Kapitel 34
Es klingelte, während sie gerade die Kennedybrücke hinaufliefen, was Jannik die Entscheidung erleichterte, den Anrufer geflissentlich zu ignorieren und damit seinem Körper den Konflikt zu ersparen, ob der erforderliche Sauerstoff den Beinen oder der Stimme zu Gute kommen sollte. Er war lange nicht mehr gelaufen und merkte es, seine Kondition war deutlich eingeschränkt, was auf dem Gesicht seines Bekannten aus der Uni für ein Schmunzeln sorgte, und der sein Tempo dem anpasste, was Jannik derzeit zu leisten vermochte.
Nach einer kurzen Pause setzte das Handyklingeln wieder ein und Jannik ertappte sich nun allerdings bei dem frevlerischen Gedanken, fast ein wenig froh darüber zu sein, einen Grund zu haben, den Lauf zu unterbrechen oder zumindest zu verlangsamen.
„Ja?", keuchte er, ohne sich die Mühe zu machen, den Anrufer auf dem Display zu identifizieren, und joggte um ein Elternpaar herum, das gemütlich schlendernd seinem Nachwuchs in der Kinderkarre die Segelboote auf der Alster zeigte.
„Jan?", vernahm er leise Beas Stimme und unwillkürlich zog ein Lächeln über sein Gesicht, während er das Tempo reduzierte.
„Hast du einen Grund zur Pause gefunden?!", spöttelte Maik gutmütig, bevor er ergänzte: "Wir treffen uns dann im Cliff. Horrido!" Mit einem lässigen Winken verlängerte er seine Schritte und war bald außer Sichtweite.
Janniks Laufen ging in einen lockeren Trab über, als er Bea fröhlich, aber noch außer Atem mit "Hallo Honey" begrüßte, dann blieb er stehen, stützte die Hände auf die Oberschenkel und atmete ein paar Mal tief durch, um seinen Puls unter Kontrolle zu bekommen.
„Ist es gerade ungünstig?", drang Beas Stimme aus dem Handy, die Jannik irritiert aufhorchen ließ, denn irgendwie schien sie anders als sonst zu klingen.
„Alles gut, war nur gerade am Joggen", beruhigte er und sah aus den Augenwinkeln eine Amsel durch das erste trockene Herbstlaub hüpfen, das die Platanen, unter denen er gerade stand, bereits abgeworfen hatten.
„Kannst du... kannst du vielleicht vorbei kommen?"
Und nun schien offensichtlich, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, denn Bea klang unglücklich und ohne die Selbstsicherheit, die sie üblicherweise an den Tag legte.
„Ja sicher", bestätigte er, ohne groß zu überlegen. „In zehn Minuten bin ich am Hauptbahnhof, dann kann ich die U-Bahn zu dir nehmen. Ist was passiert?"
Er hatte sich bereits wieder aufgerichtet und lenkte seine Schritte von der Alster fort.
„Nein..." erwiderte Bea mit einem Zögern, das ihrer einsilbigen Antwort Lügen strafte, und dann fuhr sie leise fort: "Ich möchte dich nur einfach gern bei mir haben. Komm einfach zum Spielplatz auf der Wiese am Beginn der Straße, da kommst du von der U-Bahn direkt drauf zu. Ich warte da."
Die übliche Entschlossenheit einer Frau, die es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen, klang trotz der gedrückten Stimmung zu ihm durch und Jannik versprach, sich zu melden, sobald er in die Bahn stieg.
Mit einem Stirnrunzeln sah er auf sein Shirt hinunter, dass an Brust und Rücken und unter den Achseln nass von Schweiß war, ein Fakt, der trotz seines Missfallens jetzt nicht zu ändern war. Die Vorfreude, die er normalerweise gegenüber einem Treffen mit Bea empfand, wurde durch die Unklarheit der Situation gemindert, in der er sich die Frage stellte, was sie dazu bewogen haben mochte, ihn so zögernd um einen Besuch zu bitten. Es war nicht so, dass sie nie einen Wunsch äußerte, doch der hier darunterliegende ernste Ton schien von etwas zu künden, das über den Wunsch, ihn einfach spontan zu treffen, hinaus ging.
Dank eines lockeren Laufs und einer Bahn, die es gut mit ihm meinte und just in dem Moment in den Bahnhof fuhr, als er den Bahnsteig betreten hatte, stieg Jannik schon eine Viertelstunde später wieder aus der U-Bahn. Suchend wandte er den Kopf, nachdem er die Rolltreppe verlassen hatte, und kreuzte dann achtlos den Radweg, so dass es zwangsläufig zu einem Zusammenstoß gekommen wäre, hätte der heranfahrende Radler nicht unverzüglich abgebremst. Doch der böse Blick, den er Jannik zuwarf und das ihm entgegen geschleuderte „Blödmann!" verfehlte seine Wirkung, denn Janniks Aufmerksamkeit war auf die gegenüberliegende Rasenfläche gerichtet.
Während er die Kreuzung überquerte, sah er bereits den euphemistisch als Spielplatz bezeichneten Platz voller Schaukeln, auf der sanft ansteigenden Rasenfläche hatte man einen in Türkis gehaltenen, elastischen Belag aufgeschüttet, der heftige Stürze von den Schaukeln zu dämpfen wusste, und an einer der Schaukelstangen gelehnt stand Bea und sah gedankenverloren in die Ferne.
Das Lächeln, mit dem sie ihn begrüßte, war nur flüchtig und zeigte ihm genau wie bereits ihr Tonfall am Telefon die Anspannung, in der sie sich befand, und während sich ihre Lippen zu einem kurzen Kuss trafen, zog sie ihn in eine lange, heftige Umarmung, die haltsuchend schien und ein Maß an Unsicherheit vermittelte, das ihm an Bea neu war. Der Windstoß einer kühlen Böe ließ Bea frösteln und Jannik tat sein Möglichstes, ihr mit seinen Armen ein wenig Schutz zu gewähren. Hinter seinem geduldigen Warten auf die Mitteilung, was vorgefallen war, verbarg sich Neugier gepaart mit wachsendem Ärger über denjenigen, der seine Freundin in einen für sie unüblichen Zustand der Mutlosigkeit versetzt hatte, den er als Beschützerinstinkt erkannte.
Die beiden Jungen im Grundschulalter, die sich kreischend in die Höhe geschaukelt hatten, gaben unvermittelt die Nestschaukel frei, und Bea entwand sich seinen Armen, nahm seine Hand und zog ihn zur Schaukel hinüber, wo sie es sich so gut es ging gemütlich machten. Jannik legte den Arm um ihre Schulter und Bea schmiegte sich an ihn und für ein Weilchen schaukelten sie leicht hin und her, bevor Jannik das Gesicht zu ihr neigte und schließlich fragte:
"Was ist denn passiert?"
Ihr Seufzer war tief und schien von weit her zu kommen, und in dem Blick, den sie ihm zuwarf, wich die Verschlossenheit langsam dem Wunsch, sich mitzuteilen, zögernd antworte sie:
"Eigentlich sollte ich dir das gar nicht sagen."
„Sei nicht blöd!", widersprach Jannik und drückte sie leicht, „Du kannst mir alles sagen."
„Es ist eigentlich nichts. Ich weiß auch nicht, warum ich so empfindlich reagiere...", spielte Bea ihr Verhalten herunter und ließ das nachfolgende Schweigen einen Moment wachsen, während Jannik ungeduldig wartete.
„Jonas weiß Bescheid über uns, keine Ahnung, woher", teilte Bea endlich mit, während sie ihr Gesicht dem Himmel entgegen streckte und die langsam ziehenden Wolken beobachtete. Sie schluckte: "Und er hat nicht gut darauf reagiert."
Mist, durchfuhr es Jannik unvermittelt, aber er schwieg und griff nach Beas Hand, um sanft mit dem Daumen darüber zu streichen.
Bea seufzte hörbar und gestand bedrückt:
"Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht, dass ich ihm gegenüber nicht ehrlich gewesen bin. Er mochte dich. Bis er die Wahrheit hörte." Sie biss sich auf die Lippen. „Bei Hannah allerdings war das genau das Richtige. Sie hat meinen Streit mit Jonas gehört, aber ist dann zu mir gekommen und hat gesagt, dass sie es gut findet, dass wir zusammen sind. Ich mag Jannik, hat sie gesagt."
Bea drehte sich zu ihm um und eine Träne rollte über ihre Wange, die Jannik zart mit den Fingerspitzen beiseite wischte.
„Aber Jonas hat mir zu Recht vorgeworfen, dass ich ihn angelogen habe!", fuhr Bea fort und sah zerknirscht aus, „Ich habe ihn völlig falsch eingeschätzt!" Unglücklich sah sie wieder in die Weite.
Das erste, was Jannik spürte, war Erleichterung darüber, kein Theater mehr spielen zu müssen, doch er ließ sich nichts anmerken, es war deutlich genug, dass Bea diesen positiven Aspekt nicht wahrnahm. Mit der fehlenden Erfahrung eines Elterndaseins fiel es ihm schwer zu begreifen, warum Jonas' momentane Ablehnung Bea so zu schaffen machte, dass sie an sich selbst zu zweifeln begann. So wie er es sah, war der Junge wütend darüber, angelogen worden zu sein, was Jannik sogar gut verstehen konnte, aber das war nichts, worüber man nicht mit ein wenig Abstand hinweg kommen konnte, und da die beiden Treffen mit Jonas positiv verlaufen waren, war er überzeugt davon, dass sich dessen Ärger bald in Wohlgefallen auflösen würde.
Aber er erkannte die Weisheit, die darin lag, nicht sofort ihre Sorgen zu negieren und sie mit seinem Optimismus zu konfrontieren und ergriff daher nur mitfühlend Beas Hand und spielte mit ihren Fingern, bevor er tröstend anmerkte:
"Du hattest doch gar keine andere Wahl. Schließlich kannst du nicht einem Kind das Eine und dem anderen Kind etwas Anderes erzählen."
„Ein Dilemma", stimmte Bea seufzend zu. „Und nun?"
Sie sah mit einem ratlosen Blick zu ihm hoch, der ihn gleichsam bat, mit einer Lösung aufzuwarten. Dieser Wunsch nach Führung war unerwartet, aber nicht unwillkommen, und er machte gleichzeitig deutlich, dass Beas Selbstbewusstsein nicht lückenlos war, was sie noch sympathischer und anziehender machte, als sie es in Janniks Augen ohnehin schon war.
„Mach dir nicht so einen Kopf", antwortete er liebevoll. „Natürlich ist Jonas erst mal sauer, dass wir ihn angelogen haben. Wäre ich an seiner Stelle auch. Die Konfrontation ist doch noch ganz frisch. Gib ihm Zeit, das zu verarbeiten." Und mit einem zuversichtlichen Lächeln fuhr er fort: "Dann eine Entschuldigung, und du wirst sehen, alles wird gut."
Er war von seiner verständnisvollen Analyse leicht beeindruckt, die ihm automatisch in den Sinn gekommen war, ohne dass er darüber nachgedacht hatte, und die auch ihre Wirkung auf Bea nicht verfehlte, ihr Lächeln begann mit einem Anheben der Mundwinkel und breitete sich dann auf ihrem Gesicht aus.
„Du hast Recht", stimmte sie zu, „Ich habe einfach überreagiert."
Ein verlegenes Lachen folgte dem Geständnis. „Ich hätte dir das gar nicht gleich erzählen sollen. Morgen sieht alles schon ganz anders aus."
„Nein, ich find's gut, dass du's mir erzählt hast" widersprach er und brachte ein wenig Bewegung in die Schaukel, die bislang nur sanft auf einer Stelle hin und her gependelt war. Eine Möwe, die vor ihnen auf dem Boden nach Brötchenkrümeln gepickt hatte, flog erschreckt auf.
„Ich will wissen, was in dir vorgeht, was du denkst. Ich will alles von dir wissen!"
Mit Schwung machte er eine Handbewegung, die vom U-Bahnhof über den Rasen bis zur Skyline der Stadt alles erfasste.
„Alles?", grinste Bea und hatte ihre gute Laune wiedergefunden, „Lieber nicht..."
„Hast du etwa dunkle Geheimnisse?", zog Jannik sie auf
„Das werde ich dir bestimmt nicht auf die Nase binden!", gab Bea zurück und knuffte ihn in die Rippen.
„Ich wüsste da schon eine Möglichkeit, dich zum Reden zu bringen", behauptete Jannik und warf ihr einen herausfordernden Blick zu, dann stand er in einer einzigen raschen Bewegung auf, holte kräftig Schwung und beförderte das Schaukelnest schnell in eine Höhe, die Bea ein Kreischen entlockte und sie hastig die festen Seile ergreifen ließ, aus denen das Nest geflochten war.
„Stopp! Stopp!!! Ich sag dir alles, was du wissen willst!", versprach sie hastig.
„Alles?"
„Jaaa!", schrie Bea, halb lachend, halb angespannt, woraufhin Jannik sich wieder ins Nest fallen ließ und schützend einen Arm um sie legte, während die Schaukel langsam an Höhe und Geschwindigkeit verlor.
„Danke für das Zugeständnis", grinste er, „Ich werde mir mal fiese Fragen überlegen."
„Du bist furchtbar!", entfuhr es Bea und musste sich ein Lachen verkneifen, anschließend richtete sie sich auf ihre Knie auf, bis sie auf ihn herunter blickte und fragte kopfschüttelnd:
„Womit habe ich dich nur verdient?!"
Ihre Augen funkelten belustigt, sie stützte ihre Hände neben seinem Kopf ab und gab ihm damit keine Gelegenheit, ihrem Blick auszuweichen
„Ich bin die Strafe für das, was du im vorherigen Leben verbockt hast", vermutete Jannik und sah ihr in die im Tageslicht schimmernden grünen Augen.
„Meinst du?" Bea rückte ein Stücken näher. „Dabei bin ich doch immer so brav ..."
Jannik machte eine Show daraus, übertrieben zu husten. "Du hältst dich für brav?! Darunter verstehe ich eigentlich etwas anderes..."
Fasziniert beobachtete er, wie Bea langsam die Locken ins Gesicht fielen, bis sie ihr Gesicht wie eine Girlande umrahmten, da Bea ihre Hände an Ort und Stelle ließ.
„Was denn?" Ihr Gesicht war jetzt nur noch Zentimeter von seinem entfernt.
„Eigentlich mag ich brav nicht besonders", murmelte Jannik abgelenkt und starrte auf ihre glänzenden Lippen, die auffordernd geöffnet waren, nur Sekunden, bevor sie mit ihrem Kuss jedes weitere Wort effektiv unterband.
Und mit einer Selbstbezogenheit, die frischen Liebespaaren eigen ist, ignorierten sie den Verkehrslärm der nahen Straße, das Gezwitscher der Singvögel und die gedämpft vom Weg hochdringenden Unterhaltungen der Menschen, die einen Abendspaziergang genossen, und nahmen ein paar Augenblicke lang nur noch sich selbst wahr.
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