Blaue Augen
Vincent hasste seinen Nachnamen über alles. Er fand, dass die beiden Nachnamen ja mal so überhaupt nicht zusammenpassten. Es war ein entweder oder. Leider konnten wir nichts dagegen unternehmen. Unsere Mutter hatte ihren Nachnamen abgegeben, weil unser Vater schon zwei hatte. Vincent regte sich normalerweise nicht über so Kleinigkeiten auf, aber das störte ihn wirklich.
Ich schaue aus dem Fenster. Es regnet. Das Wetter spiegelt eigentlich genau meine Laune wieder. Ich fühle mich leer. So als wäre eine Hälfte von mir mit meinem Bruder gestorben.
„Schmeckt es dir nicht? Du stocherst nur so in deinem Essen rum."
„Doch, ich habe nur keinen Hunger."
„Du musst aber was essen. Dein Körper braucht das. Du hast total abgenommen in den letzten Tagen. Geht es dir gut?"
„Mom, ist schon okay. Mir geht es gut."
Von wegen! Mir geht es um ehrlich zu sein so schlecht wie noch nie. Ich ertrage niemanden in meiner Nähe. Ich ertrage nicht einmal meinen erbärmlichen Anblick im Spiegel. Aber all das weiß sie auch. Das Klingeln holt mich zurück in die Realität.
„Ich geh schon!", sage ich, froh endlich aufstehen zu können und öffne die Tür. „Hey!", sagt er. Ich kenne ihn nicht. Aber ich kenne seine Augen. Dieses Blau kann man einfach nicht vergessen. Er lächelt. Es ist ein warmes und freundliches Lächeln, welches mich aus irgendeinem Grund mit Freude erfüllt. Ich muss auch lächeln. Das habe ich schon etwas länger nicht mehr.
„Hallo? Hörst du mir zu?"
„Ähmm...ja achso, sorry. Was hast du gesagt?", frage ich. Ich merke wie ich rot werde. Toll. Muss das jetzt unbedingt sein?
„Ich sagte, ich habe etwas für dich."
Er reicht mir einen Brief mit meinem Namen darauf. Es war voll mit Blut. Nur kurze Zeit später fällt mir auf, dass es die Handschrift von Vincent ist. Skeptisch schaue ich ihn an.
„Woher hast du das?"
„Nachdem ich dich zur Seite gerissen habe, bin ich natürlich sofort zu deinem Bruder geeilt. Leider wusste ich dann bei seinem Anblick schon, dass es vorbei sein würde. Er wies mich auf seine Hosentasche hin. Dort fand ich den Brief. Es war dann durch die Medien nicht sonderlich schwer herauszufinden wo du wohnst."
Er schaut mich an und lächelt.
„Ähm...okay. Danke."
Eine Weile vergeht. Wir schweigen uns nur an und schauen einander in die Augen.
Dann räuspert er sich und unterbricht die peinliche Stille.
„Tschüss, Hope.", sagt er mit einem Lächeln.
Er dreht sich um und geht.
Ich kann ihn doch nicht einfach so gehen lassen!?
„Warte!" Er bleibt stehen und schaut mich an.
„Warum hast du mich gerettet? Warum nicht ihn?"
Ach!! Diese verdammten Tränen...
Er zuckt nur mit den Schultern.
,,Ich weiß es nicht. Ich musste mich ganz schnell entscheiden, es war mehr wie ein Reflex."
,,Du rettest mir also aus Reflex mein Leben?"
Er lächelt wieder und geht. Warum geht er jetzt einfach? Das ergibt doch keinen Sinn!
Ich schaue ihm nach.
Hätte er meinem Bruder zuerst geholfen würde er vielleicht noch leben.
Ich wäre dann aber vielleicht... Uff.
Vincent hätte ihn ganz bestimmt umgebracht. Der Gedanke zaubert mir ein kleines Lächeln ins Gesicht. Er und sein Beschützerinstinkt.
Ich schließe die Tür und gehe in mein Zimmer. Dort schaue ich mir den Brief an. Der Großteil ist mit Blut übersät. Mit dem Blut meines Bruders. Hatte er das immer bei sich getragen? Jeden Tag?
Bei diesen Gedanken wird mir klar, wie sehr ich ihn vermisse. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Beerdigung morgen überstehen soll.
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