Kapitel 32

Jonas spitzte die Ohren, aber er hatte sich nicht verhört, seine Mutter summte tatsächlich in der Küche leise vor sich hin. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan und er war überrascht darüber, wie sehr es ihn freute, es klang nach Glück und Zufriedenheit und nach Zeiten, die lange her waren. Genau genommen erinnerte es ihn an die Zeit, an der sie noch eine Familie gewesen waren, alles perfekt gewesen war und nichts darauf hingewiesen hatte, dass sich das auf einmal ändern würde, aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken.

Allerdings verzichtete er jetzt darauf, sie zu fragen, ob sie ihn Vokabeln abfragen könnte, denn ohne sich dessen bewusst zu sein spürte er eine gewisse Zurückhaltung, ihre Momente des Glücks, wodurch auch immer hervorgerufen, zu unterbrechen. Außerdem, schlussfolgerte er schließlich rational, barg eine Ansprache unwillkürlich die Gefahr, dass sie aneinander gerieten, weil sie von den Englischvokabeln unvermittelt auf ein anderes Thema geraten konnten, das in gefährliches Fahrwasser führen konnte. Zwar war sie in letzter Zeit deutlich weniger gereizt gewesen, aber wer wusste schon, wie lange das andauern würde.

Unwillig sah er auf die Buchseiten hinunter, wo ihm die deutschen Wörter förmlich ins Auge sprangen, als riefen sie ihm ein freches such mich in Englisch entgegen, es waren so viele, dass sich seine ohnehin nur gering ausgeprägte Motivation in Luft auflöste. Auf der Suche nach Ablenkung sah er im Wohnzimmer umher. Seine Mutter bestand darauf, dass sich sein Handy während des Lernens in einem anderen Raum befand, sonst hätte er mal geschaut, was es Neues auf Instagram gab. Stattdessen fiel ihm nur die Kaugummi-Packung, die auf der anderen Seite des Esstisches lag, ins Auge und er streckte sich danach und zog einen Streifen aus der Packung, den er genüsslich in den Mund steckte, anschließend faltete er das Zellophanpapier sorgfältig so eng zusammen, dass es einem Rekruten zur Ehre gereicht hätte.

Dann warf er einen Blick auf seine Schwester, die sich auf das Sofa gefläzt hatte und sich wahrscheinlich durch die Whats App-Nachrichten ihrer neuen Klassengruppe quälte. Sie bemerkte seinen Blick erst, als sie mit einem missbilligenden Seufzen das Handy beiseitelegte.

„Was ist?", wollte Jonas wissen, dankbar jede Chance ergreifend, die etwas anderes als Vokabeln lernen versprach.

„Die Jungs schreiben nur Mist. Das nervt", konstatierte Hannah und zog die Mundwinkel nach unten.

„Mach doch was anderes", schlug Jonas vor und beiden war klar, dass er damit nicht Dinge wie lesen oder puzzeln oder spielen meinte.

„Wie denn!? Ich habe doch nur Whats App", maulte Hannah, der ihre Mutter die Nutzung von Instagram und Tiktok verboten hatte. Mit einem forschenden Blick sah sie auf den Tisch, auf dem Jonas seine Schulsachen ausgebreitet hatte. Während Jonas schließlich mit den Schultern zuckte, zog Hannah ihre Stirn in Falten, kniff die Lippen zusammen und dachte einen Augenblick nach. Dann legte sich ein Strahlen auf ihr Gesicht, Anzeichen dafür, dass ihr eine Idee gekommen war. Sie sprang mit einem Ruck auf und war so schnell bei ihm am Tisch, dass er kaum Zeit hatte zu reagieren; hastig beugte er sich nach hinten, denn Hannah hatte so eine Art, sich dicht an ihr Gegenüber zu stellen, die ihm, der immer ein bisschen Distanz zu schätzen wusste, zuwider war.

„Du machst doch gerade Schule", säuselte Hanna und sah ihn mit einem Lächeln an, von dem er sich wünschte, es einmal von Lilly zu erhalten, für die er im Stillen ein wenig schwärmte. „Kann ich daher dein Handy haben?"

„Wieso?", stellte er wider besseres Wissens grummelnd die Gegenfrage. Denn warum sollte sie davon profitieren, dass er gezwungenermaßen auf sein Handy verzichten musste.

„Weil mir langweilig ist und du dieses Spiel hast, das erst ab zwölf ist", gab Hannah mit unwiderlegbarer Logik zurück.

„Dann musst du eben ein anderes Geburtsdatum eingeben", erwiderte er gleichmütig, als läge diese Lösung auf der Hand, erntete aber nur einen entsetzten Blick von Hannah.

„Das darfst du nicht!", kam es vorwurfsvoll von der noch auf Regeln achtenden Zehnjährigen.

„Mache ich ja auch nicht", beeilte sich Jonas zu sagen, bevor sie ihm womöglich verpetzen würde. „Außerdem will Mama nicht, dass du Fortnite spielst. Und du machst mir meinen Score kaputt", argumentierte er weiter dagegen.

„Du spielst das doch sowieso inzwischen auf dem Computer. Außerdem will ich mich neu anmelden."

Hannah war nicht bereit, sich abwimmeln zu lassen, da er aber nur schwieg, seufzte sie schließlich tief, voller Unverständnis darüber, warum ihr Bruder eine so große Sache daraus machte und ihr nicht einfach sein Handy lieh.

„Biiiitteeee", bettelte sie und sah ihn mit großen Augen an.

Jonas genoss ein wenig die Macht, die damit einherging, dass er etwas hatte, das sie haben wollte.

Aber noch bevor er sich dazu durchringen konnte, ihr schließlich großzügig die zeitweilige Nutzung seines Handys zu erlauben, war Hannah bereits ungeduldig geworden, wandte sich mit einem „dann eben nicht" verärgert ab und fügte dann, wobei sie ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zuwarf, hinzu: 

"Dann erzähle ich dir auch kein Geheimnis."

Was für ein spannendes Geheimnis konnte seine kleine Schwester schon haben, dachte Jonas verächtlich, aber da ihn im Moment nur die blöden Vokabeln erwarteten, zeigte er sich gelinde interessiert. Außerdem – wenn er schon etwas dafür kriegen konnte, dass er ihr sein Handy lieh – warum nicht?

„Was wird das schon Spannendes sein?"

Er zuckte nachlässig mit den Schultern und tat dann so, als würde er sich seinem Englischbuch zuwenden.

„Ich weiß eben etwas, das du nicht weißt", trumpfte Hannah auf und beugte sich zu ihm hin, bis er schließlich hoch sah. Sie hatte ein Funkeln in den Augen, das Jonas nun wider Erwarten neugierig machte, doch er behielt einen Gesichtsausdruck bei, der an Desinteresse nicht zu überbieten war.

„Biete etwas Gutes, wenn du mein Handy haben willst", erwiderte er gedehnt.

Hannah lächelte verschwörerisch und begann mit: "Du weißt doch, am Sonntag, als du dein Spiel hattest, da war ich mit Mama und Jannik im Zoo."

Jonas rollte mit den Augen. „Ja und???"

„Und da...", ihre Stimme senkte sich unwillkürlich zu einem Flüstern, „...habe ich gesehen, wie sie sich geküsst haben! Als sie dachten, dass ich noch auf Toilette bin. Aber als ich wieder bei ihnen war, haben sie so getan wie vorher."

Jonas konnte es nicht glauben und zweifelte ihre Beobachtung von oben herab an: "Das war ein Bussi."

„Nein, überhaupt nicht, das war so richtig auf den Mund, ganz lange, wie im Film, und sie haben sich dabei umarmt", konkretisierte Hannah selbstsicher, ohne sich verunsichern zu lassen.

Der Blick auf Hannas Gesicht verriet ihm, dass sie weder einen Scherz machte noch den Eindruck erweckte, sich geirrt zu haben und für einen Moment war Jonas unfähig, etwas zu sagen, er schluckte und es war, als würde sich der Boden unter ihm in eine schiefe Ebene verwandeln, auf der er mitsamt dem Stuhl ins Dunkle rutschen würde. Entgeistert sah er Hannah an, die ganz gelassen vor ihm stand und nicht zu begreifen schien, was ihre Aussage bedeutete.

Das konnte unmöglich sein, dachte Jonas wild, das war seine Mama, die konnte doch nicht einen fremden Mann küssen! Was war denn mit Papa? Bekäme er jetzt einen Stiefvater? Würden Mama und Papa jetzt tatsächlich nie mehr zusammen kommen? Die verschiedenen Gedanken strömten ohne ersichtliche Klarheit auf ihn ein und fuhren mit ihm Karussell, doch über allem war das verzweifelte Gefühl: das durfte einfach nicht sein!

Und dann dachte er zurück an die letzten Wochen und begriff, wie bescheuert er gewesen war, dass er die Anzeichen nicht gleich erkannt hatte – eigentlich war es doch offensichtlich gewesen, er war zum Essen da gewesen, er war mit Hannah geklettert, war mit ihnen im Hansapark gewesen und dann auch mit im Zoo, das tat man doch nicht, wenn man die Frau nur von einem Seminar kannte und die Kinder schon mal gar nicht! Unvermittelt wurde Jonas zornig, denn ihm wurde klar, dass die Erwachsenen ihm und Hannah etwas vorgespielt hatten, und seine eigene Dummheit entfachte die Wut noch zusätzlich und er ballte die Hände zu Fäusten und schaute finster in Richtung Küche.

„Warum guckst du so böse?"

Hannahs Stimme war klein geworden, die Befriedigung darüber, früher als ihr Bruder die Beziehung ihrer Mutter erkannt zu haben, wandelte sich in Unsicherheit, als sie merkte, wie Jonas auf die Enthüllung reagierte.

„Jannik ist doch nett."

„Nett!", äffte Jonas sie nach, „Darauf kommt es doch gar nicht an. Der will den Papa ersetzen!" Wütend funkelte er seine Schwester an.

„Aber...", verwirrt versuchte Hannah das, was sie fühlte, mit dem in Einklang zu bringen, was Jonas von sich gab, und sie trat hastig einen Schritt zurück, „Papa ist weit weg in der Schweiz und Jannik ist hier..."

„Das meine ich ja!", unterbrauch Jonas ungeduldig, „Der glaubt, der kann mit uns das machen, was eigentlich Papa mit uns machen würde, wenn er hier wäre!"

Jeder seiner Sätze war eine einzige Anklage und Hannah verstummte schließlich und zog sich mit einem kleinlauten Gesichtsausdruck zurück auf das Sofa; beide Kinder hatten das begehrte Handyspiel inzwischen völlig vergessen.

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