Kapitel 61
„Hi!!! Na endlich! Wurde ja auch Zeit, dass du dich mal wieder sehen lässt!"
Während sie ihre Glückwünsche übermittelte, ließ sich Bea mit einem reservierten Lächeln von ihrer älteren Schwester ausgiebig umarmen und Jannik blickte sich derweil interessiert um. Der Flur war kurz und führte direkt in die Wohnstube, deren langgezogene Fenster den ganzen Raum in die Helligkeit der strahlenden Abendsonne tauchten. Der verheißungsvolle Duft von gebratenem Fleisch zog ihm direkt in die Nase und ließ ihm bereits das Wasser im Mund zusammen laufen. Zumindest für das Essen – Bea hatte ihm mitgeteilt, dass ihre Schwester üblicherweise für drei Gänge oder für ein reichhaltiges Büffet sorgte – würde sich der Besuch schon einmal gelohnt haben, dachte Jannik zufrieden und war ansonsten neugierig und gespannt darauf, endlich auch einen weiteren Teil von Beas Lebens kennen zu lernen.
Marie war dazu übergegangen, Hannah liebevoll an sich zu ziehen, die das im Gegensatz zu ihrer Mutter zufrieden annahm. Lediglich bei dem anschließenden Ausruf ihrer Tante, wie sehr sie gewachsen war, verzog sie kurz gequält das Gesicht, enthielt sich jedoch höflich jeden Kommentars und verkündete nur:
„Ich suche mal Lisa."
Mit diesen Worten verschwand sie ohne zu klopfen durch eine Tür zu ihrer Rechten, während Marie tadelnd von Bea wissen wollte:
„Und warum ist Jonas nicht mitgekommen?"
Mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen gab Bea lediglich knapp zurück:
„Der langweilt sich doch hier nur unter deinen Mädels."
„Chris hätte sich schon um ihn gekümmert", erwiderte Marie mit einem missbilligenden Stirnrunzeln.
„Ich wette, der ist mit seinen zwanzig Jahren mehr daran interessiert, sich mit Erwachsenen zu unterhalten", widersprach Bea, ohne sich die Mühe zu machen sich zurück zu halten und warf Jannik rasch einen vielsagenden Blick zu.
Marie besann sich schließlich auf ihre Rolle als Gastgeberin, verzichtete auf eine Fortführung der Diskussion und richtete ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf Jannik.
„Hiii, du bist also der Mann, von dem meine kleine Schwester immer in den höchsten Tönen schwärmt!"
Ihre Begrüßung war nicht weniger überschwänglich als sie es bei ihrer Schwester gewesen war, sie zog ihn in eine Umarmung und hauchte ihm links und rechts ein Küsschen auf die Wange, während Jannik im Stillen bezweifelte, dass Bea so auskunftsfreudig gewesen war, wie ihre Schwester es ihm weismachen wollte.
„Papa und Mama kennen ihn ja schon lange, warum hat es bei mir so lange gedauert, bis ich deinen Freund kennen lerne?", wandte sich Marie anschließend wieder direkt an Bea, ohne Jannik Gelegenheit zu geben, mehr als „Alles Gute zum Geburtstag" von sich zu geben; sie war wie eine Naturgewalt, die einen überrollte, was angesichts ihrer Zierlichkeit, die kaum vermuten ließ, dass die Frau vor ihm bereits vier Kinder ihr eigen nannte, um so mehr überraschte.
„Viel zu tun", flüchtete sich Bea in eine Ausrede, bevor sie spitz hinzufügte:
„Hat ja nicht jeder so viel Zeit wie du!"
„Such dir einen reichen Mann!", parierte Marie, „Dann kannst du das auch. Sorry, nichts für ungut", wandte sie sich gleich wieder Jannik zu, ohne die geringste Verlegenheit zu zeigen.
Bea verzog das Gesicht, aber Jannik erwiderte nur mit todernstem Gesichtsausdruck:
„Bin auf dem Weg zu meiner ersten Million..."
Marie riss angesichts dieser überraschenden Information die Augen auf, bevor Jannik seelenruhig fortfuhr:
„...Follower auf meinen Blog."
Bea fing an zu kichern und etwas verspätet rang sich auch Marie ein Lächeln ab und erklärte:
„Jedenfalls herzlich willkommen. Geh doch schon mal zu den anderen ins Wohnzimmer", ihre Kopfbewegung wies den Flur entlang, dann nahm sie Bea zur Seite und raunte ihr zu, nicht leise genug, um ungehört zu bleiben:
„Aussehen schlägt Geldbeutel, was? Na, bei dem könnte ich auch geneigt sein, meine Prinzipien zu überdenken..."
Ein Lächeln, das sich durchaus als leicht triumphierend beschrieben ließ, erschien auf Beas Gesicht, dann folgte sie ihrer Schwester in die Küche und Jannik trat ins Wohnzimmer, in dem sich bereits mehrere Gäste unterschiedlichen Alters befanden, mit Ausnahme von Beas Eltern, die er im Urlaub wusste.
Unbefangen stellte er sich kurz vor und winkte lässig in die Runde, woraufhin man ihn mit freundlichem Kopfnicken willkommen hieß und eine alte Dame, deren gefärbtes dunkles Haar nicht ganz über ihre Alter hinweg täuschen konnte, geschmückt mit einem farbigen Schmuckstück, das an einer Kette hing und ihre noch sommerlich gebräunte Haut zierte, deutete mit einem freundlichen Lächeln auf den noch freien Platz neben sich.
„Hallo, ich bin die Tante Inge", erklärte sie mit überraschend lauter Stimme und fuhr dann erfreut fort:
„Das ist ja schön, Sie einmal kennen zu lernen."
„Freut mich ebenfalls", gab er höflich zurück, in dem Wissen, dass gute Manieren bei der älteren Generation gut ankamen, und lächelte einnehmend, während er sich in der Mitte des Sofas niederließ.
Tante Inge war deutlich angetan.
„So etwas von jungen Leuten zu hören...", strahlte sie und Jannik unterdrückte eine leichte Belustigung darüber, wie es leicht es war, sich in gutem Licht zu präsentieren.
„Ich habe gehört, ihr habt demnächst Urlaub geplant?", begann Tante Inge voller Interesse, „Wo soll es denn hingegen?"
Es überraschte Jannik zu hören, dass Beas Tante davon wusste; sie hatten erst vor kurzem definitiv beschlossen, ein paar Tage zusammen fortzufahren und Bea hatte nie davon berichtet, ihrer Tante besonders nahe zu stehen.
„Ehrlich gesagt ist das noch ein Geheimnis", gab er zu, „Ich habe eine schnuckelige, kleine Ferienwohnung an der Ostsee gebucht, aber das soll eine Überraschung sein."
Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
„Ach, wie schön!", äußerte sich Tante Inge entzückt und fragte neugierig weiter.
„Und wie lange?"
Dabei nahm sie einen Schluck aus ihrem Wasserglas und deutete mit einem Kopfnicken auf die Mineralwasserflasche. „Möchten Sie auch?"
„Ich nehm schon, danke", erwiderte Jannik und streckte seinen Arm aus, um nach einem frischen Glas zu greifen.
„Nur ein verlängertes Wochenende, wir haben ja beide viel zu tun", erläuterte er dann und dachte an das schmucke Apartment direkt am Meer, froh darüber, dass Bea immerhin einige Tage hatte freischaufeln können, er freute sich darauf.
Tante Inge seufzte und legte ihr Gesicht in Falten.
„Ich hab schon gehört, das ist ja nicht ganz ohne, und dann immer die Fahrerei..."
Mit dem letzten Satz konnte Jannik zwar nichts anfangen, denn so unermesslich lang dauerte Beas Fahrt zum Büro nun nicht und seine Tour zur Uni erst recht nicht, aber er ignorierte die unverständliche Bemerkung und erwiderte bloß:
„Na ja, bei mir ist das Ende ja schon absehbar. In paar Wochen reiche ich meine Arbeit ein und dann heißt es erst mal abwarten."
Er nahm einen Schluck von seinem Wasser, während Tante Inge große Augen machte.
„So weit sind Sie schon? Das hat mein Patenkind gar nicht erzählt. Oder ich habe es falsch verstanden."
Sie schmunzelte angesichts ihres Kommentars, der ihre Unzulänglichkeiten ein wenig auf die Schippe nahm. Jannik mochte sie, sie ähnelte seiner Oma, und er wollte gerade ansetzen, mehr zu erzählen, als aus dem Flur mehrere Stimmen ertönten und gleich darauf drei junge Leute, Hannah und ein weiteres Mädchen sowie Bea und Marie das Wohnzimmer betraten.
„Leonie, wie schön!"
Tante Inge hatte den Arm erhoben und winkte ausgelassen und aus dem Pulk löste sich eine junge Frau mit frechem Pferdeschwanz und glitzerndem, modisch um den Hals geschlungenen Schal und fiel Tante Inge fröhlich um den Hals.
Ihr "Hallo Lieblingstantchen" war in der Umarmung und dem plötzlich angeschwollenen Stimmengewirr mehrerer Leute, die gleichzeitig redeten, kaum zu verstehen, aber die nachfolgende Bemerkung Tante Inges war für alle Umstehenden wieder klar und deutlich zu vernehmen.
„Dein Freund ist schon vor dir hier angekommen. Wir haben uns bereits miteinander bekannt gemacht."
„Alex? Wieso?"
Verwirrt löste sich Leonie von ihrer Tante und warf einen Blick auf Jannik, dessen anfangs verdutzter Gesichtsausdruck einem fröhlichen Lachen wich, als ihm die Verwechslung klar wurde.
Leonie brauchte einen Moment, dann brach auch sie in heiteres Gelächter aus, zwischendrin hervor pressend:
„Inge, mein Freund studiert doch in Hannover, der kann unter der Woche gar nicht nach Hamburg kommen."
Bei Tante Inge dämmerte es.
„Jannik ist gar nicht dein Freund?"
„Mein Freund heißt Alex", brachte Leonie, noch immer prustend, heraus und dann ließ sich auch Tante Inge von der Komik der Situation anstecken, ihre Augen verschwanden in unzähligen Lachfältchen und es schüttelte ihren ganzen Körper.
„Setz dich doch!"
Jannik stand auf und wies heiter auf den nun frei geworden Platz neben Tante Inge, er fand das Vorgefallene ausgesprochen spaßig. Auch die übrigen Familienmitglieder waren mittlerweile aufmerksam geworden und warfen einen neugierigen Blick auf die lachende Runde. Hannah und das offenbar geringfügig ältere Mädchen tuschelten miteinander, die beiden anderen jungen Leute grinsten und Bea hatte das Gesicht abgewandt und verbiss sich ein Lachen.
„Aber wer...?", Tante Inges Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
„Das ist der Freund deiner Nichte Bea", erläuterte Marie trocken, während sie die Teller auf dem Tisch verteilte, und dabei nicht versäumte, Bea zuzuraunen:
"Siehst du, das kommt davon!"
Bea atmete scharf aus, es sah aus, als wäre sie kurz davor zu explodieren, doch dann überraschte sie Jannik mit einer Kehrtwende um hundertachtzig Grad, lächelte Marie betont harmlos an und fragte zuckersüß:
„Neidisch?"
Dann warf sie das Besteck mit einem Schwung, der ihrer Entschlossenheit, das Unvermeidliche nun nicht länger hinauszuzögern, Rechnung trug, auf den Tisch, griff nach Janniks Hand und verkündete ihren Verwandten entschlossen:
„Darf ich euch meinen Freund vorstellen?"
Es war faszinierend, wie Bea es immer wieder schaffte, ihn mit einer neuen Seite zu überraschen – nur eine Sekunde später fanden sich ihre Blicke und sie strahlten sich verliebt an, ungeachtet der Tatsache, dass nunmehr alle Augen auf sie gerichtet waren.
„Also so etwas..." Tante Inge amüsierte sich immer noch köstlich.
Leonie hatte sich jedoch inzwischen gefangen und gab unumwunden zu: „Ich hätte dich auch für einen Studenten gehalten."
„Wer sagt, dass ich es nicht bin", grinste Jannik, „Noch..."
Und während Marie ihre übrigen Kinder anwies, den Tisch zu decken, und wieder in die Küche eilte, neigte er sich zu Bea hinüber und flüsterte ihr ins Ohr:
„Kannst du mir mal verraten, wieso Inge Leonies Tante ist? Die ist doch bestimmt schon siebzig."
„Großtante natürlich, du Ignorant", wisperte Bea zurück und bemühte sich um einen vorwurfsvollen Blick, der ihr jedoch schmählich misslang.
„Ich sehe schon, ich muss da noch viel lernen", grinste Jannik, „Dann lass mich am besten mal die Nächsten deiner Verwandten kennenlernen."
„Kriegen wir hin", erwiderte Bea gutgelaunt und zog ihn zu der gegenüberliegenden Seite des Tisches, um ihm als erstes ihren Cousin vorzustellen.
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