch, ihr Kopf war wie blockiert und sie konnte ihn nur stumm ansehen. Eine gefühlte Ewigkeit verrann und schließlich bemerkte sie, wie jegliche Farbe aus Janniks Gesicht wich, er ließ ihre Hände fallen, als hätte er sich verbrannt, sprang auf und schlüpfte mit hölzernen Bewegungen in seine Turnschuhe.

Dann drehte er sich brüsk zu ihr um, und mehr noch als über seinen Ausdruck, der eine Mischung aus Wut, Schmerz und Verzweiflung enthüllte, erschrak sie über das, was er ihr aggressiv entgegen warf:

„Wenn du das so siehst, dann gibt es für uns keine Zukunft! Ich gehe zurück in mein Single-Leben, da ist es bedeutend einfacher, die Frauen zufrieden zu stellen! Und ich muss mich nicht mit Problemen herumschlagen, die keiner meiner Freunde hat! Ich gehe jetzt und wenn ich wiederkomme, erwarte ich, dass du weg bist!"

In wenigen Schritten war er an der Tür und während er sie so grob aufriss, dass sie gegen seinen Schrank knallte, fand Bea ihre Sprache wieder.

„Jan, warte, lass uns nicht so auseinander gehen!"

Doch Jannik war bereits im Flur verschwunden und ihr Satz blieb daher ungehört in der Luft hängen.

„Jannik!!!"

Sie eilte ihm nach, doch der Knall der zufallenden Haustür verriet, dass er die Wohnung bereits verlassen hatte. In ihrer Hast, ihm hinterher zu laufen, knallte ihr Handgelenk mit Wucht gegen die Türklinke, wodurch sie kostbare Sekunden verlor. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, doch dessen ungeachtet zog sie die schwere Tür auf und hörte gerade noch das verklingende Geräusch eiliger Schritte im Treppenhaus und ihr erneuter Ruf hallte im Treppenhaus wider, ohne dass eine Antwort erfolgte.

Vorsichtig zog Bea die Tür wieder zu und blickte verstohlen in Richtung Küche, doch weder Tobias noch Louis ließen sich blicken; sie waren entweder nicht da oder hielten sich rücksichtsvoll in ihren Zimmern auf. Bea zwang sich mühsam zur Ruhe, obwohl ihr Herz pochte, und ging mit schweren Schritten, als schleppe sie ein Gewicht hinter sich her, zurück in Janniks Zimmer.

Ihr Handy klingelte schon wieder, und hastig griff sie danach, für einen Moment wider besseren Wissens hoffend, es wäre Jannik, doch das Display offenbarte nur Jonas, dessen Anruf sie wütend wegdrückte. Ungefragt meldete sich eine SMS. „Mama! Wo bist du, machen uns Sorgen!!!"

Mit einem Hohn, der ihr üblicherweise fremd war, dachte sie: Ja, jetzt machst du dir Sorgen. Nach dem, was du getan hast! Wütend warf sie das Handy auf die Couch und ließ sich daneben plumpsen. Dann siegte für einen Moment die Vernunft und hastig, unter Tränen, die ihr die Sicht erschwerten, tippte sie eine Nachricht über What's App: „Bin noch unterwegs, weiß noch nicht, wann ich zurück bin."

Dann versuchte sie mehrfach, Jannik zu erreichen, doch es empfingen sie nur Freizeichen, bis ihr Anruf schließlich weggedrückt wurde. Bea sah stumm auf das Handy in ihrer Hand und biss sich auf die Lippen, dann ließ sie sich in die Bettwäsche fallen, die Jannik in typischer Art nur forträumte, wenn er wusste, dass sie kam; der Geruch nach ihm, der noch in den Laken hing, sorgte schließlich dafür, dass sie verzweifelt in Tränen ausbrach und der Schock über das, was gerade passiert war, sickerte in ihr Bewusstsein.

Sie wusste nicht mehr, was genau sie gesagt hatte, welche konkreten Worte ihn zur Flucht veranlasst hatten, doch sein letzter Satz „dann gibt es für uns keine Zukunft" hallte in ihrem Kopf nach. Obwohl Jannik verlangt hatte, dass sie die Wohnung verließ, entschloss sich Bea zu warten, bis er zurückkehren würde.
Dann würden sie noch einmal in Ruhe über alles reden. Und dann weitersehen.
Alles würde gut werden. 
Bestimmt.

Doch so sehr sich Bea auch um Zuversicht bemühte, ließen sich ihre Zweifel dennoch nicht zerstreuen. Dass Jonas zu mehr als zweifelhaften Mitteln gegriffen hatte, um Jannik und sie auseinander zu bringen, ließ sich nicht leugnen und sie würde ihn nicht davon abhalten können, es erneut zu versuchen. Was käme als nächstes? Eigentlich war es kein Wunder, dass Jannik nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Hilflos steckte Bea ihren Kopf in das Kissen, während ihr die Tränen über die Wangen rannen, ohne dass sie eine Möglichkeit fand, ihnen Einhalt zu gebieten.

Ihr Versuch, Andrea zu erreichen, blieb ebenfalls erfolglos, bis ihr einfiel, dass ihre Freundin heute zusammen mit ihrem Mann ein Musical besuchte; andere Freundinnen anzurufen verwarf sie. Der immer wieder ungeduldige Blick auf das Handy vermittelte lediglich das Schweigen eines Menschen, der es vorgezogen hatte, Abstand zu gewinnen, nicht nur räumlich, sondern auch emotional.

Bea horchte auf die Geräusche, die die fremde Wohnung von sich gab, eine Wasserspülung von irgendwo her, das Zuklappen von Türen und das rauchige Lachen eines von Janniks Mitbewohnern sowie Wortfetzen eines Telefongespräches. Die Wohnung war unwahrscheinlich hellhörig, was ihr bislang noch nie aufgefallen war, und unwillkürlich begann sie sich zu fragen, was Tobias und Louis wohl so mitbekommen hatten, wenn sie da gewesen war. Nicht dass es jetzt noch eine Rolle zu spielen schien...

Unruhig ging sie im Zimmer hin und her, warf, weil sie nichts Besseres zu tun fand, einen Blick in den Kleiderschrank, der mit seiner kreativen Unordnung positiv umschrieben Janniks regen Geist und seine Fähigkeit, mit vielen Aspekte gleichzeitig zu jonglieren, dokumentierte und studierte dann das Bücherregal genauer, dem sie bislang nie viel Beachtung geschenkt hatte. Neben verschiedenen Werken der Fachliteratur lagen dort einige Taschenbücher des Thriller-Genres, die Bea nicht kannte und nicht ganz unerwartet die gesammelten „Herr der Ringe"-Werke von Tolkien.

Das ließ Bea an den Soundtrack denken, den sie öfters zusammen gehört hatten und wie von selbst fanden ihre Finger die entsprechende Playliste auf ihrem Handy, um sich mit der Musik abzulenken. Doch die Zeit verrann, ohne dass Jannik zurückkehrte, ohne dass er telefonisch zu erreichen war, selbst offline war er gegangen.

Bea weigerte sich, sich einzugestehen, dass Jannik es mit seiner Aussage ernst gemeint haben könnte. Selbstkritisch musste sie zugeben, dass Jannik ganz anders als Thorsten war, dem das Aufrechterhalten ihrer Ehe über alles gegangen war, trotz dessen, was er getan hatte, während es hier Jannik war, der entschlossen von einem Ende gesprochen hatte. Wie hatte sie nur denken können, er würde sich wie Thorsten verhalten?

Frustriert schlug sie sich ein paar Mal mit der Faust gegen die Stirn, schüttelte unwillig den Kopf und fuhr dann mit der Hand über die Stirn, um die beginnenden Kopfschmerzen zu vertreiben. Sie war so ein Idiot gewesen! Wieso kam er denn nicht endlich zurück? Sie musste einfach noch einmal mit ihm reden!

Nach diversen Nachfragen ihrer Kinder nach ihrem Verbleib gab sich Bea jedoch frustriert geschlagen, mit verweinten Augen, still und leise, schlüpfte sie aus der Wohnung, zum Glück, ohne dass sie Janniks Mitbewohnern begegnete. Mit dem Gefühl absoluten Versagens und tiefer Verzweiflung stieg sie schließlich in ihr Auto und fuhr zurück nach Hause.


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