Kapitel 30

Das Klingeln des Telefons riss Bea aus ihrer abgelenkten Stimmung, in der sie verträumt auf ein Bild von Jannik geschaut hat, völlig von der Überlegung gefangen, ob sie es sich ausdrucken und auf ihren Schreibtisch stellen sollte. Der Widerwillen, den sie angesichts der Störung empfand, zeigte sich auf ihrer Miene. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln griff sie nach dem Hörer und rollte schließlich mit den Augen, als sie im Display eine bekannte Nummer entdeckte.

„Lichtenfeld", meldete sie sich mit freundlicher Stimme, die jedes Anzeichen darüber, dass ihr der Anruf alles andere als willkommen war, vermissen ließ.

„Frau Lichtenfeld!", dröhnte es laut aus dem Hörer, so dass Bea ihn unwillkürlich ein paar Zentimeter von sich fern hielt, „Ihre Schlussfolgerungen können wir so nicht akzeptieren!"

Es fiel Bea nicht schwer, sich vorzustellen, wie Frau Bauer in der für sie typischen Art den Kopf mit den stahlgrauen kurzen Locken schüttelte; sie hatten sich bereits das ein oder andere Mal bei Verhandlungen persönlich kennen gelernt.

„Wir wissen doch beide, dass der dahinterstehende Gedanke für §13 ein ganz anderer war! Sie können doch nicht die Absicht, mit der dieser Paragraph in die Police aufgenommen wurde, unberücksichtigt lassen!", fuhr Frau Bauer entschlossen fort und schaffte es, noch weitere Sätze in ihrem Redefluss unterzubringen, ohne jedoch ein neues Argument zu präsentieren.

Entnervt schloss Bea für einen Moment die Augen, atmete tief ein und erwiderte mit erzwungener Ruhe:

„Wenn Sie meinen, dass §13 nicht den Geist der Vereinbarung widerspiegelt, besprechen Sie das am besten mit Frau Kniest, mit der Sie, meine ich, die Verhandlungen geführt hatten."

„Das werde ich auch tun!", keifte Frau Bauer schließlich, deren ohnehin schon laute Stimme noch ein paar Punkte zugelegt hatte. Auch ohne dass Bea das Telefonat auf laut gestellt hatte, konnte sie jedes einzelne Wort verstehen, obwohl sie den Hörer beim Zuhören lediglich vor sich in der Hand hielt.

„Wiedersehen!"

Mit diesen Worten legte Frau Bauer abrupt auf und Bea schüttelte nur verständnislos den Kopf und ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken. Rasch griff sie wieder nach ihrem Handy, aber seit der letzten Nachricht von heute Mittag hatte sich Jannik noch nicht wieder gemeldet.

Dafür verkündete die Uhrzeit auf dem Display, dass es Zeit war, Feierabend zu machen, um noch rechtzeitig das Abendessen zu bereiten. Es war eines der wenigen Dinge, die ihr den Alltag verleideten, weil es sie permanent unter Stress setzte, ohne dass sie eine Möglichkeit sah, etwas dagegen tun zu können.

Sie arbeitete gern in ihrem Job, genoss die Anerkennung, die man ihrer Kompetenz entgegen brachte und ging auf im fachlichen Austausch mit Kollegen und Geschäftspartnern – Frau Bauer war zum Glück eine Ausnahme – aber die Vereinbarkeit von Beruf und Familie blieb eine ständige Herausforderung.

Wenn sie sich durch den stressigen Berufsverkehr nach Hause gequält hatte, wurde sie zu Hause von ihren hungrigen Kindern empfangen, wodurch das Kochen, das sie an sich am Wochenende gern machte, zu einer permanenten Drucksituation avancierte, möglichst zügig etwas auf den Tisch zu bringen, das sowohl den Wünschen der Kinder als auch ihrer Vorstellung eine gesunden Mahlzeit entsprach. Unter den Umständen kapitulierend griff sie allerdings nichts selten und mit schlechtem Gewissen auf Tiefkühlprodukte zurück.

Mit der deprimierenden Aussicht auf wie üblich volle Straßen fuhr Bea seufzend den Computer herunter und konnte sich des sarkastischen Gedankens nicht erwehren, wie sie wohl in ihrem Leben alles zeitlich auf die Reihe bringen sollte, wenn sie, wie die Umweltschützer nicht müde wurden zu betonen, immer nur den Öffentlichen Nahverkehr statt des Autos nutzen würde. Selbst im Stau war sie mit dem Auto immer noch schneller.

„Tschüs!"

Sie warf es wiederholt hinein in die einzelnen größeren Büros, in denen noch Kollegen saßen, während sie den Flur entlang ging, gedanklich schon bei dem Versprechen, das sie Hannah gegeben hatte, das Puzzle heute Abend zusammen mit ihr zu beenden. Und anschließend würde sie ausgiebig mit Jannik telefonieren.

Diese erfreulichen Gedanken vertrieben die Frustration und mit einem Lächeln auf den Lippen lehnte sie sich während des Wartens auf den Fahrstuhl an die Balustrade, die das offene Treppenhaus umschloss und von der aus sie einen Blick bis in die unteren Etagen des Gebäudes werfen konnte.

Beschwingten Schrittes verließ Bea kurz darauf das Bürogebäude in Richtung Parkplatz, öffnete ihren Zopf und schüttelte ausgelassen ihre rotbraunen Haare, die sich schließlich sanft um ihre Schultern legten. Der Wind hatte aufgefrischt, war aber fern davon, von der in der Wetter App angekündigten Kühle zu sorgen, weshalb sie spontan entschied, nachher auf dem Balkon zu essen.

Ihre ein wenig in die Jahre gekommene Familienkutsche stand noch immer zwischen einem SUV und einem trendigen Audi, was beredt Zeugnis darüber ablegte, dass viele der Mitarbeiter dieses Bürokomplexes Wert auf ein Statussymbol legten, während Bea es vorzog, ihr Einkommen in die nicht gerade günstig zu nennende Wohnung und in die bei ihr und ihren Kindern beliebten Skiurlaube zu stecken.

Was sie dann jedoch entdeckte, ließ sie freudig überrascht inne halten. Mit Hilfe der Scheibenwischer festgeklemmt war die Windschutzscheibe ihres Autos mit mehreren aprikotfarbigen Rosen bedeckt, was Bea das aufgeregte Gefühl vermittelte, sich mitten in einem Hollywoodfilm zu befinden; es sah wunderschön aus.

Staunend fuhr ihre Hand zum Mund, während sich ihre Augen angetan weiteten. Unwillkürlich drängte sich ihr ein Vergleich zu ihrem Ex auf, der niemals auf eine so romantische Idee gekommen wäre. Hingerissen ließ sie ihre Augen über das Blumenarrangement wandern, fuhr mit den Fingern zart über eines der Blütenblätter und nahm den leichten Duft der Rosen in sich auf, der sich mit dem Geruch von frisch gemähtem Rasen der nebenan liegenden Grünfläche vermischte.

Jan, du bist einfach der Wahnsinn, fuhr ihr durch den Kopf, nicht wenig beeindruckt von der Kreativität dieser romantischen Geste, von der sie sogleich noch ein Foto zur Erinnerung machte, und fast bedauernd entfernte sie schließlich behutsam die langstieligen Rosen von der Scheibe, um sie ins Auto zu legen. Erst spät registrierte sie den Umschlag, der ebenfalls unter den Scheibenwischern klemmte; sie lehnte sich gegen den Wagen und begann neugierig zu lesen.

Liebe Bea,

ich hoffe, meine Dekoration deines Autos gefällt dir :) Dadurch bist du hoffentlich spätestens jetzt mit deinen Gedanken genauso bei mir wie ich es schon den ganzen Tag bei dir bin ;)

Meine Augen zum Leuchten bringen würdest du, wenn nicht nur die Vorstellung von dir, sondern du selbst dich heute Abend in meinen vier Wänden blicken lassen würdest. Ich vermisse dich nämlich sehr...

Lass mich nicht länger warten, Honey ;)

XX

Jan

Ein warmes Gefühl durchfuhr Bea angesichts dieser liebevollen Zeilen, das schon bald in das gleiche Verlangen überging wie jenes, welches aus den geschriebenen Zeilen sprach. Mit einem beseelten Lächeln auf den Lippen schloss sie die Augen und stellte sich den gewünschten Besuch bei Jannik in leuchtenden Einzelheiten vor.

Bis ihre Mundwinkel sich jedoch plötzlich in die Gegenrichtung neigten, als sie begriff, dass genau diese Spontanität unmöglich war, da Jonas und Hannah sie zu Hause erwarteten. Ernüchtert öffnete Bea ihre Augen und starrte frustriert auf die schlanken Pappeln, die den Parkplatz begrenzten und sich sachte im Wind bewegten.

Sie würde sich etwas vorlügen, wenn sie behaupten würde, das Puzzeln mit Hannah wäre ihr wichtiger als Jannik zu sehen. Gefangen in dem Zwiespalt zwischen der Zusage gegenüber Hannah und dem Klopfen ihres Herzens, das nur eine Richtung kannte, drückte sie ihr Kinn auf die Brust und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. Das Puzzle würde man auch morgen zu Ende machen können, doch sie hatte es ihrer Tochter versprochen...wie wichtig mochte es Hannah sein?

Mit einer Grimasse griff Bea nach ihrem Handy und rief zu Hause an. Sie ließ es so lange klingeln, bis der Anrufbeantworter ansprang, versuchte es dann erneut und nun wurde abgehoben.

„Hier ist Hannah Lichtenfeld", meldete sich ihre Kleine vorschriftsmäßig und Bea bekam unweigerlich einen Kloß im Hals, als sie sogleich auf das zu sprechen kam, das sie bewegte.

„Hallo Hannahschatz! Du, wir wollten doch heute Abend zu Ende puzzeln. Sag mal, wäre es schlimm, wenn wir das auf morgen verschieben würden?"

Mit pochendem Herzen wartete sie auf die Reaktion ihrer Tochter.

„Wieso?", fragte Hannah nach und ließ nicht erkennen, wie sie zu diesem Vorschlag stand. Bea holte tief Luft und flunkerte mit schlechtem Gewissen:

„Ich habe hier ganz kurzfristig noch eine Aufgabe erhalten, die ich eigentlich bis morgen fertig haben muss..." Bea ließ den Satz eine Sekunde auslaufen und fügte dann hastig hinzu, während sich ihre Hand in die Karosserie des Autos krallte: „Aber du hast natürlich Vorrang. Also wenn das jetzt schlimm ist..."

Mit angehaltenem Atem wartete sie auf Hannahs Antwort, die sich jedoch mehrere Sekunden Zeit ließ. Aus dem Hintergrund waren Gesprächsfetzen irgendwelcher unbekannten Stimmen zu hören, die Bea den Eindruck vermittelten, dass Hannah gerade vor dem Fernseher saß.

„Geht so", gab Hannah schließlich gedehnt von sich, um dann einen Atemzug später nachzufragen:

„Wann kommst du denn?"

Bea sah auf die Uhr und erwiderte, sich vorsichtig herantastend:

„So etwa zweieinhalb Stunden später?"

„Kann ich dann den neuen Film von den Pfefferkörnern gucken?", kam es daraufhin wie aus der Pistole geschossen von Hannah, was Bea deutlich machte, dass Hannah schon länger mit dieser Idee geliebäugelt hatte. Der Film war im Prinzip erst ab zwölf Jahren frei gegeben und eigentlich hatte Bea ihn mit Hannah gemeinsam gucken wollen, aber unter diesen Umständen... es würde ihr zumindest ein wenig das schlechte Gewissen nehmen.

Beas Blick fiel auf die Rosen, die sie vorsichtig im Auto abgelegt hatte, und dieser Anblick war alles, was es brauchte, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

„Einverstanden. Dann mach das. Frag Jonas, ob er mitguckt. Ich bestell euch Croque nach Hause, ok?"

„Jaaa!" Hannahs überschwängliche Begeisterung drang deutlich lauter als zuvor aus dem Telefon.

Und mit einem Gefühl großer Erleichterung darüber, bei Hannah erfolgreich eine Enttäuschung verhindert zu haben, verabschiedete Bea sich mit dem Versprechen, sich zu melden, wenn sie losfuhr. Dann steckte sie ihr Handy zurück in die Handtasche, setzte sich hinter das Steuer und ließ zu, dass die Vorfreude auf das Treffen mit Jannik ihr Gesicht wieder mit einem Ausdruck freudiger Erwartung überzog.

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