Kapitel 17
Erst war es nur ein entferntes Dröhnen, dann kam das Geräusch eines Motorrades mit zunehmender Lautstärke immer näher, bis es abrupt abbrach. Kurze Zeit später fiel eine Tür ins Schloss und dann wurde es wieder still. Die wenigen Minuten hatten jedoch gereicht, Beas Schlaf nachhaltig zu stören, obwohl die noch vorhandene Müdigkeit ihre Gedanken träge machte. Resigniert öffnete sie die Augen einen Spalt breit und sah dem Tageslicht nach, das sich an den Rändern der Gardine ins Zimmer stahl und den Blick auf eine Wanduhr lenkte: 09.20 Uhr. Bea seufzte, das bedeutete eine kurze Nacht, mit Vergnügen hätte sie noch zwei Stunden länger geschlafen, aber die innere Uhr ließ sich schwer austricksen.
Jannik hingegen hatte sich von den Motorradgeräuschen nicht stören lassen, tief und fest schlafend lag er entspannt auf dem Rücken, den einen Arm, auf dem ihr Kopf wie auf einem Kissen ruhte, noch immer zur Seite ausgestreckt, die Decke halb fortgerutscht, so dass sie nur noch Hüfte und Beine bedeckte. Bea beobachtete, wie sich seine Brust im Rhythmus des Atmens leicht hob und senkte und ließ zufrieden die Stunden der letzten Nacht Revue passieren. Mit einer hauchzarten Bewegung strich sie über seinen Körper, darauf bedacht, ihn nicht zu wecken und ließ dann ihren Blick durch das Zimmer wandern, das sich ihr das erste Mal im Tageslicht präsentierte.
Die schnörkellose Einrichtung ließ wenig Rückschlüsse über den Charakter des Bewohners zu, einzig der Laptop, der funktionelle Schreibtisch und die Fachbücher auf den Regalen an der Wand gaben einen Hinweis auf die Studentenexistenz. Auf einem Sideboard stand ein großes TV-Gerät und die zum Bett ausgeklappte Couch lag niedrig auf dem Boden und nahm fast ein Drittel des Raumes ein, die verstreut herum liegenden Kleidungsstücke kündeten von spontanen sowie in Einvernehmen verbrachten Stunden. Der durch das auf Kipp gestellte Fenster hereinziehende Windhauch bauschte die dunkelrote Gardine und brachte ein wenig Luft in das warme Zimmer, aus Richtung Flur konnte Bea fröhliches Lachen sowie einen Wortwechsel ausmachen, ohne die Unterhaltung im Einzelnen zu verstehen.
Und dann vernahm sie noch ein weiteres Geräusch, das dezente Vibrieren eines Handys, und ihr fiel ein, dass sie ihr Handy gestern Abend auf lautlos geschaltet hatte. Vorsichtig richtete sie sich auf und langte zum Teppich hinunter, auf dem sie ihr Gerät abgelegt hatte.
„Ja, hallo?" antwortete sie leise, ohne sich die Mühe zu machen, vorher nach dem Anrufer zu sehen.
„Mama, wo bist du?" klang ihr Jonas' Stimme mit einer Mischung aus Besorgnis und Entrüstung entgegen. „Wieso bist du nicht zu Hause?"
Bea war einen Augenblick lang verwirrt, die Kinder hatten doch wie gestern spontan telefonisch verabredet bei ihren Eltern übernachten sollen, und sie gab daher zurück:
"Wieso seid ihr zu Hause, ich dachte, ihr seid bei Oma?"
„Ich verstehe dich kaum, du bist so leise. Ja, waren wir auch, aber ich hatte meine Sportsachen nicht mit, also sind wir nach dem Frühstück noch nach Hause gefahren. Und du warst nicht da!" Das letzte kam anklagend.
„Ähm... ich war doch gestern Abend noch geschäftlich unterwegs und weil es spät bzw. früh geworden ist, habe ich der Einfachheit halber bei einem... bei einer Kollegin geschlafen, die in der Nähe wohnt", flunkerte Bea und gähnte.
Jonas schien kein Misstrauen zu schöpfen und teilte so belehrend, wie es nur ein Teenager vermochte, mit:
"Dann solltest du das Oma und Opa beim nächsten Mal lieber schreiben, die haben sich Sorgen gemacht. Und Hannah auch."
„Du nicht?", wunderte sich Bea
„Nö!", kam die lapidare Antwort ihres Sohnes in seiner ganzen Coolheit, jetzt, wo er seine Mutter in Sicherheit wusste. „Aber die anderen waren heute Morgen sehr besorgt."
„Mache ich dann in Zukunft", willigte Bea ein und um Ärger zu vermeiden, verzichtete sie auf den Hinweis, dass ja eigentlich keiner in ihrer Wohnung hätte sein sollen und somit ihr Fehlen gar nicht hätte bemerken können.
„Weißt du, wo mein neues Trikot ist? Das in blau-grau?", wurde Jonas nun zielorientiert.
„Bist du nicht schon unterwegs?"
„Ja, im Auto, ich habe was anderes genommen. Aber wo ist das?"
„Ja, wo schon, in der Wäsche natürlich."
„Ach so." In Jonas' jugendlichen Gedankengängen fand das Waschen von Kleidungsstücken einfach nicht statt. „Wann bist du wieder zu Hause?"
„So gegen 13.oo Uhr, wenn du wieder zurück bist."
„Okay, Tschüs dann."
„Tschüs, mein Schatz", verabschiedete sich Bea, aber Jonas hatte bereits aufgelegt.
Bea legte das Handy zurück auf den Teppich, drehte sich wieder um und sah direkt in Janniks fassungsloses Gesicht, der sich mit verschränkten Armen aufgesetzt hatte und mit kaum verhohlenen Ärger fragte:
"War das dein Mann? Bist du etwa doch noch verheiratet?!"
Sein Blick glitt unwillkürlich zu ihrer rechten Hand, obwohl er wusste, dass sich dort kein Ring befand. Bea hatte das Gefühl, etwas umklammere ihren Magen und wrang ihn aus wie einen Waschlappen. Was hatte er von dem Gespräch mitbekommen, vielmehr welche Antworten hatte sie gegeben?
„Oder wartet zu Hause ein fester Partner auf dich?! Das erklärt natürlich einiges."
Janniks Ton wurde eine Spur beißender in dem Bewusstsein, von Bea offenbar belogen worden zu sein. „Deine fehlende Zeit abends, die Weigerung, zu dir zu fahren..."
Unvermittelt wurde Bea klar, dass jetzt der Moment war, ihm endlich die Wahrheit zu sagen, und ihr wurde heiß vor Nervosität, als sie in Janniks aufgebrachte Miene sah. Sie räusperte sich, bevor sie schließlich herausbrachte:
"Ich bin längst geschieden. Zu Hause wartet tatsächlich jemand auf mich, aber kein Mann." Dann holte sie tief Luft und fügte hinzu: "Ich habe Kinder."
Den Wechsel der Emotionen in Janniks Gesicht zu betrachten, hätte komisch sein können, wäre die Situation nicht so angespannt gewesen. Der Ärger hatte sich im Bruchteil einer Sekunde aufgelöst und Verblüffung Platz gemacht, ihm stand buchstäblich der Mund offen und seine Hände sanken zurück auf die Matratze.
„Kinder?", echote er dann geschockt.
Bea nickte und fügte ungefragt hinzu: "Zehn und dreizehn Jahre alt."
Innerlich voller Anspannung, nach außen jedoch gefasst wirkend, wartete sie auf seinen Kommentar. Jannik schien Mühe zu haben, das Gesagte zu verarbeiten, ein paar Sekunden schwieg er, schluckte dann hörbar und fragte leicht verwirrt:
"Und wie alt bist du?"
Bea biss kurz die Zähne aufeinander, bevor sie leise zurückgab: "Achtundreißig."
Janniks Reaktion bestand in einem längeren, ungläubigen Kopfschütteln, es war fast, als versuche er, die ganzen auf ihn einprasselnden neuen Details mit dem Drehen seines Kopfes abzuwehren.
„Sag doch was", bat Bea, als sein Schweigen begann, sich auszudehnen, und sie legte ihre Hände ineinander, um das nun dort beginnende Zittern zu unterbinden.
„Ich bin viel zu jung für Kinder", verkündete Jannik schließlich und wenn auch seine Hände keine abwehrende Bewegung machten, so sprach sein Gesicht doch Bände.
„Du hast ja keine, sondern ich!", stellte Bea klar, und spürte noch kaum den beginnenden Ärger, der in ihr angesichts seiner Worte aufwallte.
„Jaaa...", erwiderte Jannik gedehnt und verschränkte nun wieder die Arme, „Aber ich weiß gar nicht, wie man mit Kindern umgeht."
Die ausweichende Art anderer Männer, die vielleicht versucht hätten, sich ihrer Freundin zuliebe die neuen Gegebenheiten schön zu reden und optimistisch von sich zu geben, dass alles gut werden würde, lag Jannik fern, seine Ehrlichkeit wirkte auf Bea allerdings wie ein Brandbeschleuniger.
„Du hast gesagt, du lässt dir nicht so leicht Angst einjagen!", warf sie ihm vor und wusste nicht, was sie mehr verspürte, Enttäuschung über sein Verhalten oder Wut über seine fehlende Bereitschaft, sich auf die neue Situation einzulassen.
Jannik verzog das Gesicht, als sie ihn daran erinnerte und zog es vor, ihrem Blick auszuweichen. Ratlos sah er auf sein neben sich liegendes Handy, als wäre davon eine Art moralische Unterstützung zu erwarten.
Es versetzte Bea einen Stich, dass er nicht nur Desinteresse vermittelte, sondern geradezu abwehrend reagierte und frustriert begann sie sich zu fragen, warum sie sich bloß in einen Mann verliebt hatte, dem Kinder nichts bedeuteten.
„Warum hast du mir das nicht gleich gesagt!", kam es dann vorwurfsvoll von Jannik, der nun offenbar in den Angriffsmodus übergegangen war.
„Wann denn?", fragte Bea bitter, „Bei unserer ersten Verabredung? Dann hätte es ja keine weiteren gegeben..."
Wieder wich Jannik ihrem Blick aus, was seine Antwort nicht deutlicher hätte machen können.
„Das ist doch eine relevante Information", murmelte er.
Es schien tatsächlich ein no go-Kriterium für ihn zu sein, begriff Bea schließlich und für einen klitzekleinen Moment wünschte sie, es gäbe statt zweier Kinder einen Ehemann, dessen Betrügen von einem Liebhaber wahrscheinlich weniger problematisch gesehen werden würde. Dann überwog die Wut über Janniks Feigheit und entschlossen stand sie auf und suchte ihre Sachen zusammen.
„Bleibst du nicht mehr zum Frühstück?"
Jannik schien tatsächlich überrascht zu sein, doch Bea ignorierte die Tatsache, dass es offenbar nicht seine Absicht war, den Morgen auf diese Weise zu beenden, und schüttelte stumm den Kopf. Konsterniert sah er zu, wie Bea in ihre Jeans und Bluse schlüpfte und wandte mit viel weniger Schärfe als noch ein paar Minuten zuvor ein:
"Bea, du kannst mir doch nicht vorwerfen, dass ich nicht sofort Hurrah schreie."
Den Tränen nahe sah Bea hoch, aber sie riss sich zusammen, und statt der grenzenlosen Enttäuschung, die sie spürte, gab sie ihrer Wut Raum.
„Nein, aber es ärgert mich, dass du nicht mal versuchst, mich mit Kindern in Betracht zu ziehen!"
Sie griff nach ihrer Jacke, ging auf die Tür zu und fuhr dabei fort: "In deinem Alter hatte ich bereits einen einjährigen Sohn, aber du benutzt deine Unreife wie ein Schild gegen schwierige Herausforderungen. Werde erwachsen, Jan!"
Mit diesen Worten ließ sie Jannik perplex zurück und warf mit einem Knall die Tür hinter sich zu.
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