Kapitel 54

Jannik scrollte über sein Display, ohne dass irgendeine der Nachrichten geeignet genug war, sein Interesse zu wecken.

„Irgendetwas Spannendes?", fragte Bea an seiner Seite und schlug die Beine übereinander.

„Nö."

Er steckte das Handy in seine Hosentasche und ließ seine Augen über das sich stetig füllende Bahnabteil wandern, das zunehmend aus Partyvolk bestand, deren Ziel vermutlich ebenfalls der Kiez war, aber er entdeckte kein bekanntes Gesicht. Mit dem Zugleiten der Abteiltüren wurde es sofort stickig im Abteil, dessen Luft den Mitfahrenden für einen Moment Knoblauchduft und süßliches Parfüm bescherte, bevor die Wolke im Sog der Lüftungsanlage zum nächsten Abteil weiterdriftete.

„Guck mal da", mit einem Nicken wies Bea auf eine Gruppe von jungen Frauen mit rosa Federschmuck im Stil der 20er Jahre, die sich dadurch als eine Junggesellinnenparty zu erkennen gab, und gerade zu debattieren schienen, ob eine Aufgabenerfüllung in der dicht gefüllten Bahn erfolgsversprechend sei. Zusätzlich zu der neckischen Kopfbedeckung trugen alle enge, tiefausgeschnittene Overalls in Pink, deren Hosenbeine knapp unterm Po fransig abgeschnitten waren und dadurch den Blick auf netzstrumpfbekleidete Beine freigaben, die in langen strassgeschmückten, ebenfalls rosafarbenen Stiefeln endeten.

„Das muss ja ein Vermögen gekostet haben", murmelte Bea gedankenverloren und schien mit ihren Gedanken woanders.

„Hattest du auch eine Junggesellinnenparty?", wollte Jannik wissen, ohne den Blick von den fünf Grazien zu nehmen. 

Bea bestätigte das, schränkte aber ein: „In abgemilderter Form. Ich war ja schwanger." Sie lachte plötzlich hell auf. „Wir trugen T-Shirts mit der Aufschrift Babys first hen party". Da dachten wir noch, dass Jonas eine Janina werden würde." Sie schmunzelte vergnügt und fuhr fort:

„Nicht nur einmal wurde ich angesprochen, ob ich denn so wenig Vertrauen in die Ehe hätte, dass ich gleich schon von weiteren Hochzeiten ausgehen würde."

Jannik wandte sich lachend zu Bea um. „Wann war denn das? Hat man dir deine Schwangerschaft noch nicht angesehen?"

Bea zuckte mit den Schultern. „Nicht besonders. Aber so ein Outfit hätten wir wohl auch trotzdem nicht getragen."

„Also mir gefällt's...", grinste Jannik, was ihm einen vorwurfsvollen Rippenstoß einbrachte, dessen Wirkung gleich wieder durch Beas amüsiertes Lächeln aufgehoben wurde.

„Kann ich mir vorstellen." Sie schürzte belustigt die Lippen, reckte sich und hielt dann bewusst übertrieben nach männlichen Junggesellen Ausschau. „Ich will auch etwas zum Gucken haben."

Das bescherte ihnen die Aufmerksamkeit der rosa Junggesellinnen, von denen eine in ihre Richtung deutete.

„Oh nein, was habe ich getan!"

Lachend vergrub Bea ihr Gesicht in ihren Händen, während Jannik ihr feixend ein Dankeschön zuraunte und dann interessiert beobachtete, wie sich eine der Frauen aus der Gruppe loslöste und zu ihnen durchschlängelte, bis sie direkt vor ihnen stand, eine zierliche kleine Person, deren niedliche Gesichtszüge fast unter dem um Aufmerksamkeit heischenden Make-up verschwanden.

„Ich habe eine richtig schwere Aufgabe bekommen", säuselte sie, aber erweckte nicht den Eindruck, als ob es sie groß stören würde.

„Lass hören!", ermunterte Jannik und vermied den Blick auf ihr Dekolleté, der Anwesenheit Beas neben ihm nur zu bewusst.

„Ich soll heute Abend zehn männliche Jungfrauen ausfindig machen. Dazu gehörst du doch, oder?" Kokett klimperte sie mit ihren Wimpern.

„Absolut", bestätigte Jannik mit todernstem Gesichtsausdruck, während Bea neben ihm Mühe hatte, sich das Lachen zu verkneifen.

„Toll!" Die zukünftige Braut strahlte. „Und wenn du mir dann noch einen Kuss gibst, habe ich die Aufgabe erfüllt."

Mit entschuldigendem Lächeln wandte sie sich an Bea.

„Ich hoffe, das ist okay für dich. Nicht dass dein Süßer Ärger kriegt."

Er selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, Bea um Erlaubnis zu fragen, doch sie war zum Glück souverän genug, keine Einwände vorzubringen.

„Kein Problem."

Nur einen Moment später reckte ihm die Braut ihr Gesicht entgegen, so dass er ihr einen Kuss auf die Wange drücken konnte, der an Flüchtigkeit nicht zu überbieten war. Aus dem Hintergrund waren die zufriedenen Pfiffe ihrer Freundinnen zu hören.

„Danke", sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, stand genauso rasch wieder auf und zupfte aus ihrer Tasche ein Plastikröschen. „Hier, für dich."

Unfähig, sich zurück zu halten, versetzte er mit einem Augenzwinkern: „Immer gerne!"

Fröhlich winkte sie ihm noch einmal zu und kehrte dann zu ihrer Gruppe zurück. Die Umstehenden schmunzelten leicht und Jannik lächelte zufrieden.

„Ein wahrer Pfadfinder, jeden Tag eine gute Tat", kommentierte Bea amüsiert. Der Rahmen des in Hamburg nicht selten vorkommenden Junggesellinnen-Abschieds ließ sie gelassener sein als sie es ansonsten bei dieser flüchtigen Intimität gewesen wäre.

„Was tut man nicht alles, um einer jungen Dame aus der Patsche zu helfen", gab Jannik belustigt zurück und fuhr sich durch die Haare.

„Und ich hatte immer noch nicht meine Chance..." Bea seufzte theatralisch.

„Aber vielleicht nachher. Komm, wir müssen aussteigen!"

Er nahm ihre Hand und zog sie hoch. Die funkelnden Lichter der Reeperbahn blinkten verlockend, als sie im Strom der übrigen Menschen die Straße überquerten und Bea warf einen Blick auf die Tanzenden Türme, zwei miteinander verbundene Hochhäuer, die durch einen Knick in der Fassadenkonstruktion einem tanzenden Paar oder den X-Beinen einer Prostituierten ähnelten.

„Ins Clouds wollte ich auch immer mal", äußerte sie träumerisch und sah zu der im vierundzwanzigsten Stock gelegenen Dachterrasse empor, so dass Jannik diese Idee im Stillen als eine Location für Beas Geburtstag in ein paar Wochen in Erwägung zog.

„Im letzten Skiurlaub hatte ein Pärchen davon geschwärmt", begeisterte sich Bea und erweckte durch ihre strahlende Miene den Eindruck, als ob sie sie am liebsten sofort hinauffahren würde.

„Apropos Urlaub", er ergriff ihre Hand und schwenkte sie beim Gehen ausgelassen hin und her, „Anfang Oktober bin ich ja auf Malle. Wie wäre es, wenn wir im Anschluss daran noch ein paar schöne Tage zu zweit in einer Finca verbringen? Mitten in den Bergen, aber mit Pool und allem dran?"

Er konnte sich das direkt vorstellen und die Begeisterung verlieh seinen Augen eine Intensität, die auch von der Dunkelheit der anbrechenden Nacht nicht geschluckt wurde. Über Beas Gesicht flog jedoch ein Schatten, was seiner Euphorie augenblicklich einen Dämpfer verpasste.

„Was ist?", wollte er direkt wissen, ohne sich mit Grübeleien aufzuhalten.

„Das ist eine super Idee, wirklich", sie blieb stehen und lächelte schief, was kaum dazu beitrug, ihre Worte zu bekräftigen, daher setzte Jannik ungeduldig nach:

„Aber?"

Bea zog die Mundwinkel bedauernd nach unten.

„Da sind Schulferien, die Kinder sind zu Hause, da kann ich nicht weg."

Jannik seufzte tief und fuhr sich unnötigerweise mit der Hand durch die Haare, nachdenklich blieb sein Blick an der Leuchtreklame eines Erotikcenters einige Meter entfernt hängen, bevor er mit deutlich hörbarer Hoffnung in der Stimme einen alternativen Zeitpunkt vorschlug:

„Wann sind die Ferien zu Ende? Mitte Oktober? Dann lass uns das anschließend machen!"

Nun war es an Bea zu seufzen und leise enthüllte sie eine bittere Tatsache:

"Ich habe leider dieses Jahr keinen Urlaub mehr, Jan. Fünfeinhalb Wochen sind schon weg und die restlichen Tage gehen für die Weihnachtsferien drauf."

Er weigerte sich, das Nein zu akzeptieren und zu sehen, wie sich seine schöne Idee in Luft auflöste.

„Wenn du doch ohnehin nicht mit den Kindern wegfährst, dann kannst du doch nach Mallorca fliegen. Bestimmt können deine Eltern ein paar Tage aufpassen", argumentierte er mit einer Vehemenz, die seiner Stimme unbeabsichtigt Schärfe verlieh.

Bea schüttelte dennoch den Kopf.

„Das geht nicht. Ich habe den Kindern versprochen, dass wir ein paar Dinge machen, die im Alltag sonst immer zu kurz kommen. Außerdem wollen wir vielleicht Verwandte in Sachsen besuchen. Tut mir leid."

Mit einem Ruck landete Jannik auf den Boden der Tatsachen und starrte sie einen Moment lediglich stumm an, in seiner Enttäuschung nicht bemerkend, wie bedrückt auch Bea aussah. Dann ließ er schließlich seinen Zorn, bereits genährt von so manchem Mal, in dem Bea ihre gemeinsame Zeit zugunsten der Kinder hatte einschränken müssen, gewähren, ohne ihm Einhalt zu gebieten.

„Merkst du eigentlich, dass du immer weniger Zeit hast!?", warf er ihr aufgebracht vor und ließ ihre Hand fallen, als wäre sie ein glühendes Stück Kohle.

„Einmal abends unter der Woche, und dann Freitag- und Samstagabend und einen Teil des Sonntags – das reicht mir nicht! Ich will mehr Zeit mit dir verbringen!"

„Das weiß ich ja! Will ich ja auch! Aber ich habe nun mal Kinder. Ich kann mich doch nicht zerreißen!", warb Bea um Verständnis und sah ihn bittend an, doch in Janniks aufgewühlter Stimmung gab es keinen Raum für ihr Dilemma. Sehnsüchtig sah er zu den leuchtenden Lichtern der Reeperbahn hinüber, an der sich wie an einer Perlenschnur Clubs, Diskos, Bars und Kneipen aufreihten, die ihn allesamt zu rufen schienen, die Alltagssorgen zu vergessen.

„Du bist erwachsen, aber Jonas und Hannah sind noch Kinder, die brauchen mich noch, auch wenn sie nicht mehr jede freie Minute mit mir verbringen wollen", versuchte Bea ihm ihre Lage zu erklären. „Verstehst du das nicht?"

Zwar fand Jannik ihr Argument sachlich durchaus nachvollziehbar, allein das Gefühl, immer zurückstecken zu müssen, ließ ihn nichtdestrotz knapp mit einem kühlen Nein antworten. Er ignorierte den verletzten Blick, den seine Äußerung hervorgerufen hatte, die zu einem schmalen Strich zusammengepressten Lippen und unbewegten Augen, die mit Mühe Tränen zu unterdrücken schienen.

Dann warf Bea mit einer entschlossenen Bewegung ihre Haare in den Nacken und gab in bitterem Tonfall zurück:

„Ich hätte wissen müssen, worauf ich mich mit dir einlasse. Du bist offenbar nur schönwettergeeignet. Aber woher soll's auch kommen, wenn einem alles zufliegt..."

Jannick ließ sich nicht anmerken, dass ihn dieser Kommentar traf. Hatte er nicht seit dem Sommer alles gemacht, um das sie gebeten hatte und mehr als einmal die Launen ihres Sohnes ertragen? Der Vorwurf machte ihn ganz gegen seine Gewohnheit sprachlos und für einen Augenblick konnte er sie nur empört anstarren. Bea nutzte das Schweigen für einen finalen Kommentar:

„Mir ist die Lust auf Feiern vergangen. Ich fahre nach Hause." Brüsk wandte sie sich um und entfernte sich.

Befreit von dem Überraschungsmoment, das noch eben seine Zunge gelähmt hatte, schrie er ihr daraufhin zornig hinterher: „Nur zu, mach das, ich kann mich auch ohne dich prächtig amüsieren!"

Er drehte sich nun ebenfalls um und verschwand alsbald in der Menge, durch die er sich von innerer Wut getrieben unhöflich hindurch schlängelte, dabei unbedacht einige Passanten anrempelnd, ohne dass er es überhaupt bemerkte. Er war sauer auf sich, dass er sich überhaupt in diese Situation gebracht hatte und damals diese unbekannte Frau angerufen hatte, nur weil sie beide die gleiche verrückte Idee mit dem Kino gehabt hatten und sie ihm optisch obendrein auch noch gut gefallen hatte. Ich hätte es sofort beenden sollen, als Bea mir von ihren Kindern berichtete, fuhr es ihm durch den Kopf, doch da war es natürlich schon viel zu spät gewesen.

Und jetzt stand er da und schmachtete ihr nach, wie ein liebeskranker Hund, als wäre er nicht in der Lage, jederzeit eine Neue klar zu machen. Frustriert trat er gegen einen im Weg stehenden Laternenpfahl, doch alles, war er davon hatte, war ein stechender Schmerz an seinen Zehen.

Im Filou, wo er auf seine Freunde traf, zeigte er sich mit Getränken ausgesprochen spendierfreudig und schmiss mehrere Runden, ohne auf die Fragen seiner Freunde nach Bea mehr zu antworten als „Heute nicht."

Anschließend stürzte er sich in das Getümmel der Tanzenden und versuchte, sich in der wummernden Musik zu verlieren, um jeden Gedanken an Bea zu vertreiben. Es war weit nach Mitternacht, als ihn Erschöpfung zum Innehalten zwang und er sein Handy zückte, das Display zeigte ihm drei verpasste Anrufe sowie mehrere Chatnachrichten von Bea:

„Melde dich bitte."

„Lass uns reden."

„War blöd von mir, tut mir leid!"

„Jan?", zusammen mit einem traurigem Smiley und als letztes ein „Miss you...!!!", samt drei roter Herzen.

Jannik seufzte tief, auch er vermisste ihr perlendes Lachen, ihre Art, auch die kleinen, unbedeutenden Dinge wahrzunehmen und sich daran zu erfreuen, ihre fröhliche Ausgelassenheit beim Tanzen. Stumm starrte er auf die Nachrichten, während um ihn herum die Musik und die Fetzen von Unterhaltungen brandeten, und er war von einer Unentschlossenheit, die ihn selten befiel. Er erinnerte sich daran, mit welcher Entschlossenheit er die ungewohnte Herausforderung angenommen hatte, in der sicheren Überzeugung, sie bewältigen zu können und mit dem Ehrgeiz, etwas zu erreichen, das ihm nicht einfach in den Schoß fiel.

Dabei wurde ihm klar, dass Aufgeben keine Option war, dass das ein Weg wäre, den er sich nicht verzeihen würde. Unabhängig davon genoss er jede Minute mit Bea und unter dem Strich betrachtet war wenig Zeit mit ihr noch immer besser als gar keine Zeit mit ihr zu verbringen. Die Reaktion seiner Körpers nahm seinen Entschluss vorweg, er fühlte sich ausgesprochen erleichtert und von der vorherigen, zornigen Anspannung war nunmehr nichts mehr zu spüren.

Kaum beachtete er die Partystimmung seiner Freunde und Kommilitonen und die Versuche, ihn in ihre Ausgelassenheit mit einzubeziehen, stattdessen fuhren seine Finger wie von selbst über das Display.

„Miss you, too!"

Bea war sofort online, als hätte sie nur auf seine Reaktion gewartet.

„Fühle mich in meiner Wohnung sehr alleine..."

„Was kann man da nur machen?", gefolgt von einem zwinkernden Smiley.

„Du kannst mir einen Briefträger vorbei schicken. Aber deine Anwesenheit wäre natürlich auch sehr willkommen..."

Jannik lächelte. „Ich bin jedenfalls beständiger als ein Briefträger..."

„Das passt gut. Ich bin auch mehr an Romanen als an Kurzgeschichten interessiert."

Jannik konnte förmlich ihr Lachen zwischen den Wörtern hören.

„Und was für ein Roman sind wir?"

„Weiß ich noch nicht. Vielleicht eine romantische Dramödie? Solange es ein Happy end gibt, geht alles!"

„Das haben wir selbst in der Hand."

„Ja, das stimmt... Tut mir leid, was ich gesagt habe."

„Schon vergessen. Und ich verstehe ja, dass es schwierig ist, auf zwei Hochzeiten zu tanzen."

„Danke!" Und nur Sekunden später folgte die zweite Nachricht: „Im Moment findet nur eine statt – also her mit dir! ;)"

Jannik fühlte sich frei genug, wieder zu scherzen.

„Sobald ich mich von den ganzen weiblichen Fans losgemacht habe."

„Der wahre Fan wartet in Hamm – gib dir ein bisschen Mühe ;)"

„Krieg ich hin!"

„Nicht weniger habe ich von dir erwartet :). Ich bleibe bis dahin wach."

„Bis gleich! Mache mich jetzt auf den Weg."

Die Antwort war ein küssender Smiley. Jannik lächelte versonnen. Wann hatte er sich das letzte Mal schon um diese Zeit vom Partytrubel verabschiedet? Anscheinend wurde er langsam alt... Doch statt das ihn das beunruhigte, spürte er lediglich eine tiefe Gelassenheit, die ihm deutlich machte, dass er trotz aller Schwierigkeiten die richtige Entscheidung getroffen hatte.

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