Kapitel 51
Lachend verließen Bea und ihre Kollegen die Kantine und nicht zum ersten Mal fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, wie gut sie es in diesem Team getroffen hatte; es gab keinen einzigen Kollegen, der ihr unsympathisch war. Wenngleich sie sich nicht oft privat trafen, war dennoch ein Teamgeist zwischen ihnen zu spüren, trotz der verschiedenen Aufgaben, die sie alle inne hatten, und der insbesondere in der gemeinsamen Mittagsrunde seine Ausprägung fand.
„Soll ich dir auch einen Kaffee holen?", bot Bea an, bevor ihre Kollegin Ines in der gekachelten Abteilung verschwand, und mit einem raschen Nicken als Antwort stieg sie schon einmal die verbleibenden Stufen zu ihrem Stockwerk empor und verschwand in der kleinen Küche, aus der das altersschwache Schnauben der Kaffeemaschine davon kündete, dass gerade jemand neuen Kaffee aufgesetzt hatte.
Da es sich nicht lohnte, in ihr Büro zu verschwinden, ließ sich Bea halb auf dem Heizkörper nieder und sah in das trostlose Grau hinaus, das die Stadt heute gefangen hielt. Dabei fiel ihr Blick auf das Boulevardblatt, das jemand achtlos auf der Fensterbank liegengelassen hatte, und gelangweilt blätterte sie die Seiten durch. Eine Überschrift zum Thema Altersvorsorge weckte ihr Interesse, aber der Artikel war so platt verfasst, dass sie im Lesen inne hielt, ohne den Artikel vollständig zur Kenntnis genommen zu haben.
Während die Kaffeemaschine bereits verheißungsvollen Duft verströmte, glättete Bea mit den Fingerspitzen die Zeitungsseiten, um sich irgendetwas zu tun zu geben. Dabei blieben ihre Augen an dem Wort Student und Immobilienmaklerin hängen und neugierig überflog sie den nur einige Zeilen langen Artikel, der von „Farbschmierereien eines Studenten, Sohn einer bekannten Immobilien-Maklerin" berichtete, die vergangene Nacht auf dem Eingangstor eines Bauriesen hinterlassen worden waren. Irritiert schob Bea die Zeitung von sich fort. Wenngleich keine Namen genannt worden waren, so war doch die Häufung von Zufällen zu groß, als dass es sich um ihr unbekannte Personen handeln könnte. Doch was genau vorgefallen war, war anhand der paar Zeilen unklar geblieben.
Die Tür fiel lauthals ins Schloss, als Ines herein kam, doch Bea beachtete ihre Kollegin kaum, sie hatte ihre Stirn in Falten gezogen und hatte Mühe zu begreifen, warum Jannik ein fremdes Gartentor beschmiert haben sollte. Wenn er es denn gewesen war. Erschrocken blickte sie auf, als Ines ihr einen dampfenden Kaffebecher vor die Nase stellte, lächelte ihr dankbar zu, zog dann ihr Handy aus der Tasche und ging kurz in den Flur hinaus, um bei Jannik anzurufen, doch vergeblich, ihre Anrufe liefen ins Leere und ließen Bea zunehmend besorgter zurück.
Konnte es sein, dass sie sich den Sachverhalt so zusammenreimte, wie er ihr plausibel erschien, während es in Wirklichkeit ganz anders gewesen war, ja sogar völlig andere Personen gemeint waren? Und was sagte es über sie aus, dass sie Jannik so eine Tat tatsächlich zutraute? Ungeduldig versuchte sie es erneut bei ihm, doch auch dieses Mal erntete sie lediglich ein Freizeichen und bei Whats App war es nicht anders, Jannik war zwar heute Vormittag online gewesen, jetzt aber offensichtlich offline, was an sich bereits sehr ungewöhnlich war.
Bea war viel zu unruhig, um einfach zur Tagesordnung über zu gehen, sie schnappte sich ihre Tasche und verließ unter einem Vorwand das Büro. Wie automatisch lenkte sie ihren Wagen nach Eimsbüttel und versuchte sich damit zu beruhigen, dass sie sich ganz bestimmt täuschte. Doch warum war Jannik nicht erreichbar?
In Eimsbüttel fuhr sie mit wachsender Ungeduld drei Mal um den Block, bevor sie einen Parkplatz fand und mehr schlecht als recht einscherte. Das Drücken des Klingelknopfes und die Nennung ihres Namens ermöglichte ihr sofort Zugang ins Treppenhaus, obwohl es Luis war, der heiter auf ihr Klingeln geantwortet hatte. Er war auch derjenige, der ihr mit einem neutralen Lächeln die Tür öffnete, was entweder bedeute, dass Bea mit ihren Überlegungen völlig auf dem Holzweg war oder dass Luis nichts von alldem wusste.
„Du weißt ja, wo du ihn findest", teilte Luis ohne lange Worte mit und verschwand in der Küche, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür hinter sich zu zuziehen, was Bea einen Anblick völligen Chaos bescherte, als sie ihm hinterher sah. Sie schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass Jannik offenbar vor jedem ihrer Besuche ein wenig für Ordnung sorgte.
Die Lautstärke eines Videospiels war selbst hinter der geschlossenen Tür zu Janniks Zimmer nicht zu überhören, so dass ihr Klopfen völlig darin unterging. Etwas burschikoser bollerte sie mit der Faust gegen die Tür, woraufhin ihr ein unfreundliches Was ist?! entgegen schlug, was sie jedoch nicht davon abhielt, entschlossen die Tür aufzureißen und einzutreten.
„Bea?"
Verblüffung malte sich auf Janniks Gesicht, als er ihrer ansichtig wurde und der Ton des Computers verstummte, doch kurz darauf nahm sein Gesicht einen Ausdruck an, der sich nur als missmutig beschreiben ließ. Er war offenbar alles andere als erfreut, sie zu sehen, schälte sich nichtdestotrotz aus seiner Bettdecke und trat auf sie zu, um sie mit einem flüchtigen Kuss auf die Lippen zu begrüßen, was mehr als alles andere demonstrierte, wie unwillkommen sie im Moment war. Sein untypisches Verhalten veranlasste Bea zu der Frage, ob er krank wäre, doch Jannik schüttelte nur den Kopf und kam mit einer Gegenfrage, während er den Geruch nach Schweiß und Wärme verströmte, den dem Körper anhing, wenn man längere Zeit wach im Bett gelegen hatte.
„Was machst du hier? Ich dachte, du arbeitest."
Ohne auf ihre Antwort zu warten, wandte er sich um und verzog sich wieder auf das Bett.
„Tu ich eigentlich auch, aber du warst nirgendwo zu erreichen."
Sie folgte ihm, schlüpfte aus ihrer Jacke, die sie nachlässig auf den Schreibtisch segeln ließ, und drehte den Schreibtischstuhl, so dass sie sich rittlings darauf niederlassen konnte.
„Wenn du jedes Mal vorbei kommst, wenn du mich mal nicht erreichst, hast du gut zu tun", seufzte Jannik und klang schon weniger abweisend.
„Kam eigentlich bislang nicht so oft vor", versetzte Bea, denn gemeinhin war es eher ihre Wenigkeit, die ab und an, insbesondere während der Arbeit, nicht zu erreichen war.
Jannik schwieg dazu und sah sie abwartend an, und getrieben von dem Verlangen, dieser äußerst merkwürdigen Atmosphäre ein Ende zu setzen, konfrontierte Bea ihren Freund direkt mit dem, was sie gerade beschäftigte.
„Stimmt es, was die Zeitung schreibt?"
„Kommt darauf an, was sie schreibt", gab Jannik gedehnt zurück, hielt ihrem Blick stand und verschränkte die Arme vor der Brust.
Bea zog den Zeitungsausschnitt hervor und ließ ihn auf Janniks Decke segeln. Ein Stirnrunzeln überzog sein Gesicht, als er ihn las.
„Muss ich wohl bestätigen", gab er anschließend knapp zurück und beobachtete aufmerksam jede ihrer Regungen. Bea presste die Lippen aufeinander, um ihre erste Reaktion, wie bescheuert er eigentlich war, zu verbergen, so eine dämliche Aktion hätte sie eher von ihrem Teenager-Sohn erwartet.
„Und, willst du mir nun einen Vortrag über Recht und Ordnung halten?", ging Jannik jetzt mit einem ironischen Unterton in die Offensive und nahm Bea daher den Wind aus den Segeln, sie konnte ihre entsprechenden Anmerkungen gerade noch zurückhalten und kommentierte stattdessen, mit dem Bemühen um eine Leichtigkeit, die sie gar nicht besaß:
„Ich wusste gar nicht, dass du sprühst."
„Sei nicht albern, Bea, natürlich schmiere ich nicht einfach irgendwelche Wände bunt an", kam es ungeduldig von Jannik, bevor er fortfuhr: "Wusstest du, dass der Sohn von diesem Bauunternehmer ein strammer Nazi ist?! Der bedroht und verprügelt unschuldige Personen, die nicht in sein Weltbild passen..."
„Und deshalb beschädigst du dessen Eigentum?!" unterbrach Bea fassungslos.
„Erzähl mir nicht, dass du die Beschädigung von Sachen mit Körperverletzung auf eine Stufe stellst!", gab Jannik hitzig zurück.
„Nein, aber..."
„Weißt du, was ich gesprüht habe? Nazis raus! Damit die Menschen wissen, mit wem sie es hier zu tun haben!"
Seine Augen schienen sie zu warnen, ihm bloß nicht zu widersprechen, doch Bea ließ sich davon nicht einschüchtern.
„Hat ja richtig viel gebracht, was?", erwiderte sie sarkastisch und wies mit einem Nicken auf den Zeitungsschnipsel. „Jetzt weiß natürlich jeder, um wen es geht."
Janniks Reaktion war ein gereiztes Schnauben, bevor er mit einem verdrossenen Gesichtsausdruck zugab:
„Ich weiß selbst, wie hirnrissig das war!"
Entgeistert schüttelte Bea den Kopf. „Warum hast du es dann überhaupt gemacht?"
Sie konnte sein Verhalten überhaupt nicht verstehen. Er war doch keine siebzehn mehr und eigentlich viel zu intelligent für so eine absolut bescheuerte Aktion. Hatte sie jedenfalls gedacht...
Jannik blieb ihr die Antwort schuldig. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck stand er auf, zog mit ruckartigen Bewegungen ein Sweatshirt aus dem Schrank und schlüpfte hinein.
Bea verbiss sich eine Wiederholung ihrer Frage, holte tief Luft und fragte dann mit erzwungener Ruhe:
„Kannst du mir sachlich erzählen, was genau passiert ist? Vielleicht kann ich dir helfen..."
Sie seufzte leise, denn da die Polizei involviert gewesen war, konnte der ganze Vorfall nun rechtliche Folgen haben.
„Hör zu, Bea", in zwei Schritten war Jannik bei ihr und stand so dicht, dass sie zu ihm hochschauen musste, „Ich will dich da nicht reinziehen, okay? Das ist mein Fehler und ich werde dafür gerade stehen."
Fast widerwillig war Bea ein wenig beeindruckt von seiner Entschlossenheit und der Tatsache, dass er offenbar nicht mit ihrem juristischen Sachverstand im Hintergrund geplant gehabt hatte.
"Lass uns das doch einfach zwischen uns vergessen..."
Janniks Stimme hatte plötzlich jedes Angriffslustige verloren und einen sanften Tonfall angenommen und unvermittelt fragte sich Bea, ob er ihr überhaupt von dem Vorfall berichtet hätte, wenn sie es nicht von alleine erfahren hätte.
Trotz ihres Schweigens wiederholte er seine Frage nicht mehr, sondern zog es vor, mit seinem Zeigefinger sanft von der Stirn aus über Nasenrücken, Lippen und Kinn bis zu ihrem Kehlkopf hinunter zu streichen, bevor er seine Lippen zart auf die ihren presste. Bea zögerte einen Augenblick, aber ließ sich dann nur zu gern von dem unerfreulichen Thema ablenken. Sowie von der Frage, was sie von der unerwarteten Unreife ihres Freundes halten sollte...
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