Kapitel 65

„Papa!"

Jeden Anschein von Coolness vergessend warf sich Jonas begeistert in die Arme des Mannes, der soeben im Rahmen ihrer Eingangstür auftauchte. Thorsten zog seinen Sohn kurz an sich und klopfte ihm dann kameradschaftlich auf den Rücken, bevor er einladend seine Arme nach Hannah ausstreckte. Hannah schlang zur Begrüßung ihre Arme um seinen Hals, ließ aber die sonst bei ihr übliche Freude vermissen, ein Fakt, der auch Thorsten nicht entging. Er schob sie sanft von sich und warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Was ist los, Hannahmaus, freust du dich gar nicht, dass ich hier bin?"

Bevor Hannah auf seine Frage eingehen konnte, hatte Jonas bereits eine freche Antwort parat:

„Hannah steht gerade mehr auf Mamas Lover. Sie findet ihn ja toll."

Hannah warf ihm einen bösen Blick zu, aber davon ließ sich Jonas nicht beeindrucken und Thorsten nahm das von der heiteren Seite.

„Wirst du mir etwa untreu?", flachste er und hob Hannas Kinn an, bis sie ihn angucken musste.

„Nein, Jonas lügt!", behauptete Hanna sofort und warf sich wie zum Beweis ihrer umfassenden Zuneigung ungestüm in Thorstens Arme, während Jonas sie einfach nur angrinste; er wusste, dass er recht hatte, sollte Papa ruhig wissen, dass Hannah illoyal ihm gegenüber geworden war. Nach seiner Warnung hatte sie sich kurz zurückgehalten, aber inzwischen strahlte sie Jannik wieder an, als wäre er Supermann persönlich, was Jonas mehr als nur irritierte. Wieso war er der Einzige, der begriff, dass Jannik die Familie endgültig kaputt machen würde?

Mit einer Begeisterung, die er als übertrieben erkannte, zog Hannah ihren Vater ins Wohnzimmer und erklärte:

„Hier, wir haben jetzt ein Sofa, das man zum Schlafen ausklappen kann."

Und nachdem Thorsten sich schließlich einen Kaffee gekocht hatte und sie alle Drei gemeinsam alte Kindervideos anschauten, wollte er beiläufig wissen:

„Und Mama ist also immer noch mit diesem jungen Kerl zusammen?"

„Die sind jetzt beide im Urlaub", nickte Hannah, die nach den ersten distanzierten Minuten ihre Redseligkeit wieder gefunden hatte, während Jonas gleichzeitig einen tiefen Seufzer ertönen ließ:

„Ja, immer noch ...!"

Thorsten schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ich hätte sie für klüger gehalten. Da ist doch die Enttäuschung vorprogrammiert, wenn er sie dann für eine andere sitzen lässt."

Jonas nickte heftig, sein Vater verstand es genau so wenig wie er und deshalb ignorierte Jonas großzügig die Erinnerung, die sich durch Thorstens Bemerkung eingestellt hatte. Er wusste darüber Bescheid, was damals zwischen seinen Eltern vorgefallen war, wenngleich ihm weder die näheren Details mitgeteilt worden waren noch er jemals hatte mehr wissen wollen als das Notwendigste. Die Wut, die er seinerzeit auf seinen Vater gehabt hatte, war längst verblasst, überlagert von dem Wunsch nach einem harmonischen Miteinander, soweit das bei der Entfernung zwischen ihnen möglich war.

Hannah ließ vom Computer ab, Verständnislosigkeit im Blick, denn sie konnte mit der Bemerkung nichts anfangen, spürte aber wohl, dass ihr eine Bedeutung inne wohnte, und obwohl Jonas gestikulierend Warnzeichen gab, zögerte Thorsten nicht, seiner Tochter den Hintergrund seiner Äußerung zu erläutern.

„Jonas hat mir auf Facebook gezeigt, dass dieser Jannik offenbar gern von einer Frau zur nächsten hüpft und es daher mit der Treue vermutlich nicht so genau nimmt. Es ist daher nicht das Schlaueste von ihr, sich auf so einen Typen einzulassen. Sie ist dann nachher nur unglücklich."

Es war beinahe komisch, Hannas Gesicht zu beobachten, auf dem sich erst interessierte Neugier spiegelte, die dann bald in große Augen überging und schließlich in Fassungslosigkeit mündete. Ihre Unterlippe vibrierte, wie sie es immer tat, wenn Hannah kurz davor war, in Tränen auszubrechen, und sie tat Jonas in diesem Moment ehrlich leid.

Zwar hatte sein Vater recht, doch Jonas verstand nicht, warum Thorsten das so vor Hannah hatte auswalzen müssen, begriff er nicht, dass sie für so etwas noch zu klein war? Doch bevor er noch reagieren konnte, zog Hannah lautstark die Nase hoch, sah ihren Vater mit einem Blick an, wie er nur aus unglücklicher Enttäuschung entstehen konnte und flüsterte:

„Glaubst du das, Papa?"

Mit der konkreten Frage konfrontiert wirkte Thorsten plötzlich betroffen und zögerte mit der Antwort, die er dann deutlich vorsichtiger formulierte, und er machte eine Bewegung, als wolle er tröstend einen Arm um sie legen, hielt aber inne.

„Ich kenne ihn ja nicht. Aber aus den Fotos zu schließen... und nach meiner Lebenserfahrung..."

Er wackelte bedenklich mit dem Kopf und griff nach dem Kaffeebecher, während Jonas fasziniert auf den Kaffeefleck starrte, der beim Einschenken entstanden war und sich jetzt ungehindert auf dem Tisch ausbreiten konnte. Er tränkte zwei unbeschriebene Zettel und verlief sich schließlich.

„Aber dann muss Mama das auch wissen", wandte Hannah bedrückt ein, ohne sich bewusst zu sein, dass ihre Mutter Facebook nutzte und daher die erwähnten Bilder kennen dürfte. „Sagst du ihr das?"

Ihr Vater setzte die Brille ab und wischte mit dem Zipfel seines T-shirts an den Gläsern herum, bevor er dann abwiegelte.

„Nee, lass mal... Wenn ich ihr das sage, glaubt sie mir sowieso nicht..."

„Mir auch nicht", sekundierte Jonas.

„...und dann gibt es nur Streit. Da halte ich besser meinen Mund."

Jonas seufzte, zwar war es gut, den Vater auf seiner Seite zu wissen, aber er begriff, dass die Aufgabe, noch einmal mit seiner Mutter zu reden, an ihm hängen bleiben würde. Aber hatte er es nicht schon einmal erfolglos probiert? Und sagte sie nicht immer, jeder müsse seine eigenen Erfahrungen machen?

Er riss sich nicht darum, etwas anzusprechen, das ohnehin wieder in Streit ausarten würde. Andererseits – wenn er seine Mutter überzeugen könnte, dann würde endlich wieder Normalität in ihrer aller Leben zurückkehren, und – er warf einen Blick auf Hannah, die inzwischen den Kopf hängen ließ und an ihren Fingerkuppen herum kaute – seine Schwester sich nicht mehr zwischen ihrem Papa und Jannik hin und her gerissen fühlen müssen. Undgeduldig wippte er auf dem Sofa vor und zurück. Hatte Pawel ihm nicht versprochen, sich etwas einfallen zu lassen?

„Nun guck nicht so, Maus, dein Papa ist nicht so oft hier, da wollen wir doch die wenige Zeit nicht mit Trübsinn verbringen! Nicht wahr, Jonas?"

Um Zustimmung heischend sah er zu Jonas hin, der ihn sofort unterstützte:

„Genau! Können wir nicht was machen? Zum Beispiel Schwarzlichtviertel?"

Hannahs Kopf flog hoch, ihre Stirn hatte sich wieder geglättet und in ihren Augen lag ein Leuchten, das sich auf ihrem ganzen Gesicht ausbreitete, sie war sofort dabei, Jonas' Vorschlag zu unterstützen und bei so viel Begeisterung blieb Thorsten nichts anderes übrig als einzuwilligen. Ehe Jonas sich versah, saßen sie alle in einem Taxi und angesichts des seltenen Erlebnisses einer Taxifahrt und der Vorfreude auf das Minigolf im Dunkeln löste sich Jonas' Nachdenklichkeit schon bald in Luft auf.

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