Kapitel 72
Mit Getöse stürzten die Kinder in den Flur und brachten noch den Geruch nach nassem Laub und Erde mit, der dem Herbst oft anhaftet.
„Das hat aber gedauert!", beschwerte sich Jonas, was ihm sofort ein vorwurfsvolles „Dann nehmt beim nächsten Mal einen Schlüssel mit!" einbrachte, obwohl Bea eigentlich eine nette Begrüßung auf der Zunge gelegen hatte. Erdklumpen rollten über den Boden, als die Kinder ihre Schuhe abstreiften.
„Wo wart ihr denn gewesen?", wollte Bea interessiert wissen und erhielt wie erwartet zumindest von Hannah eine Antwort, die fröhlich mitteilte:
„Erst auf dem Spielplatz. Und dann waren wir noch auf dem Fitnessparcour. Und zwei Kaninchen haben wir gesehen!"
„Jetzt noch?", wunderte sich Bea und trat zur Seite, damit Hannah ihre Jacke aufhängen konnte.
„Was gibt es zu essen?" Jonas hatte einen deutlich anderen Fokus.
Der zeitsparende Vorschlag, Pommes und Würstchen zu machen, fand bei beiden Kindern sofort Anklang. Zu Beas Überraschung folgte ihr Jonas in die Küche und beobachtete, wie sie die Pommes in den Ofen schob, wobei sie es schaffte, ihm ein paar gemurmelte Kommentare zu seinem Fußball zu entlocken. Er hatte sich auf die Sitzbank gefläzt und als sie Anstalten machte, schon einmal Geschirr auf den Tisch zu stellen, kam von seiner Seite ein Kommentar, dessen ernsthafter Ton sie überraschte:
„Mama, ich muss mit dir reden."
Bea hielt inne und warf ihm einen fragenden Blick zu, verschiedene Gedanken gingen ihr unvermittelt durch den Kopf, und obwohl sich die Neugier zu einem Punkt hinauf schraubte, der eine Zurückhaltung schwer machte, erwiderte sie nur lässig:
„Kein Problem, schieß los!"
Sie setzte sich zu ihm an den Küchentisch, während Jonas nervös mit seinem Handy hantierte und etwas genuschelt von sich gab:
„Ich muss dir was zeigen."
Mit diesen Worten schob er ihr sein Handy entgegen und irritiert von seinem bekümmerten Blick, der sie schließlich wortlos aufforderte, auf das Display zu schauen, griff sie nach dem Gerät und zog es zu sich heran.
Es zeigte ein Foto einer Grünanlage, auf dem man von hinten Jannik auf einer Bank sitzen sah, den Arm in vertrauter Geste um eine Blondine geschlungen, die ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Fassungslos starrte Bea auf das Bild vor ihren Augen, das nur eine Interpretation der Situation zuließ, und sie hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen. Das konnte nicht sein! Ihr Blick blieb auf dem Bild kleben, sie war unfähig, sich abzuwenden, und mit einer Stimme, die ihr kaum zu gehorchen schien, brachte sie heraus:
„Woher hast du das?"
„Vom Samstag, an der Alster."
Jonas' Stimme schien von weit her zu kommen. Samstag ging Jannik immer joggen... Schwindel erfasst Bea, mit Mühe legte sie das Handy langsam auf dem Tisch ab, während sich ihre andere Hand so hart an die Tischkante krallte, dass die Knöchel hervor stachen. Sie hörte Jonas etwas sagen, doch war nicht in der Lage, den Inhalt zu erfassen, ihr Blick verweilte wie festgefroren an dem Handy, dessen Display inzwischen schwarz geworden war und ihr Puls raste, als hätte sie gerade einen Sprint hingelegt.
Sie schluckte an einem Kloß, der ihr im Hals saß. Das konnte ihr Jannik nicht antun, nicht nachdem, was sie schon einmal erlebt hatte! Mit diesem Gedanken kam die Wut, erst allmählich, dann mit einer Kraft, die sie selbst überraschte, gleichzeitig begrüßte, denn sie war ihr so viel willkommener als der Schmerz. Wie konnte er das nur tun!
Abrupt stand Bea auf, so dass der Stuhl hinter ihr zu Boden polterte, was Jonas veranlasste, nun seinerseits fassungslos zu gucken. Mit Nachdruck forderte sie „Schick mir das Bild!", drehte sich anschließend wortlos um und verließ die Küche. Sie ignorierte Jonas' „Mama!", riss ihre Jacke von der Garderobe, schnappte sich Schlüssel und Handtasche und war bereits eine halbe Etage tiefer, als sie die Haustür ins Schloss fallen hörte.
In Bea brodelte es und sie nahm die Treppen in einem Tempo, das einem Sportler zur Ehre gereicht hätte. Stürzte in die Garage, schloss ihren Wagen auf - was ihr erst beim zweiten Mal gelang - und fuhr mit einem Tempo auf das Garagentor zu, das man gar nicht von ihr kannte. Eine göttliche Macht hatte ein Einsehen und sorgte dafür, dass die meisten Ampeln auf Grün standen, dadurch war sie schon kurze Zeit später in Eimsbüttel, laut fluchend nach einem Parkplatz suchend und den Wagen schließlich zornig auf einem Behindertenparkplatz abstellend.
Der scharfe Wind, der ihr entgegen pfiff, trieb ihr die Tränen in die Augen, während sie die paar Fußgänger, die der Dunkelheit trotzten, schnellen Schrittes umkreiste wie Hütchen auf einer Slalomstrecke. Ihr Atem war in ein Keuchen übergegangen, als sie Janniks Adresse erreicht hatte, doch der Adrenalin-Coctail in ihr untersagte ihr ein Verschnaufen, sie hastete die Treppe nach oben und drückte aggressiv auf die Klingel.
Es war Jannik, der ihr die Tür aufmachte, doch das anfängliche Strahlen auf seinem Gesicht und der scherzend geäußerte Satz: "Konntest du es nicht abwarten, mich zu sehen...?" erstarben, als Bea ihm mit aller Wut, derer sie fähig war, entgegen schleuderte:
„Was fällt dir ein!!! Wie kannst du mir das antun!!!"
Unwillkürlich wich er ein paar Schritte zurück in den Flur, totale Verwirrung im Gesicht, über die Bea gnadenlos hinweg sah, als sie anklagend fortfuhr:
„Wieso warst du am Samstag mit einer anderen Frau zusammen an der Alster?!"
„Ich war Joggen an der Alster, ja, aber alleine...", versuchte Jannik sie zu beruhigen, aber vergeblich.
„Lüg mich nicht an!", fauchte Bea und wäre in ihrer unkontrollierten Wut in der Lage gewesen, auf ihn einzuschlagen. Dass er es auch noch leugnete... allein der letzte Rest an Vernunft, der ihr riet, sich zu beherrschen, hielt sie davon ab.
Jannik warf einen raschen Blick zu dem Zimmer an seiner Rechten und bat aufgewühlt:
„Können wir das nicht bei mir klären?"
Oder auf ihre Antwort zu warten, drehte er sich um und verschwand in seinem Zimmer, in das ihm Bea noch immer wutentbrannt folgte, dabei die Tür hinter sich zu schmetternd, das laute Knallen verschaffte ihr ein Gefühl der Genugtuung.
„Kannst du mir mal bitte in Ruhe sagen, was los ist?", forderte Jannik, sichtlich um Gelassenheit bemüht, kurz streckte er die Arme in ihre Richtung, als wolle er sie umarmen, ließ sie jedoch gleich darauf wieder fallen.
Bea holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und kramte in ihrer Tasche nach ihrem Handy, zog es hervor, suchte Jonas' Nachricht und hielt ihrem Freund dann anklagend das Foto entgegen, das ihr Jonas vorhin präsentiert hatte.
„Das ist los!", zischte sie.
Jannik warf einen Blick auf das Bild und kommentierte dann trocken:
"Das war gestern im Innocentia-Park. Und das ist Bianca. Die auf deren Hochzeit du warst. Meine kleine Schwester, sozusagen. Mit der habe ich ganz sicher nichts."
Zum zweiten Mal an diesem Abend hatte Bea das Gefühl, die Kehle schnüre sich ihr zusammen. Janniks Äußerung hatte sie aus dem Konzept gebracht, sie hatte mit einer Ausrede gerechnet oder mit einer versuchten Entschuldigung, doch nicht für einen Moment hatte sie in ihrer Rage darüber nachgedacht, dass es auch eine ganz andere Erklärung geben konnte. Konnte sie sich so getäuscht haben? Irritiert zog sie das Handy wieder an sich und vergrößerte das Foto.
In der Tat, es schien sich um dieselbe Frau zu handeln, die vor einem halben Jahr im weißen Brautkleid vor ihr gestanden hatte, Bea erkannte die stufig geschnittene Haarpracht, die ihr schon damals aufgefallen war, sie schluckte und ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt.
„Willst du noch ein Foto von meinem Sommerbesuch in München?", fragte Jannik leicht spöttisch, doch stumm schüttelte Bea den Kopf und wünschte sich inständig, die vergangenen Minuten rückgängig machen zu können. Warum bloß war sie gleich auf ihn losgegangen statt erst einmal um Klärung zu bitten?
Jannik schob die Hände in seine Hosentaschen und drückte entschlossen die Schultern nach hinten, doch der anfängliche Spott und die zur Schau gestellte Lässigkeit verbargen nur zum Teil, wie sehr ihn Beas Anschuldigung getroffen hatte, stumm hielt er die Lippen aufeinander gepresst und seine Augen blickten zwar in ihre Richtung, schienen sie jedoch nicht wahr zu nehmen.
Es versetzte Bea einen Stich, ihren Freund so aufgewühlt zu erleben und zu wissen, dass sie schuld daran war.
„Es tut mir leid, Jan, echt!" Impulsiv legte sie ihm die Hand auf den Arm. „Es war blöd, ich habe einfach unüberlegt reagiert."
Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen, dann merkte Bea, wie sich die Anspannung in Janniks Arm lockerte. Zwar war seine Miene weiterhin ernst, aber er erwiderte nun ihren Blick und deutete mit einer kurzen Hebung des Kinns auf die Couch, auf die er sich auch sogleich fallen ließ.
Dann warf er ihr einen prüfenden Blick zu, als sie neben ihm auf die Couch sank, und für einen Moment fragte sich Bea, was er jetzt von ihr hören wollte, doch noch bevor sie Anstalten machen konnte, ihr Verhalten zu erklären, fragte er, noch immer mit einer Spur Fassungslosigkeit:
„Warum hast du mich nicht einfach angesprochen?"
Mit einem schiefen Lächeln erwiderte Bea:
„Hab ich doch..."
„Du hast mich angeschrien..."
Bea schnitt schuldbewusst eine Grimasse, denn natürlich hatte er recht und sie war fern davon, das abzustreiten. Ein Fehler zuzugeben, war jedoch nicht eine ihrer Stärken, und offenbar war es mit der angebotenen Entschuldigung noch nicht getan, Jannik wirkte nicht besänftigt genug, um zur Tagesordnung überzugehen. Bea seufzte betreten, war aber gleichzeitig auch froh darüber, sich geirrt zu haben.
„Ich weiß. Sorry!!!"
Die Sekunden verrannen und sie saßen nebeneinander auf der Couch, die Blicke auf den Boden oder in den Raum hinein gerichtet, ohne sich zu berühren, was paradoxerweise in Bea allmählich Wut auslöste, obwohl sie doch gerade noch Verständnis für Janniks Reaktion empfunden hatte. Wieso sagte er denn jetzt nichts?!
Energisch reckte sie die Schultern und richtete ihren Blick direkt auf Jannik, was seitens ihres Freundes endlich eine Bemerkung auslöste, als hätte er lediglich auf ein gewisses Signal gewartet.
„Ich versteh's nicht."
Der kurze Satz knallte wie eine Platzpatrone auf dem Asphalt und war gepaart mit abwehrend verschränkten Armen und einem Gesichtsausdruck, der nichts preis gab. Mit einer gewissen Hilflosigkeit warf Bea die Arme in die Luft und versuchte eine Erklärung:
„Du weißt doch, was ich mit Thorsten erlebt habe... und du hast eben einen Schlag bei Frauen... da habe ich einfach überreagiert..."
Jannik kommentierte daraufhin ein wenig angefasst:
„Ich bin nicht wie dein Ex."
„Ich weiß das! Ich habe mir eben nicht die Zeit zum Nachdenken genommen. Kannst du das nicht verstehen?!"
Frustration mischte sich in Beas Empfindungen, weil sie nicht zu Jannik durchzukommen schien und er nicht begriff, wie die Situation auf sie gewirkt haben musste. Doch als sie ihn dann bedrückt ansah, erkannte sie die Betroffenheit, die sich in den dunkel gewordenen Augen und den leicht hängenden Schultern widerspiegelte. In dieser für ihn untypischen Niedergeschlagenheit schwang ein wenig Ratlosigkeit in der ansonsten festen Stimme mit, als er dann fragte:
„Hab ich dir je Grund gegeben, an mir zu zweifeln?"
Bea presste die die Lippen aufeinander und schüttelte stumm den Kopf, hielt dabei aber seinem Blick stand. Er hatte recht, sie konnte sich an keine Situation erinnern, in der sie das Gefühl gehabt hätte, er nähme es mit der Treue nicht so genau und es tat ihr wahrlich leid, so vorschnell geurteilt zu haben.
Ohne es verhindern zu können fühlte sie, wie sich eine Träne aus ihren Augen löste und ihre Wange hinunter rann, verstohlen strich Bea sie fort, doch Jannik hatte es schon bemerkt und sogleich wurde sein Blick milder, seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig, als hätte er etwas gesehen, das ihn besänftigte
„Du brichst dir keinen Zacken aus der Krone, wenn du mal nicht die starke Frau bist, weißt du?"
Es kam leise, fast beiläufig und mehr als auf seine Worte reagierte Bea auf seine Hand, die er ihr mit der offenen Handfläche auffordernd entgegenstreckte und die sie dann ohne zu zögern ergriff. Im gleichen Moment zog er sie sanft zu sich und sie ließ sich an seine Brust sinken und legte den Kopf an seine Schulter. Mit dem Gespür für die veränderte Situation empfand sie Erleichterung, die sich allmählich in ihrem ganzen Körper ausbreitete schließlich in ein leichtes Lächeln mündete.
Die nächsten Minuten waren der Anerkennung dessen, was sie aneinander hatten, gewidmet, trotz des gerade erfolgten Wortwechsels, der die stille Versöhnung umso kostbarer erscheinen ließ. Ihre Finger liebkosten einander in zarten Berührungen und entspannt schloss Bea die Augen und ließ sich in die Geborgenheit fallen, die sich ihr wieder an seiner Seite offerierte und die sie so nahe dran gewesen war zu verlieren.
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