Kapitel 58

Nachdem Bea eine Ewigkeit vergeblich die Seiten ihres Buches gelesen hatte, ohne den Inhalt auch nur im Geringsten zu verstehen, rappelte sie sich schließlich auf, um mit Jonas ein ernstes Wort zu reden. Sie entdeckte ihn im Wohnzimmer, wo er am Familien-PC saß und offenbar Hannah in die Geheimnisse eines seiner Spiele einweihte. Sie seufzte, trotz Janniks Erläuterungen seinerzeit konnte sie den Shooter-Spielen weiterhin nichts abgewinnen.

„Jonas, ich möchte mal mit dir reden. Jetzt!"

Es kam schärfer heraus als beabsichtigt. Ihr Sohn drehte sich verdrossen um.

„Jetzt geht es nicht."

Bea kehrte die Autoritätsperson heraus.

„Wenn ich sage jetzt, dann meine ich auch jetzt!"

Etwas in ihrem Ton veranlasste Jonas nachzugeben, aber er machte keinen Hehl daraus, wie unwillig er war.

„Was ist?" Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu.

Bea machte eine Kopfbewegung zum Flur hin.

„Gehen wir in dein Zimmer."

„Nö, ich bleibe hier." Bockig verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Wie du willst." Bea hatte keine Lust, schon hierüber eine Diskussion anzuzetteln. Wenn er eine Standpauke vor seiner Schwester hören wollte, sollte es ihr recht sein.

„Sag mal, wie kommst du dazu, Jan zu bitten, für dich Bier zu kaufen? Du bist erst dreizehn!"

Jonas fuhr mit einem Ruck zusammen, doch dann hatte er sich wieder im Griff.

„Behauptet er das?"

Seine Augen verengten sich wütend zu zwei kleinen Schlitzen und er starrte seine Mutter so empört an, dass sie ins Zweifeln gekommen wäre, wenn sie nicht eben gerade noch sein Erschrecken bemerkt hätte.

„Welchen Grund sollte er haben, mich anzulügen?", gab sie in einer Ruhe zurück, die ihren inneren Aufruhr gekonnt verbarg.

„Er mag mich nicht", gab Jonas gereizt zurück.

„Du ihn ja auch nicht!", hörte Bea ihre Tochter aus dem Hintergrund einwerfen, die damit Beas Antwort vorweg nahm.

„Das kann ich ihm kaum verübeln, so wie du dich immer verhältst. Dennoch ergibt das, was ich gehört habe, absolut Sinn."

„Was hast du denn gehört?", kam es vorsichtig von ihrem Sohn, der anscheinend abchecken wollte, was er leugnen konnte.

„Dass du wütend geworden bist, als er sich geweigert hat, das Bier zu kaufen, und du dich dann auf ihn gestürzt hast."

Noch während sie redete, hielt es Jonas nicht mehr auf seinen Stuhl und mit blitzenden Augen fuhr er sie an:

„Ich hasse ihn dafür, dass er dir das alles gesagt hat!"

Ungerührt gab Bea zurück:

„Das hast du dir wohl selbst zuzuschreiben. Du hast dich schließlich gleich beim Hereinkommen beschwert. Wer weiß, ob er es mir sonst erzählt hätte."

Sie konnte sich gut vorstellen, dass Jannik ihr dieses Ansinnen tunlichst verschwiegen hätte. Vermutlich musste sie froh sein, dass er die Getränke nicht einfach für Jonas besorgt hatte, um seine Sympathie zu erlangen.

„Er hat mich AUF DEN BODEN geschubst!", schrie Jonas aufgebracht. „Ich habe überhaupt nichts gemacht!"

Ausgehend von Jonas ständigen abwertenden Kommentaren, erschien Bea sein Widerspruch nicht sehr plausibel und der Blick, den sie ihm zuwarf, blieb daher skeptisch, was auch Jonas nicht entging.

„Du glaubst ihm mehr als mir!", warf er seiner Mutter anklagend vor und fuhr dann an Hannah gewandt fort:

„Hörst du das?! Willst du, dass Mama ihrem Macker in Zukunft mehr glaubt als dir?"

„Lass Hannah da raus, hier geht es allein um dich!", versetzte Bea, die nun langsam ihre Beherrschung verlor. „Weißt du, was mich am meisten ärgert? Dass deine Freundlichkeit vorhin nur gespielt war, um etwas zu erreichen!"

Jonas verdrehte nur die Augen. „Sagt er."

„Das, mein lieber Sohn, habe ich selbst geschlussfolgert", erwiderte Bea spitz. Und mit der Erkenntnis, dass sie das ursprüngliche Thema völlig aus den Augen verloren hatte, fügte sie laut hinzu:

„Ich will nicht dass du Alkohol trinkst, solange du noch keine sechzehn bist! Hast du das verstanden? Oder soll ich dir noch einmal ausmalen, welche Folgen das für dein Gehirn hat?" Sie fixierte Jonas mit einem starren Blick, dem er nunmehr verlegen auswich.

„War das für morgen bei Pawel gedacht? Gibt es so etwas regelmäßig bei ihm? Ich glaube, ich rufe mal seine Eltern an. Von so etwas morgen halte ich nämlich nichts."

Hastig drehte sich Jonas wieder zu ihr hin, Panik malte sich auf seinem Gesicht und mit überkippender Stimme rief er:

„Das wirst du nicht machen! Dann geh ich lieber gar nicht hin."

„Auch gut", gab Bea ungerührt zurück, „Dann hole ich dich eben morgen gleich nach dem Spiel ab."

Es war Jonas am Gesicht abzulesen, dass das nicht wirklich das war, was er wollte, und der Zorn, der in ihm tobte, verlieh ihm eine verkniffene Miene. Während Bea noch überlegte, wie sie das Gespräch wieder in ruhigeres Fahrwasser lenken konnte, um Jonas begreiflich zu machen, dass Alkohol einfach noch nicht für ihn geeignet war, traf seine verletzende Erwiderung sie gänzlich unvorbereitet.

„Weißt du eigentlich, dass dein Jannik jede Woche eine Andere hatte? Und zwar richtig schöne Girls. Und jung. Hast du mal in den Spiegel geguckt? Was meinst du, wie lange der sich noch mit dir zufrieden gibt?!"

Sein lauernder Blick ließ sie nicht aus den Augen, als er mitleidslos zum letzen Schlag ansetzte:

„Wer weiß, vielleicht hat er ja nebenbei immer etwas laufen..."

Bea hatte sich immer für gewaltfreie Erziehung ausgesprochen, aber dieses war ein Moment, in dem sie ihrem Sohn am liebsten geschlagen hätte. Wut trieb ihr die Röte ins Gesicht und Jonas Kommentar traf sie umso mehr, als er ihre eigenen stillen Befürchtungen bestätigte.

„Halt den Mund!", zischte sie ungehalten und dann in verdoppelter Lautstärke:

„Geh in dein Zimmer, bevor ich mich vergesse!"

Das ließ sich Jonas nicht zwei Mal sagen, wortlos drehte er sich um und verließ das Wohnzimmer.

Bea fühlte Schweiß den Rücken runter rinnen und ihr Herz pochte, als hätte sie gerade einen Sprint absolviert. Wie konnte er so etwas nur sagen? War das wirklich nur die unbedachte Äußerung eines zornigen Teenagers, dem man einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte? Oder steckte womöglich mehr dahinter und war sie nur zu einfältig, das zu erkennen?

Erschöpft sank sie auf das Sofa und – so sehr sie sich auch dafür hasste – rekonstruierte gedanklich die letzten Tage. Wenn sie arbeitete, schrieb Jannik an seiner Doktorarbeit, was theoretisch Treffen mit Studentinnen ermöglichte. Abends telefonierten sie, da wäre es unmöglich. Und am Wochenende war er samstags zumeist parteipolitisch unterwegs, was natürlich auch eine Gelegenheit bot... Seufzend ließ sie den Kopf in die Hände fallen. Andererseits hatte er ja gerade erst betont, wie gern er mehr Zeit mir ihr verbringen würde... Insofern erschien ihre Befürchtung dann doch übertrieben.

Bea zuckte zusammen, als sie eine Hand an ihrer Schulter spürte, sie hatte Hannah völlig vergessen. Dünne Kinderarme schlangen sich um ihre Schultern.

„Ich finde dich sehr schön", betonte ihre Tochter. „Jonas mag Jan halt nicht. Deswegen sagt der solche Sachen."

Gerührt hielt Bea still, bis Hannah ihre tröstende Umarmung beendet hatte und mit der Überzeugung einer Zehnjährigen, die durch nichts zu erschüttern ist, hinzufügte:

„Ich weiß, dass Jan dich mag. Der hat immer so strahlende Augen, wenn er dich ansieht." Sie überlegte einen Moment und fügte dann im Nachsatz hinzu: „Wenn ihr heiratet, kann ich Brautjungfer sein, oder?"

Bea hätte fast erheitert gelacht, da ihr nichts ferner lag, aber sie hielt sich zurück und antwortete nur sanft:

„Heutzutage muss man nicht heiraten, Schatz. Außerdem ist man dann schon viel länger zusammen."

„Aber wenn ihr mal heiratet, dann bin ich Brautjungfer, ja?", blieb Hannah hartnäckig.

Bea schmunzelte und nickte. „Ich werde dann an dich denken."

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