Kapitel 40

„Nein danke."

Zum dritten Mal lehnte es Jonas ab, zu einem seiner Fußballkumpels ins Auto zu steigen und mit nach Hause genommen zu werden, zu tief saß noch die Schmach der Niederlage gegen Eppendorf, an der er selbst nicht ganz unschuldig war, denn zwei Bälle hatte er rein gelassen, die er hätte halten müssen. Er hatte immer den Anspruch an sich selbst, den Kasten sauber zu halten, aber heute war definitiv nicht sein Tag, er war so unkonzentriert gewesen wie schon lange nicht mehr, und er hatte keine Lust, auf den Autofahrten zurück nach Hause die ganzen Fehler, die er und natürlich auch das Team gemacht hatten, noch einmal durchzukauen. Er wollte diesen blöden Tag einfach nur vergessen und so schnell wie möglich abhaken.

Gereizt ließ er beim Gehen seine Sporttasche von vorne nach hinten schnellen und blieb dann missmutig an der Ampel stehen, die gerade auf Rot umsprang, was ihm den langweiligen Anblick einer Kolonne von Autos bescherte, die nur stockend vorwärts kamen. Ungeduldig ließ er seinen Blick zur Seite schweifen, in Richtung eines Kreisels, aus dem die Autos tröpfchenweise auf die vor ihm liegende Straße abbogen, was ihn effektiv daran hinderte, die Straße auch ohne das vorschriftsmäßige grüne Licht zu überqueren. Dabei fiel sein Blick auf eines der Hinweisschilder, das die Richtung nach Harvestehude wies. Nachdenklich zermarterte sich Jonas den Kopf, wo er von diesem Stadtteil schon einmal gehört hatte, dann fiel es ihm ein, es war der Stadtteil, in dem der Sitz der Kerner Immobilien lag.

Spontan beschloss er, sich einmal anzusehen, wo Jannik wohnte und zog sein Handy aus der Hosentasche. Die genaue Adresse herauszukriegen, war ihm ein Leichtes, denn der Firmensitz war öffentlich und aus dem damaligen Bericht war hervorgegangen, dass die Familie Kerner auch dort wohnte, wo sie arbeitete. Die Adresse lag nah genug, dass Jonas zu einem Abstecher bereit war, und so fand er sich bald darauf in einer ruhigen Nebenstraße wieder, an deren Ende, einem Park gegenüber, sich die gesuchte Hausnummer befand.

Verlegen blieb er erst einmal auf der anderen Straßenseite stehen, ein wenig abgeschirmt von einem dunklen BMW und einem hellblauen britischen Mini, von denen aus er auf das Haus vor ihm lugte. Da sich nichts regte, trat er etwas näher und ließ beeindruckt seinen Blick über die Fassade des Gebäudes schweifen, dass ganz in schicken Grautönen gehalten war, von dem sich prominent in Weiß gesetzte Ornamente abhoben. Die Fenster waren hoch und von weißem Stuck umrahmt und zum Teil mit einem kleinen Balkon versehen.

Oben auf dem Dach befand sich eine Balustrade, ebenfalls in Weiß, die ihn darüber nachdenken ließ, ob sich dort eine Dachterrasse befand. Direkt darunter wurde die vorspringende Dachbrüstung von wappenähnlichen Ornamenten gestützt und über dem direkt darunter liegenden Fenster befand sich das Größte und Auffälligste der Ornamente, das aus der Entfernung aussah, als drängten sich zwei Schwäne an die tragende Säule, von Nahem aber eher aus Blumenranken zu bestehen schien. Der Balkon unter diesem Fenster ging in einen auf Säulen getragenen Erker über und Jonas fragte sich, ob sich hinter dem Fenster womöglich Janniks Zimmer befand und stellte sich vor, wie dieser auf den Balkon trat.

Das Haus stand nicht separat, sondern ging direkt in das nächste Gebäude auf der Nachbarseite über, das jedoch in Orange gehalten war. Die ganze Häuserzeile vermittelte noblen Charme und wenn auch Jonas nichts für die schmuckvollen Einzelheiten übrig hatte, so kam er jedoch nicht umhin, anzuerkennen, dass hier Reichtum dezent in Szene gesetzt worden war, ohne protzig zu wirken.

Das kleine Grundstück vor dem Haus wies ein paar grüne Hecken, einen schlanken, jungen Baum und viele von diesen Pflanzen mit rosa und blauen Blüten auf, die auch bei Oma und Opa im Garten standen. Eine kleine Treppe führte hinauf zur in dunkelbraunem Holz gehaltenen Eingangstür, deren innen liegendes Glas mit kunstvollen Schnörkeln versehen war. Der Zugang zum Grundstück war ein schnörkeliges, elegantes Metalltor, das geschlossen war. Direkt daneben befand sich auf einer polierten Messingplatte der schlichte Hinweis auf die Immobilienfirma.

Irritiert fragte sich Jonas, ob die ihre Kunden wohl im Wohnzimmer empfingen und ob diese sich anmelden mussten, um herein gelassen zu werden. Er verzichtete jedoch darauf auszuprobieren, ob das Tor abgeschlossen war. Im gleichen Moment wurde ihm klar, wie exponiert er hier stand und hastig zog er sich in den Schatten eines Baumes an der Straße zurück, auf keinen Fall wollte er entdeckt werden, wie er hier stand und wirkte, als würde er das Haus ausspionieren.

Nachdenklich machte er sich auf den Rückweg. Wer hier wohnte, hatte es zu etwas gebracht, das war klar, und unvermittelt sprangen seine Gedanken zu der stillen Erörterung, ob er nach der Schule mal etwas mit Immobilien machen sollte, denn ein ordentliches Einkommen würde ihm schon gefallen.

Kein Wunder, dachte Jonas neidisch, dass Jannik Karten für das Pokalspiel Bayern gegen den HSV organisieren konnte. Er hatte seine Ablehnung beibehalten, zur Entrüstung seines Freundes Pawel, dem er davon erzählt hatte und der liebend gerne dem Spiel beiwohnen würde. „Wieso kannst du sie nicht einfach nehmen und trotzdem unfreundlich zu ihm sein?", hatte dieser empfohlen, „Irgendwann musst du eh mit ihm klarkommen und dann kannst du auch so viel wie möglich davon profitieren."

Aber das konnte Jonas nicht, entweder war er für oder gegen jemanden, und sich zu verstellen, lag ihm fern. Allerdings stellte sich leichtes Bedauern ein, während er sich der U-Bahnstation näherte, denn was hätte es für Möglichkeiten gegeben, wenn er sich mit diesem Jannik angefreundet hätte, nett genug war er eigentlich gewesen. Warum musste der sich bloß in seine Mutter vergucken? Und wieso waren die eigentlich immer noch zusammen?  Wann es angefangen hatte, wusste Jonas nicht genau, aber ein paar Monate würden es wohl nun schon sein, da wurde es doch wohl längst Zeit, dass Jannik Schluss machte. Und wieso war Hannah immer noch so hingerissen von ihm?

Das Ganze war eine höchst unbefriedigende Situation, denn nicht nur bot seine kontinuierliche Ablehnung weiteres Streitpotenzial zwischen ihm und seiner Mutter, sondern er fühlte sich auch mehr und mehr ausgeschlossen angesichts der Tatsache, dass Hannah nur zu gerne etwas mit ihrer Mutter und Jannik zusammen unternahm. Verständnislos schüttelte Jonas den Kopf, während er eine Fahrkarte am Automaten löste. Der ankommende Luftzug verriet ihm, dass eine Bahn im Anmarsch war und eilig rannte er die Treppe hinunter, um sie noch zu erwischen.

Auf der Heimfahrt lenkte er sich mit dem Schauen von youtube-Videos ab, aber sobald er in seiner Straße war und sich dem Haus näherte, holte ihn die Realität der aktuellen Situation in Gestalt von Jannik, der gerade vom Rad stieg, wieder ein. Unwillkürlich verlangsamte er seine Schritte und war versucht, sich zu verbergen, um einige Minuten später einzutreffen, was ihn der Situation enthob, gleichzeitig mit Jannik vor der Tür zu stehen, doch da hatte ihn der Freund seiner Mutter schon entdeckt.

Jonas beschloss, auf den nun peinlich wirkenden Rückzug zu verzichten, obwohl ihm nichts lieber gewesen wäre, er reckte die Schultern und umgab sich mit einer Aura von Coolness, die er seiner Lieblingsfilmfigur abgeguckt hatte, und näherte sich langsam, während Jannik mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf ihn wartete, als hätte er keine einzige Sorge im Leben.

„Hallo Jonas", grüßte er freundlich und wollte dann wissen: "Habt ihr euch schon für einen Film entschieden?"

Jonas blieb in einiger Entfernung stehen und schob die Hände in die Hosentaschen, was unfreiwillig dazu führte, dass ihm die Sporttasche von der Schulter rutschte und mit einem Plumps auf dem Asphalt landete. Der Einfachheit halber und um den Anschein von Absicht zu vermitteln ließ er sie dort liegen und gab mit gerecktem Kinn rebellisch zurück: "Komme sowieso nicht mit."

Jannik ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, betrachtete ihn mit mildem Interesse und sah durch seine Körpergröße, bei der er Jonas noch einiges voraus hatte, einen Augenblick schweigend auf ihn herab.

„Warum lehnst du eigentlich alles ab? Im Hansapark kamen wir doch ganz gut miteinander aus", wollte er anschließend wissen, ohne seine lässige Haltung zu verlieren, und das Einzige, was Jonas aus seiner Frage heraus hörte, war schlichte Neugier.

„War halt ein Fehler", gab der Teenager knapp zurück, ohne eine Erläuterung preiszugeben und freute sich darüber, dass seine Antwort wie beabsichtigt ausgesprochen kühl rüber kam.

Als Reaktion darauf runzelte Jannik ein wenig die Stirn, doch der Ton blieb leichthin.

"Deine Mutter würde sich freuen."

Die Tatsache, dass er nur von der Freude seiner Mutter sprach und nicht das wir benutzte, blieb nicht unbemerkt und war Jonas durchaus recht, denn ihm lag überhaupt nichts daran, Jannik zu gefallen, im Gegenteil. Wenn er ihn vergraulen würde, würde endlich wieder alles so sein wie immer...

„Mir egal", entgegnete er daher gelangweilt und hielt dem Blick seines Gegenübers stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Es fühlte sich großartig an. Jannik nahm die Hand von seinem Rad und verschränkte die Arme vor der Brust. "Kannst du mir mal sagen, was du auf einmal gegen mich hast?"

Impulsiv und unbeabsichtigt, denn eigentlich hatte er vorgehabt, in Schweigen zu verharren, brach es aus Jonas heraus:

„Meine Mutter ist viel zu alt für dich. Wegen dir macht sie sich nur lächerlich!"

Jannik zog die Augenbrauen hoch. „So siehst du das?"

„Wie soll man das sonst bezeichnen, wenn eine Frau, die Kinder hat, sich auf der Reeperbahn herumtreibt und volllaufen lässt!"

Jonas warf ihm aus zusammengezogenen Augenbrauen einen finsteren Blick zu, bevor er verdrossen feststellte, dass Jannik statt sauer zu werden erheitert in ein lautes Lachen ausbrach und süffisant anmerkte:

„Vielleicht kennst du deine Mutter weniger gut als du denkst..."

In Jonas wuchs die Frustration, weil Jannik sich, im Gegensatz zu seiner Mutter, die schon längst explodiert wäre, nicht aus der Ruhe bringen ließ, und zornig entgegnete er:

"Erzähl mir nicht, wie meine Mutter ist! Ich kenne sie seit dreizehn Jahren, du erst ein paar Monate!"

Zu seinem Ärger behielt Jannik jedoch dieses überlegene Lächeln bei und am liebsten hätte Jonas ihm eine rein gehauen, doch vernünftigerweise hielt er sich zurück, denn ihm war klar, dass er gegen einen Erwachsenen den Kürzeren ziehen würde. Er suchte daher nach einer Möglichkeit, Jannik auf andere Weise zu verletzten und fand sie in folgenden Worten:

„Hör einfach auf, Mama was vorzuspielen und such dir wieder eine Neue in deinem Alter, die besser zu dir passt. Ich weiß sowieso nicht, was das soll, brauchst du das für dein Ego, dass dir keine widerstehen kann? Oder brauchst du die Abwechslung, mal mit einer Älteren rumzumachen?"

Die beißend vorgebrachten letzten Sätze zeigte endlich Wirkung. Jonas sah befriedigt, wie Jannik den Kiefer anspannte und sich offenbar nur mit Mühe zurückhielt, während seine Augen ihn zu durchbohren schienen. Ein leichtes triumphierendes Lächeln erschien auf Jonas Zügen, während er Jannik aufmerksam beobachtete; dieser tat ihm allerdings nicht den Gefallen, aus der Haut zu fahren, stattdessen holte er nur hörbar Luft und erwiderte mit eisiger Stimme:

"Es ist mir egal, was ein Kind...", er betont es voller Verachtung, „...von mir hält. Aber du triffst deine Mutter damit, das ist dir hoffentlich klar."

„Ich werde das vor ihr nicht wiederholen", parierte Jonas, an dem die Verachtung zugunsten eines in erreichbare Nähe gerückten Ziels abprallte, „Wenn du es ihr erzählst, bist du schuld!"

Und dann überzog das freche Grinsen desjenigen, der sich auf der Siegerspur sah, sein ganzes Gesicht.

„Arschloch!", zischte Jannik hinter zusammengebissenen Zähnen, wandte sich brüsk um und ging zum Wohnhaus hinüber.

Jonas frohlockte und wartete, bis sich die Eingangstür hinter Jannik geschlossen hatte, dann griff er sich seine Sporttasche und trödelte absichtlich so lange, bis er sich sicher war, im Treppenhaus nicht mehr auf Jannik treffen zu können. In seinem Hochgefühl hätte er am liebsten begeistert jemanden abgeklatscht – noch ein paar solcher Kommentare und Jannik würde in Kürze auf Nimmerwiedersehen verschwinden, davon war er überzeugt.

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