Kapitel 62
Seufzend legte Jonas sein Handy beiseite. Es hatte keinen Zweck. Was er auch tat, alles ging schief. Jedes Mal war er heute einer der ersten, der ins Gras biss. Er war mit seinen Gedanken einfach nicht bei der Sache. Mit der Rückkehr in die analoge Welt fiel ihm auf, wie still es in der Wohnung war. Weder dudelte irgendwo ein Radio noch hörte man die Stimmen von Hannah und seiner Mutter.
Er blickte auf das Display seines Digitalweckers, das in leuchtend gelben Ziffern auf schwarzem Grund – ein Geschenk von Großtante Helga, die in Dortmund beheimatet war – anzeigte, dass heute Sonntag war. An dem Jonas eigentlich auf dem Fußballplatz gewesen wäre, doch aufgrund einer Unwetterwarnung war das Spiel abgesagt worden. Und in der Tat war von draußen ein gedämpftes Rauschen zu vernehmen und das wenige Licht, das durch das Fenster hereinfiel, war gräulich und versorgte das Zimmer nur mit einem Minimum an Helligkeit. Was Jonas jedoch nicht störte, denn im Bett liegend war die Helligkeit vom Display seines Handys normalerweise alles, was er brauchte. Zumindest in der von seiner Mutter freigegebenen W-lan-Zeit.
Unwillkürlich runzelte Jonas die Stirn. Hatte er diese Zeit nicht schon längst überschritten? Oder hatte sie etwas verstellt und er brauchte gerade sein Tageskontingent auf und hatte dann heute Abend nichts mehr? Er war jedoch zu faul, um aufzustehen und nach dem Grund seiner Verwunderung zu gucken.
Stattdessen ließ er sich noch ein bisschen tiefer auf die Matratze rutschen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Blick glitt von dem rot-blauen FCB-Schal über seinem Schreibtisch hinüber zu der Zimmerlampe in Form eines Marienkäfers, die er seit seiner Kindheit besaß. Es war höchste Zeit, eine neue Lampe zu bekommen, aber irgendwie vergaß er ständig, seine Mutter darauf anzusprechen.
Erneut fiel Jonas' Blick auf den Wecker. Seine Großtante hatte es gut gemeint, als sie ihm diesen BVB-Wecker schenkte und gar nicht realisiert, dass ihr Großneffe alles andere als ein Dortmund-Fan war. Vielleicht sollte er sich zum Geburtstag mal einen neuen Wecker von Bayern-München wünschen... Seine Lippen verzogen sich amüsiert, als er sich die Reaktion seines Opas vorstellte.
Dieser würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, ihm dann spaßhaft mit dem Finger drohen und verkünden, ihn zu enterben. Aber eigentlich war sein Opa schon ok, dachte Jonas, er war zwar HSV-Fan durch und durch, aber brachte dennoch genug Toleranz auf, Jonas' fußballerischen Sonderweg zu akzeptieren. „Hauptsache, deine Mutter hält dem HSV die Treue", sagte er immer. Dieser Gedanke führte Jonas unvermittelt zu Jannik und er fragte sich, ob er und seine Mutter eigentlich mal wegen Fußball aneinandergerieten. Sowohl der FC St. Pauli als auch mittlerweile der HSV spielten in der zweiten Liga und somit regelmäßig auch gegeneinander.
Verdrießlich stülpte er die Unterlippe nach vorne. Seine Aktion neulich war kindisch gewesen und er schämte sich jetzt noch für seinen emotionalen Ausbruch gegenüber seiner Mutter. War sowieso klar gewesen, dass sie der Wahrheit auf den Grund gehen und Jannik nicht einfach wegen der Show, die ihr Sohn ihr geboten hatte, abservieren würde.
Jonas stellte die Beine auf und besah sich die fast durchgescheuerten Knie seiner Jeans. Das Kicken mit ihrem Macker war echt cool gewesen. Bestimmt hatte der schon gedacht, dass Jonas ihn akzeptieren würde. Doch bei aller Fußballbegeisterung, das konnte er auf keinen Fall zulassen!
Denn bei jedem Gespräch mit seinem Vater hatte er genau auf Zwischentöne gelauscht. Sein Dad hatte sich stets deutlich ablehnend geäußert, wenn die Rede auf Jannik gekommen war; er hielt ihn für einen Casanova, mit dem sich Bea nicht abgeben sollte. Und sein Vater hatte nicht mal am Rande eine andere Frau erwähnt. Das alles musste doch was zu bedeuten haben...
Ein lautes Seufzen entfuhr Jonas. Man musste die beiden einfach irgendwie zusammenbringen. Dann könnte alles wieder wie früher sein... Aber solange Jannik an ihrer Seite war, war ja jede diesbezügliche Überlegung zum Scheitern verurteilt. Zu seinem Missfallen spürte Jonas seine Augen feucht werden. Mensch, wie sentimental konnte man sein! Rasch drehte er sich auf den Bauch und drückte einen Moment lang seine Fäuste gegen die Augen, bis er sich wieder gefangen hatte.
Dann zog er sein Handy zu sich heran und öffnete entschlossen Facebook, wo er sofort Janniks Profil aufrief. Es gab inzwischen ein paar mehr Fotos mit seiner Mutter, die offenbar überwiegend draußen aufgenommen worden waren, wo ihnen Wind das Haar zerzauste oder Sonnenschein auf ihren Gesichtern lag. Mit einem Stirnrunzeln musste Jonas sich eingestehen, dass die beiden gut zusammen aussahen.
Doch diese Fotos waren deutlich weniger als die Masse an Partybildern, die Jannik noch vor einigen Monaten gepostet hatte. Jonas knetete seine Unterlippe und starrte auf das Display hinab. Das war doch irgendwie merkwürdig. Warum hatte Jannik nicht mehr Bilder von seiner Mutter ins Netz gestellt? Fand er sie nicht präsentabel genug? War dies vielleicht ein dezenter Hinweis darauf, dass Janniks Gefühle weniger tief gingen als er vorgab?
Natürlich war es Jonas nicht entgangen, dass seine Mutter ausgesprochen glücklich mit Jannik zu sein schien. Was er ihr im Prinzip gönnte. Wenn es nur nicht der Falsche wäre, an den sie ihr Herz gehängt hatte. Denn mit so einem Typ, wie Jannik es war, konnte es nicht auf Dauer gut gehen, auch wenn die ganze Beziehung schon viel länger dauerte, als Jonas erwartet hatte. Doch wenn Jannik irgendwann Schluss machte, würde es schwer für seine Mutter werden... Und dann hätte auch sein Vater keine Chance mehr, das wusste Jonas. Sie würde sich jahrelang auf keinen weiteren Mann mehr einlassen...
„Joni!"
Hannas lauter Ruf war kaum verklungen, als sie auch schon im Türrahmen stand, ohne vorher angeklopft zu haben. Aber Hannah durfte das. Hastig drehte Jonas sein Handy mit dem Rücken nach oben und betrachtete seine kleine Schwester abwartend.
„Mir ist langweilig", verkündete diese und zog einen Schmollmund. Das wunderte Jonas nicht, denn Hannah war für gewöhnlich niemand, der lange Zeit mit sich alleine verbringen konnte. Aber da auch er momentan mit nichts beschäftigt war, was ihn übermäßig beanspruchte oder was sein Interesse fesselte, war er offen für einen Zeitvertreib mit seiner Schwester.
„Wollen wir eine DVD zusammen gucken?", schlug er vor und setzte sich auf.
„Au ja!"
Hannah strahlte und ihre Stimmung wandelte sich augenblicklich. „Harry Potter Teil 3?"
Sie bezog sich auf den dritten Teil der Serie, der erst eine Empfehlung ab zwölf Jahren besaß. Jonas wusste von den strikten Regeln seiner Mutter und wandte daher vorsichtig ein:
„Den darfst du erst, wenn du das Buch gelesen hast..."
„Phew!", machte Hannah abfällig und setzte sich auf seine Matratze. „Keiner liest die Bücher. Alle gucken nur die Filme. Das ist nur so eine doofe Regelung von Mama."
Unentschlossen bewegte Jonas den Unterkiefer hin und her. Er wusste selbst, dass er nicht immer der Vernünftigste war, aber die Verantwortung für seine Schwester nahm er – meistens – ernst.
„Ich musste das Buch auch zuerst lesen", argumentierte er.
Hannah verdrehte erst die Augen und sah ihn dann bettelnd an.
„Biiiitte, Joni!"
Jonas kämpfte mit sich. Er hatte Lust auf den Film, keine Frage...
„Der ist aber unheimlicher als die ersten beiden", warnte er.
Hannah sah sich angesichts seiner Bemerkung schon auf der Gewinnerseite und versicherte selbstbewusst:
„Ich habe keine Angst. Ich weiß ja schon, dass es gut endet."
Jonas beäugte sie noch einmal kritisch und seufzte dann tief.
„Verrat aber Mama nichts, sonst bekomme ich Ärger. Und nicht, dass du anschließend Albträume kriegst."
„Ich hatte noch nie Albträume", widersprach Hannah empört, bevor sie wieder ihr Lächeln anknipste und säuselte:
„Versprochen. Starten wir jetzt?"
Ungeduldig hüpfte sie vom Bett und ging voraus ins Wohnzimmer, wo sie anschließend beobachtete, wie Jonas die DVD in den Player schob. Nachdenklich betrachtete Jonas das Cover und rechnete sich aus, wann der Film zu Ende sein würde. Er hatte keine Lust auf weiteren Ärger. Aber im Prinzip hatte Hannah ja Recht, niemand sonst machte so eine dämliche Regel.
Eifrig schüttete Hannah nun Salzstangen in eine Schale und dann machten es sich die beiden auf dem Sofa bequem. Es dauerte nicht lange und Hannah rutschte dicht an ihn heran, als die Stimmung unheimlich zu werden begann. Jonas warf ihr einen Blick zu, aber Hannah schaute nur gebannt auf den Bildschirm, ohne Anzeichen von Angst zu zeigen.
„Iiih!", machte sie lediglich, als eines der kapuzenartigen Wesen mit seiner Kralle erschien, kniff daraufhin die Augen zusammen und griff nach der Hand ihres Bruders.
„Alles okay", sagte Jonas schließlich beruhigend, „Du kannst wieder gucken."
Er fand es irgendwie süß, Hannah beschützen zu dürfen und als seine Schwester die Augen wieder öffnete, waren weder Furcht noch Angst zu sehen. Dennoch blieb sie die ganze Zeit an ihn gekuschelt sitzen und bereicherte das Filmerlebnis hin und wieder mit Kommentaren, die Jonas ein amüsiertes und manchmal nachsichtiges Lächeln ins Gesicht zauberten.
Schließlich verwandelte sich der Abspann in einen schwarzen Bildschirm, Hannah schaltete den Fernseher aus und die Realität hielt wieder Einzug im Wohnzimmer. Jonas erhob sich vom Sofa und spürte dabei Hannas Blick auf sich, dem er wohlweislich auswich. Zu Recht, wie sich zeigte, denn ein paar Sekunden später kam es auffordernd:
„Ich habe Hunger!"
Jonas entschloss sich, diesen Kommentar zu ignorieren, er setzte sich an den Tisch und beugte sich in einer konzentrierten Haltung über das dort liegende Biologiebuch, die jedem Lehrer ein wohlwollendes Lächeln entlockt hätte. Hannah ließ sich davon allerdings nicht täuschen, mit einem gewissen Tremor in der Stimme wiederholte sie:
„Ich habe Huuunger!"
Jonas begriff, dass er so nicht davonkommen würde und nunmehr genervt schaute er hoch und erwiderte:
„Dann mach dir doch das Essen warm."
Hannah stand mit in die Hüften gestemmten Händen da und ähnelte dabei ein wenig ihrer Mutter, wenn sie ihnen beiden eine Standpauke hielt.
„Das ist deine Aufgabe, du bist doch älter als ich!"
„Du hast wohl einen Vogel!" Jonas tippte sich an die Stirn. „Ich könnte auch sagen, das ist deine Aufgabe, schließlich bist du das Mädchen."
„Pah!", machte Hannah nur und musterte ihn finster, bevor sie fortfuhr: „Normalerweise macht das ja Mama. Aber sie ist nicht da. Und warum ist sie nicht da?"
Sie machte eine kleine Kunstpause und fuhr in Art einer ein Plädoyer haltenden Anwältin fort:
„Weil du immer so bescheuert bist, wenn Jan da ist. Also musst du mir jetzt das Essen warm machen!"
„Einen Teufel werd' ich", widersprach Jonas und sah wieder auf die Seite seines Buches hinunter, von dessen Text er im Moment kein Wort verstand.
Halb rechnete er damit, dass Hannah noch einen weiteren Kommentar vom Stapel lassen würde, doch sie schwieg und pflanzte sich auf dem Stuhl ihm genau gegenüber. Nach ein paar Momenten des Schweigens wollte sie wissen:
„Wieso magst du Jan nicht?"
Mit dem Kinn in den offenen Handflächen sah sie zu ihm hoch.
„Weil er mich geschubst hat, schon vergessen?", knurrte Jonas und schlug gereizt das Biologiebuch zu.
„Du mochtest ihn schon vorher nicht mehr", widersprach Hannah und brach sich ungefragt ein Stück von der Schokoladentafel ab, die sich Jonas gestern vom Supermarkt geholt hatte.
„Lass das!"
Jonas schlug empört ihre Hand fort und erklärte mit Heftigkeit:
„Weil er nicht zu Mama passt!"
Er war kurz davor zu berichten, was auf Facebook zu sehen war, unterließ es dann jedoch und ergänzte lediglich:
„Und es nervt mich, wenn er immer hier ist."
Finster zog er die Augenbrauen zusammen.
„Also ich mag ihn", verkündete Hannah und sah angelegentlich auf den Hausschuh, der ihr langsam vom Fuß rutschte, da sie die Beine übereinander geschlagen hatte. Jonas schnaubte verächtlich.
„Du magst auch Schach. Und Grünkohl", beides etwas, dem er nichts abgewinnen konnte. „Das heißt, du bist eben nicht normal."
Er hatte sie ärgern wollen, was ihm einen kurzen Moment auch gelungen war, doch dann schoss Hannah mit der ganzen Entrüstung ihrer mittlerweile elf Jahre zornig zurück:
„Lisa findet ihn nett. Und Valeria findet ihn cool. Du bist der, der blöd ist!"
Sie stand so rasch auf, dass der Stuhl umkippte, und funkelte ihn böse an.
„Hah, hah, hah, als ob!"
Er lachte gekünstelt, denn seine Cousinen hatten Jannik lediglich einen Abend lang gesehen. Als ob sie sich da ein Bild machen konnten, dachte Jonas und vergaß völlig, dass er Jannik ja auch anfangs sympathisch gefunden hatte. Er sah zu seiner Schwester hinüber, die ausnahmsweise mal den Mund hielt und ihn mit nach vorn gestülpter Unterlippe abwartend ansah, und witterte seine Chance, sie auf seine Seite zu ziehen.
„Jetzt ist Mama bei ihm statt bei uns. Das heißt, er ist für sie wichtiger als wir."
Hannah riss überrascht die Augen auf und ein bisschen Gewissensbisse hatte Jonas schon, dass er die Situation jetzt extra andersherum darstellte, aber er spürte Hannahs Parteinahme wanken und fuhr daher eindrücklich fort:
„Und stell dir mal vor, die bleiben zusammen und kriegen ein Baby. Dann sind wir völlig abgemeldet."
Die Worte purzelten nur so aus seinem Mund und er dache bei sich, dass es schön wäre, nicht so allein in seiner Abneigung zu sein. Hannah hatte die Hände auf den Tisch gelegt und sah schweigend auf sie hinunter, während Jonas geduldig wartete. Unvermittelt drehte sie sich dann um und rannte wortlos aus dem Wohnzimmer, verfolgt von Jonas hinterher gerufenen Satz:
„Vergiss das nicht!"
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