Kapitel 57
Es klingelte Sturm und seufzend stand Bea auf, um den Summer für die Tür zu betätigen und blieb im Türrahmen stehen, bereit für die routinemäßige Maßregelung. Doch noch bevor sie bei Jonas' Erscheinen dazu kam, ihn an seinen Schlüssel zu erinnern, schleuderte er ihr anklagend entgegen:
„Dein Scheiß-Macker hat mir weh getan!"
Das verschlug ihr komplett die Sprache, sie brachte lediglich ein entgeistertes "Was???!" heraus, während Jonas ihr demonstrativ die Handgelenke entgegen hielt.
„Da krieg ich bestimmt blaue Flecke", um dann empört zu ergänzen:
„Und er hat mich so heftig auf den Gehweg geschubst, dass ich jetzt Rückenschmerzen habe. Vielleicht kann ich morgen gar nicht spielen!"
Daraufhin verschwand er ohne ein weiteres Wort in seinem Zimmer und ließ Bea verwirrt stehen, in der die widerstreitendsten Gefühle tobten. Warum sollte Jannik so etwas tun? Aber andererseits: warum sollte Jonas so etwas behaupten, wenn es nicht wahr wäre?
Mit der Absicht, dem Vorfall auf den Grund zu gehen, folgte sie Jonas, doch er hatte seine Tür abgeschlossen und beantwortete ihr erst dezentes Klopfen, dann energischeres Pochen und schließlich die Aufforderung "Jonas! Was genau ist passiert?!" mit konstantem Schweigen, bis sie schließlich frustriert durch die Tür schrie:
„Jonas, mach sofort auf!"
„Lass mich!", ertönte es von drinnen und das war zumindest die Reaktion, die es brauchte, dass Bea ihn für den Moment in Ruhe ließ und stattdessen entschlossen zu ihrem Telefon griff.
„Hallo Honey."
Die Stimme am anderen Ende des Telefons klang abwartend, verhalten, dachte Bea, war sich aber nicht sicher, ob sie sich das möglicherweise nur einbildete, aus dem Hintergrund erklang Stimmengewirr und das Dröhnen einer in den Bahnhof einfahrenden U-Bahn.
„Sag mal...", begann sie unentschlossen und wusste nicht recht, wie sie anfangen sollte. Da auch Jannik lediglich schwieg, ohne sonst etwas zu äußern und sei es eine Frage, schien er zu vermuten, warum sie anrief. Bea versuchte, ihre Entrüstung in Schach zu halten und atmete tief ein.
„Jonas sagt, du hättest ihn zu Boden geschubst..."
Sie bemühte sich, den Satz nicht wie eine Anklage klingen zu lassen und erhoffte sich bei Jannik mehr Klarheit über das Vorgefallene. Unruhig ging sie im Schlafzimmer auf und ab; war es nicht erst vorhin gewesen, dass sie einträchtig und fröhlich miteinander gespielt hatten und sie schon die Hoffnung gehabt hatte, dass sich der ganze Unfrieden zwischen Jonas und Jannik endlich in Luft aufgelöst hatte?
Jannik schnaubte verächtlich. „Hat dir dein Sohn denn auch alles erzählt?!"
„Was meinst du?"
Unsicherheit mischte sich in Beas Stimme und müde fuhr sie sich mit der Hand über die Augen. In kurzen Worten berichtete Jannik seiner Freundin, was sich zugetragen hatte, und bei der Erwähnung der Kiste Bier zuckte sie zusammen und ließ sich auf ihr Bett sinken, dachte fassungslos: um Himmels willen, Jonas ist doch gerade mal dreizehn Jahre alt!
Im Hintergrund kündigte sich ein pochender Schmerz im Kopf an, den sie mit kreisenden Bewegungen weg zu massieren versuchte, während sie bereits die Worte zu hören glaubte, die Thorsten ihr an den Kopf werfen würde, wenn er davon hörte, wie sein Sohn sich die Freizeitgestaltung vorstellte. In diese Überlegungen versunken hörte sie kaum, wie Jannik längst fortfuhr:
„...sich auf mich gestürzt ... ihn festgehalten und dann fortgeschubst. Der soll sich nicht so anstellen. Er ist schließlich kein Baby mehr."
Die letzten beiden Sätze kamen beißend und offenbarten Bea, wie wütend Jannik war. Mit dem allmählichen Begreifen, dass beide gleichermaßen schuld an dem Vorfall waren, schüttelte Bea ratlos ihren Kopf und versuchte dann, ihren Sohn zu entschuldigen.
„Jan, Jonas ist erst dreizehn. Der ist halt noch ein Kind. Du bist hier der Erwachsene. Kannst du dich da nicht beherrschen?"
Janniks dämliche Sprühaktion kam ihr in den Sinn, frustriert ließ sie ihren Kopf in die Hände sinken und begann für einen Moment an der Reife ihres Freundes zu zweifeln. Diese Sache war für ihn glimpflich ausgegangen, aber hatte er wirklich begriffen, wie unvernünftig er sich verhalten hatte? Und war das wirklich nur eine Einmalaktion gewesen oder überschritten auch andere seiner politischen Aktionen die Schwelle zwischen legal und strafbar?
Noch bevor sie darüber nachdenken konnte, wie sehr und vor allem warum sie diese Fragen bislang verdrängt hatte, war vom anderen Ende der Telefonverbindung ein scharfes Einatmen zu hören, gefolgt von einem bitteren „Du hast ja keine Ahnung".
Bei diesen Worten horchte sie auf und fragte, leicht alarmiert: „Was meinst du?"
Doch Jannik wiegelte bereits kurz und knapp ab. „Schon gut, vergiss es!"
Mit einem Ruck richtete Bea sich auf und starrte in ihr Handy, als könnte sie dadurch Janniks Anwesenheit herbei beamen.
„Du verheimlichst mir doch etwas!"
Mit der Fähigkeit, allein durch seine Stimme eine bestimmte Wirkung zu erzielen, erwiderte er nun in überraschend sanftem Ton:
„Bea, vergiss einfach, was ich gesagt habe, ok?"
Doch dieses Mal war Bea nicht bereit, das Thema fallen zu lassen, sondern beharrte auf eine Antwort.
„Jetzt sag schon! Und erzähl mir nicht, dass ich das nicht wissen will!"
„Das willst du gar nicht wissen."
Das Amüsement in seinem mokanten Tonfall war nicht zu überhören. Dann war im Hintergrund wieder das dröhnende Rauschen einer fahrenden U-Bahn zu vernehmen. Bea wartete, bis das Geräusch verhallt war und forderte vehement:
„Jannik Kerner! Du erzählst mir jetzt sofort, was los ist!"
„Nein", lehnte Jannik schlicht, aber resolut ab.
Verdrossen schlug Bea auf ihr Kissen ein, denn angesichts ihres gestrigen Streits war sie nicht auf eine Fortsetzung der Auseinandersetzung erpicht.
„Hör mal, lass uns heute Abend den Kinofilm sausen lassen und komm stattdessen zu mir", schlug Jannik nunmehr aufgeräumt vor. „Und morgen fahren wir beide irgendwohin, mal gucken." Mit einer kleinen Verzögerung, aber nichtdestotrotz voller Entschlossenheit, setzte er hinzu:
„Ich glaube, das Familiäre wird mir gerade etwas zu viel."
Da war er, der Satz, den Bea die ganze Zeit befürchtet hatte! Betroffen schloss sie die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln, verzichtete auf weiteres Nachhaken und stimmte stattdessen so locker wie möglich zu:
„Klar, können wir gern so machen. Und ich guck mal, dass meine Eltern nach den Ferien für ein verlängertes Wochenende zu mir kommen und auf die Kinder aufpassen. Dann können wir von Donnerstag bis Sonntag irgendwo hinfahren."
„Hört sich verheißungsvoll an."
Jannik lachte nunmehr gut gelaunt und verwies dann auf eine erneut einfahrende U-Bahn. „Hier kommt meine Bahn, ich muss einsteigen. Wir sehen uns heute Abend. Ich freu mich schon, Honey!"
Mit diesen Worten legte er auf, noch bevor Bea etwas erwidern konnte und sie stellte sich vor, wie er es mit seinem üblichen frechen Augenzwinkern sagte, ließ sich langsam mit dem Rücken gegen die Bettlehne rutschen und dachte, dass es vermutlich tatsächlich ganz gut wäre, wenn sie und Jannik wieder mehr Zeit ohne ihre Kinder verbringen würden. Wenn es bloß nicht so schwer zu organisieren wäre...
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