Kapitel 44

„Der ist aber sehr jung", die Stimme ihrer Mutter klang missbilligend, als sie zusammen mit Bea beim Auto stehen geblieben war, während die Männer versuchten, den von innen steckenden Schlüssel zu entfernen, um die Haustür mit dem Ersatzschlüssel öffnen zu können.

Ein kühler Windhauch, der bereits den nahen Herbst ankündigte, ließ beide Frauen frösteln und Bea schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Die Bemerkung ihre Mutter war nicht unerwartet gekommen, dennoch traf sie sie, was, vermutete Bea, wohl auch daran lag, dass sie selbst manchmal daran zweifelte, dass der Altersunterschied auf Dauer gut gehen konnte.

Ohne sich ihre Gedanken anmerken zu lassen, widersprach sie jedoch automatisch: "Das ist doch egal."

Ihre Mutter hob energisch ihr Kinn an und blickte zu ihrer Tochter hoch, sie zerrte dabei unwillkürlich ruckartig an der Leine, so dass Fredo kurz zu winseln begann. „Wenn er Kinder haben will und du keine mehr kriegen kannst, ist das nicht egal", betonte sie bedeutsam.

„Er will aber keine Kinder", entgegnete Bea und versenkte die Hände in der Jackentasche, „Das wäre also geklärt."

„Wart's ab, das kann ja noch kommen, wenn er älter wird und überall kleine Babys bei seinen Freunden sieht", prophezeite ihre Mutter mit einem düsteren Gesichtsausdruck und lockerte die Leine, so dass Fredo neugierig an einem Grasbüschel unter einer Hecke herumschnüffeln konnte.

Dieses Argument war nicht ganz von der Hand zu weisen und Bea daher auch nicht neu, gerade deswegen legte sie keinen gesteigerten Wert darauf, darüber mit ihrer Mutter zu diskutieren. Zumal Jannik mehr als einmal von sich gegeben hatte, dass ihn Familie nicht interessiere und er keine große Lust verspürte, sein Tun und Lassen an den Bedürfnissen kleiner Kinder auszurichten, und dass er froh darüber war, dass ihre Kinder schon einigermaßen groß und selbständig waren.

„Deine To..." Er hatte sich rechtzeitig gestoppt und sich korrigiert, „Deine Kinder sind die einzigen, mit denen ich mich abgebe."

Dabei hatte er gelacht, doch Bea war es nicht entgangen – war es erst nur Jonas gewesen, der Jannik ablehnte, so war die Abneigung zwischen den beiden inzwischen gegenseitig.

Der weitere Kommentar ihrer Mutter riss Bea aus ihren Gedanken:

„Wie viele Jahre seid ihr auseinander? Zehn? Fünfzehn? Das heißt, wenn du Siebzig bist, ist er noch nicht einmal Sechzig!"

Wie verrückt ist das denn, fuhr es Bea durch den Kopf, so weit in die Zukunft dachte sie nun wirklich nicht. Sie schwang herum und starrte ihre Mutter verärgert an.

„Mama! Kannst du dich nicht einfach für mich freuen? Ich bin jetzt so glücklich wie schon seit Jahren nicht mehr und du redest alles schlecht!"

Ihre Mutter verstummte und eine leichte Röte überzog ihr Gesicht, sie besaß jedoch die Größe, ihren Fehler zuzugeben und entschuldigte sich daher verlegen:

"Du hast Recht. Es tut mir leid."

Sie streckte die Hand aus und berührte Bea flüchtig an der Schulter, dann drehte sie sich um und rief Fredo zurück, der bereits am Ende des Rasens ins Gebüsch kroch. Als sie ihre Tochter wieder anblickte, lag ein mildes Lächeln auf ihrem Gesicht und zuversichtlich kommentierte sie:

"Du wirst das schon alles richtig machen."

Bea war überrascht, wie gut ihr diese Einschätzung tat, es war, als hätte sie die ganze Zeit nur darauf gewartet. Dass ihr Sohn Jannik so ablehnte, machte ihr zu schaffen, und nun auch noch Janniks deutlich kühleres Verhalten gegenüber Jonas, sofern sie sich überhaupt begegneten... Eine zusätzliche Ablehnung durch ihre Eltern hätte ihr die ganze Situation noch schwerer gemacht.

Bea war klar, dass es vernünftig wäre, Jannik einmal nach dem Grund zu fragen, denn dass sich nichts von alleine entspannte, war offensichtlich. Andererseits war es einfacher, diese Situation zu ignorieren und somit zu vermeiden, in den Konflikt hineingezogen zu werden. Das war zwar eigentlich nicht ihre Art, aber vermutlich handelte es ohnehin einfach um ein Pubertätsproblem, dachte sie, selbst sie kam oft nicht gut mit Jonas aus. Da war kaum zu erwarten, dass es dem Umfeld besser gelang, und sie versuchte sich entgegen früherer Überlegungen damit zu beruhigen, dass es genaugenommen ohnehin nur um Jannik und sie als Paar ging, eine Konstellation, in der Kinder keine Rolle spielten; auch sie legte keinen Wert auf ein Familienlieben, mit dem sie bereits einmal gescheitert war.

Es waren daher zwei parallele Welten, in denen sie sich bewegte, deren Abstimmung zwar nicht mühelos funktionierte, die aber durchaus ihre Vorteile hatte, denn sie konnte sich so entweder auf Jannik oder ihre Kinder konzentrieren. Einem impulsiven Moment folgend schlang Bea die Arme um ihre Mutter und für einen Moment umarmten sich beide in einer Stille, die keiner weiteren Worte bedurfte, bis Fredo anfing, erfreut zu bellen.

"Geschafft! Wir können wieder rein."

Mit einer Mischung aus Stolz und Erleichterung verkündete Beas Vater das Ende der problematischen Situation und trat auf sie zu, gefolgt von Jannik, bei dem er sich noch einmal herzlich bedankte.

"Vielen Dank nochmal für Ihre Hilfe, ich weiß nicht, ob ich das alleine geschafft hätte."

„Keine Ursache."

Janniks offener Gesichtsausdruck bekräftigte die Gelassenheit, mit der er der Notlage von Beas Eltern begegnet war und Bea musste insgeheim daran denken, dass sein Kennenlernen ihrer Eltern gar nicht besser hätte verlaufen können. Lächelnd nahm sie seine Hand und zog ihn an ihre Seite.

„Machen Sie etwas Technisches?", wollte ihr Vater interessiert wissen, dem als ehemaliger Steuerberater alles, was mit Aufbau und Reparaturen zu tun hatte, fremd geblieben war und schob die Hände in seine Jackentaschen.

„Nein", erwiderte Jannik und ein spitzbübisches Lächeln glitt über sein Gesicht, „Reden ist eigentlich mehr mein Ding. Aber ich hatte so eine Situation auch schon mal und dabei genau zugesehen."

„Na, da hatten wir dann ja Glück", er lächelte seiner Frau erleichtert zu. „Sonst hätten wir einen Notdienst rufen müssen. Was an einem Sonntag bestimmt nicht billig geworden wäre."

Beas Mutter nahm den letzten Satz zum Anlass, gegenüber den jungen Leuten eine Einladung auszusprechen.

„Wie wäre es jetzt mit Kaffee und einem Stück Kuchen?"

Jannik sah mit einem fragenden Blick zu Bea hinüber, in dem sie zu lesen glaubte, was auch ihr durch den Kopf ging, und sie schüttelte den Kopf.

"Nicht böse sein, aber wir haben einen Tisch beim Tibeter bestellt und da wird die Zeit langsam knapp."

Sein kurzer Händedruck bestätigte ihr die getroffene Einschätzung und Beas Eltern nickten verständnisvoll.

„Aber Sie kommen doch ein anderes Mal?"

„Natürlich, gerne." Jannik nickte.

„Na dann." Beas Vater reichte ihm die Hand, die Jannik ohne zu zögern ergriff und den beiden Älteren gegenüber charmant bekundete:

"Nett, Sie kennengelernt zu haben", während sich Bea ein Schmunzeln verkniff. Ein kräftiger Windstoß ließ sie frösteln und daher verabschiedete auch sie sich nun zügig von ihren Eltern und stieg ins Auto.

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„Versteh mich nicht falsch", erläuterte Jannik und schnallte sich an, „Ich hätte eigentlich gern Kuchen gegessen, aber dann haben wir noch weniger Zeit zu zweit..."

„Ich weiß...", Bea lächelte, „Sehe ich genauso."

Gleichzeitig griffen sie nach der Wasserflasche, die im Auto lag, dann rief sie überrascht aus:

"Du bist ja ganz kalt!"

Jannik hob seine Hand, betrachtete in einer übertriebenen Art seine Finger und scherzte:

„Vielleicht bin ich schon tot", erntete ein amüsiertes Kopfschütteln und konkretisierte dann: "Ich habe meine Jacke bei euch vergessen. Mitsamt Portemonnaie. Vielleicht fahren wir noch mal vorbei."

„Wie schön", Bea grinste und überhörte bewusst den letzten Satz, „Dann wirst du nicht umhin kommen, dich heute einmal einladen zu lassen."

Sie starte den Wagen und wechselte bald zügig auf die Hauptstraße.

„Warum hast du vorhin eigentlich so geschmunzelt", fragte Jannik beiläufig und fuhr mit den Fingern über sein Telefon.

„Ich habe mich nur gewundert...", gab Bea zu und setzte den Blinker zum Überholen, „...dich so unglaublich wohlerzogen zu sehen. Fast wie ein Antrittsbesuch..."

„Ich habe eine gute Kinderstube."

Dann sah er vom Handy auf und zog die Augenbrauen hoch. „Ich wollte einen guten Eindruck machen...", verkündete er langsam. „Sind schließlich deine Eltern..."

Bea warf ihm einen angetanen Blick zu und konnte sich auf einmal doch nicht des Gedankens nicht erwehren, wie es wohl wäre, mit Jannik den Rest ihres Lebens zu verbringen. Sie fühlte sich so wohl in seiner Gegenwart und konnte sich nicht erinnern, das so intensiv mit Thorsten empfunden zu haben. Wahrscheinlich war Jonas einfach zu früh gekommen und sie wären ansonsten gar nicht erst so lange zusammen geblieben...

Nicht nur seine Untreue war der Grund für die Scheidung gewesen, sondern auch die schon längst immer deutlicher zu Tage tretenden Unterschiede zwischen ihnen, Unterschiede, die anfangs noch reizvoll und spannend und dann zunehmend nerventötend und anstrengend gewesen waren. Und dazu die immer größer werdende Zeit, die Thorsten mit Hobbys und fern von der Familie verbracht hatte...

Dann hörte sie Jannik lachen und bekam nur noch den Rest seines Satzes mit: "...war damals der Traum aller Schwiegermütter."

Der Verkehr wurde zähflüssig und widerwillig verlangsamte Bea das Tempo.

„Was heißt damals...", murmelte sie und legte ihre Hand auf sein Bein, „Du bist immer noch ein Traum..."

„Danke für die Blumen", Jannik zog ihre Hand hoch und drückte einen zarten Kuss darauf.

Der Motor wurde lauter, als das Auto wieder an Geschwindigkeit zunahm und widerwillig entzog Bea ihm ihre Hand, um in einen anderen Gang zu schalten. Sie ließ sich den vorherigen Satz noch einmal durch den Kopf gehen und fragte dann mit der typischen Manier desjenigen, der es liebt, Dingen auf den Grund zu gehen:

"Wieso warst du der Traum aller Schwiegermütter?"

Da sie sich auf den Verkehr konzentrieren musste, hörte sie nur seine lapidare Antwort.

„Wenn man eine andere politische Ansicht vertritt als die Umgebung, in der man aufwächst, wird man schnell zum Enfant terrible."

„Und die High Society-Eltern haben ihr Töchter vor dir gewarnt..."

„Yipp." Er grinste frech. „Nicht, dass es die Mädels abgeschreckt hätte..."

„Schon klar, du eingebildeter Frauenheld."

Sie schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf und setzte dann hinzu: "Dann bist du ja schon ziemlich lange mit deinen Eltern über Kreuz."

„Als ich in der Oberstufe war, haben wir viel diskutiert – nein, gestritten. Ich bin sie hart angegangen, wegen ihrer Einstellung." Er stutzte kurz und fuhr dann fort: "Das würde ich immer noch. Aber wir sehen uns kaum. Ist wahrscheinlich gut so." 

Er schwieg einen Moment. „Eine der heftigsten Auseinandersetzungen war die über meine Studienwahl. Da wurde ihnen dann klar, dass ich niemals in das Immobiliengeschäft einsteigen werde."

„Lass mich raten", Bea bremste ruckartig, da die Ampel vor ihnen auf Rot sprang. „Du solltest BWL studieren."

„So ist es." Er zog eine Grimasse und Bea betrachtete ihn nachdenklich.

„Ist aber nett, dass sie dir trotzdem das Studium und Taschengeld zahlen."

„Mhm. Ist wohl so", gab Jannik zu und sah deutlich unangenehm berührt von ihr fort aus dem Seitenfenster. „Bald zum Glück nicht mehr..."

„Du hättest es auch ablehnen können", erinnerte Bea sanft und sah auf die Haarsträhnen in seinem Nacken, denen ein Neuschnitt gut tun würde. Dann biss sie sich auf die Zunge und verfluchte im Stillen ihre Einmischung, doch es war zu spät, ihre Worte zurück zu nehmen. Verärgert fuhr Jannik herum.

„Da bleibt genug auf dem Konto, was ich nicht anrühre, was glaubst du!", fuhr er auf. „Und ja, ich könnte jobben gehen, aber dann hätte ich keine Zeit mehr für das, was ich für wichtig halte: mich gegen zunehmenden Rechtsradikalismus zu engagieren!"

Mit blitzenden Augen sah er sie an und seine ganze Körperhaltung drückte eine unverhohlene Aggressivität aus, die Bea zum ersten Mal an ihm bemerkte. Ihr fiel ein, dass sie ihn eigentlich mal genauer zu seinen Aktivitäten bei der Antifa befragen wollte, aber jetzt war mit Sicherheit nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Erleichtert registrierte sie, dass die Ampel ihnen wieder freie Fahrt gewährte und konzentrierte sich daher auf die Straße.

„Und was ist falsch daran, dieses Geld zu nehmen und es damit den weiteren kapitalistischen Investitionen zu entziehen, um damit Gutes zu tun, und sei es auch nur, um damit meine Freundin auszuführen. Wobei das beileibe nicht der einzige Zweck ist, wozu ich es verwende", rechtfertigte sich Jannik noch immer erregt.

Der Gedanke, dass man sich einige Sachen auch schön reden konnte, lag Bea nicht fern, und offenbar hatte sie einen Nerv bei Jannik getroffen. Sie fand sein Verhalten ein wenig heuchlerisch und gab spitz zurück:

"Ich erwarte nicht, dass du mich zu allem Möglichen einlädst. Im Gegenteil."

Aus den Augenwinkel bemerkte sie seinen finsteren Blick, bissig gab er zurück: "Dann ist es ja gut, dass ich mein Portemonnaie heute vergessen habe. Werd ich in Zukunft immer so machen!"

Bea seufzte leise, ihre gute Stimmung hatte sich aufgelöst und machte einer Traurigkeit Platz, die angesichts des Schweigens beider anhielt, bis sie auf dem Parkplatz des Restaurants stehen blieb.

„Lass uns die Zeit nicht mit Streiten vergeuden", begann sie besänftigend und fuhr mit der Hand leicht über seinen Nacken, bis er unverändert verärgert vom Display seines Handys aufblickte. Als er ihre Zerknirschung bemerkte, milderte sich sein Blick und seine Züge entspannten sich zusehends.

„Okay", stimmte er zu und klang dabei genauso erleichtert, wie Bea sich fühlte. Dann beugte er sich zu ihr und küsste sie mit einer ungewohnten neuen Zartheit auf die Lippen, und beiden wurde in diesem Moment bewusst, dass es zwischen ihnen Themen gab, die einer größeren Sensibilität und Rücksichtnahme bedurften als sie en passant anzusprechen.

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