40. Kapitel: Hoffnung - der dritte Schritt

Chloe P.O.V

Die letzten zwei Wochen hatte ich nur durchgearbeitet. Die Therapiestunden waren anstrengender, als man sich vorstellen könnte.

Ich hatte irgendwie das Gefühl, alles noch einmal neu zu lernen. Anziehen, duschen, auf Toilette gehen, ins Bett gehen. Einfach alles. Man könnte meinen, dass sich meine Kinder in einem weit fortgeschrittenen Zustand befinden als ich selbst. Jeden Tag lernte ich etwas Neues über meinen Körper oder mich selbst. Einige Sachen wusste ich auch schon vorher, hatte sie aber über die letzten Monate einfach vergessen.

Es ging voran, könnte man sagen. Langsam aber immerhin. Dennoch lag noch ein langer Weg vor mir, den ich zum Glück nicht allein gehen musste.

Louis unterstützte mich nach wie vor, worüber ich ihm auch sehr dankbar bin. Als ich jedoch erwähnte, dass er etwas anderes machen könnte und nicht rund um die Uhr hier sein musste, weil er vielleicht noch andere Dinge erledigen hat, durfte ich mir eine gewaltige Standpauke anhören, wie ich es auch nur in Betracht ziehen kann, irgendwas allein ohne ihn zu machen. Ich konnte ihn einfach nicht umstimmen und somit war die Sache dann geritzt.

Dr. Thompson meinte, dass meine psychische Verfassung besser ist als meine physische. Meine Panikattacken sind komplett verschwunden und die Albträume vom Unfall hab ich nur noch einmal pro Wochen oder gar nicht.

Ich habe mich damit abgefunden, dass ich nun im Rollstuhl sitze und nichts dagegen machen kann, außer mein Leben weiterzuleben, weil es einfach zu kostbar ist, um es wegzuwerfen.

Dazu zählt natürlich auch meine Familie, die ich über die Monate ganz schön vernachlässig hatte. Der Gedanke, dass sie weniger leiden und mich vergessen würden, erscheint mir jetzt total bescheuert. Um diesen Fehler also wieder rückgängig zu machen, vielleicht nicht ganz, aber es war ein Versuch, habe ich meine Eltern angerufen und mit ihn über drei Stunden telefoniert.

Am Anfang sind bei ihnen nur die Tränen geflossen und da ich ja eh nah am Wasser gebaut bin, hat das Ganze etwas auf mich abgefärbt. Und dann haben wir um die Wette geweint. Ich muss zugeben, dass ich meine nervige Mum wirklich vermisst hatte und es nun umso schöner war, ihr die guten Neuigkeiten mitzuteilen. Wie erwartet, fingen meine Eltern noch mehr an zu weinen und schmissen sich in die Arme des jeweils anderen.

Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee gewesen, einen Videoanruf mit ihnen zu machen, denn das Bild, was sich mir in dem Moment zeigte, war einfach zu schön. Es war schon eine Weile her, seit ich sie so gerührt gesehen hatte, sodass es mich ebenfalls sehr berührte.

Sie sagten gleich, dass sie einen Flug buchen würden, um mich besuchen zu kommen. Auch wenn ich meinte, dass das nicht nötig wäre, ließen sie nicht locker. Sie wollten mich unbedingt sehen. Ich konnte es ihnen ja gar nicht verübeln, denn ich wusste, wie unerträglich es ist, seine Kinder ewig nicht zu sehen.

Ich hatte meine auch eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, woran ich aber selbst Schuld bin. Was würde ich nicht alles geben, um sie endlich wieder in meine Arme zu schließen. Ich vermisste sie so sehr, denn sie haben Freude und Trubel in mein Leben gebracht, das sich so verändert hat, seit ich Niall getroffen hatte. Wir hatten unsere Höhen und Tiefen. Dennoch bereue ich rein gar nichts.

Die restliche Zeit, die ich mit meinen Eltern telefoniert habe, haben sie mich über den Rest der Familie informiert. Natürlich habe ich sie auch über Grace und Harry gefragt.

Als meine Mum meinte, dass sie sich vertragen haben und alle Probleme geklärt sind, konnte ich ihr gar nicht glauben, weil es ihr nicht ähnlich sieht, einfach so nachzugeben. Dennoch war ich froh, dass sie es getan hat. Das war sie meiner Schwester einfach schuldig, die die ganze Zeit an den Streitereien zwischen unsere Mum und Harry gelitten hatte. Es ist schön, dass ihrem Glück nichts mehr im Weg steht und keiner aus unseren Familien mehr Bedenken hat.

Die Tatsache, dass es allen gut geht, macht mich so glücklich und motiviert mich, nicht aufzugeben. Das hier machte ich nicht mehr für andere Menschen, das ist mir bewusst geworden. Ich machte es für mich. Ich wollte leben. Und dafür werde ich kämpfen.

Ich rollte gerade mit Olaf von meiner Sitzung mit der Psychologin zum nächsten Termin mit meiner Physiotherapeutin Pauline, als Louis mit freudestrahlend entgegenkam.

Er ist heute aus London wiedergekommen, weil er etwas Wichtiges dort zu erledigen hatte. Und so wie es aussah, ist es sogar geglückt. Natürlich hatte ich ihm dazu geraten.

Nachdem ich ihn das eine Mal nach Eleanor gefragt und er betrübt auf den Boden gesehen hatte, war mir klar, dass da irgendetwas tierisch falsch gelaufen ist. Also hab ich weiter nachgehackt. So wie Louis nun mal ist, hab ich leider nicht alles herausgefunden. Er meinte nur, dass sie wegen eines Fehlers getrennte Wege gegangen sind und er es ihr noch nicht mal übel nehmen kann, dass sie so reagiert hat.

Na ja und dann habe ich ihm halt ein paar generelle Sachen geraten, wenn er sie doch so krass liebt. And here we go. Er scheint ja gerade auf Wolke sieben zu schweben.

„Und? Und? Was hat sie nun gesagt?", fragte ich mit einer etwas zu schrillen Stimme.

Aufgeregt wie ich war, wäre ich jetzt hibbelig im Rollstuhl rumgerutscht, wenn ich es könnte. Bei meiner Frage änderte sich Louis Gesichtsausdruck für einen Moment. Diese Miene kannte ich genau. Sie erschien dann, wenn man doch etwas enttäuscht vom Ergebnis ist. Das ist so als würde man den zweiten Platz in einem Wettbewerb machen. Man freut sich zwar, aber dennoch ist man enttäuscht, weil es nicht der erste Platz geworden ist.

„Sie hat nein gesagt?", fragte ich ihn ungläubig.

Mit offenem Mund starrte ich ihn nun an und konnte es einfach nicht fassen. Wie konnte sie nur nein sagen? Wie? Ich verstand die Welt nicht mehr. Mein Plan war so gut durchdacht gewesen und dann... dann hatte sie einfach so nein gesagt. Das ist eine Schande.

Doch Louis grinste mich spitzbübisch an und meinte: „Natürlich hat sie ja gesagt."

„Louis William Tomlinson! Wie kannst du mich bei so einer wichtigen Sachen verarschen?", rief ich und schlug ihm empört gegen den Arm.

In letzter Zeit treibt er ganz schön viele Scherze mit mir, was alles wieder normal wirken lässt. So hab ich Louis kennengelernt. Witze zu unpassenden Zeitpunkten und Blödsinn, egal zu welcher Tageszeit. Aber das ist nun mal Louis.

„Wo soll's hingehen?", fragt er interessiert.

„Ach, nur Physiotherapie mit Pauline. Nichts weiter.", winkte ich ab und setzte meinen Weg zum Raum fort.

„Was heißt hier nur? Vielleicht wird es ja dieses Mal ganz besonders.", gab Louis zurück und zuckte nur mit den Schultern.

Misstrauisch sah ich zu ihm hoch und versuchte den kleinsten Hinweis auf ein Detail in seinem Gesichtsausdruck zu erkennen.

„Weißt du etwas, was ich nicht weiß?", fragte ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ich wollte damit nur sagen, dass jeder Tag zu etwas besonderem werden kann. Das heißt nicht, dass ich irgendwas geplant habe.", antwortete er.

„Oh Mr. Tomlinson. Seit wann haben Sie denn so weise Sprüche parat?", zog ich ihn auf und schmunzelte leicht.

Er zuckte nur mit den Schultern und grinste mich an: „Es gibt so einiges, was ich in meiner Zauberkiste habe, das du nicht kennst."

Die Physiotherapie war anstrengend so wie immer. Pauline triezte mich mal wieder. Mich allein nur an die Stangen mit meinen Händen abzustützen und das ewig lange zu halten, war einfach zu viel für mich. Jeder, der mich halbwegs gut kennt, weiß, dass ich keine Armmuskeln habe. Somit war das Training eine Qual für mich. Schweiß rann mir über das Gesicht und dem Rücken, weil wir hier bestimmt schon zwei Stunden Physiotherapie machten.

Auch wenn ich kleine Pausen hatte, brachten mich diese paar Stunden echt an meine Grenzen. Und wenn du dann auch noch einen dumm grinsenden Louis neben dir stehen hast, der eigentlich versuchen soll, dich zu motivieren, möchtest du ihn einfach nur schlagen. Ich schwöre, wenn ich die Möglichkeit hätte, zu laufen, hätte ich es schon längst gemacht. Nur leider war das Ganze nicht so leicht, wie ich es mir wünschte.

Nach einer weiteren halben Stunde erlöste mich Pauline endlich: „Ich glaube, wir sind fertig für heute. Gute Arbeit. Du wirst immer besser."

Pauline half mir wieder zurück in den Rollstuhl, in dem ich schon fast total erschöpft zusammensackte. Ich war echt am Ende und brauchte dringend eine Dusche. Louis schien mir da zuzustimmen.

„Geh ruhig. Ich warte draußen im Garten auf dich. Dann gehen wir etwas spazieren. Was hältst du davon?", meinte er.

„Hört sich gut an.", gab ich leise zurück und rollte in Richtung meines Zimmers, wo ich sogleich auf Ms. Lookhard traf.

Ich bat sie, mich zu begleiten und mir beim Duschen zu helfen. Ich bin zwar schon etwas daran gewöhnt, dass ich für jede Kleinigkeit jemanden brauche, dennoch war es nervig, dass ich nicht mehr alles selbstständig machen konnte. Und es dauerte länger, viel länger.

Nachdem Ms. Lookhard mir beim Duschen geholfen hatte, zog ich mich allein an. Immerhin müsste ich es später auch ohne jegliche Hilfe machen. Je eher ich anfange, selbstständiger zu werden, desto besser ist es für mich. Japp, ich brauchte definitiv eine Ewigkeit. Aber hey, Übung macht den Meister.

Weil es einfacher war, einfach ein Kleid anzuziehen, als mich in eine Hose zu quetschen, entschied ich mich für ein weiß blaues Kleid, eines meiner Lieblingssommerkleider. Da wir ja schon im Herbst waren und ab und zu ein kühles Windchen wehte, zog ich mir noch eine kleine Strickjacke oben drüber. Ich föhnte mein Haar ohne Probleme und betrachte mich einmal kurz im Spiegel. Dürfte reichen. Louis hat mich schon in einer schlimmeren Verfassung gesehen, in meiner schlimmsten, um genau zu sein. Von daher machte es mir jetzt wenig aus.

Im Garten der Reha-Klinik angekommen, suchte ich überall nach Louis. Verwirrt sah ich mich um.

Er hatte doch gesagt, dass wir uns im Garten treffen würden, oder etwa nicht? Hatte ich mir das nur eingebildet? Ganz bestimmt nicht. Ich bin mir hundert prozentig sicher, dass wir uns hier treffen wollten. Aber vielleicht holt er sich ja auch nur etwas zu trinken oder muss auf Toilette, wer weiß. Also wartete ich einfach.

Als er nach zwanzig Minuten immer noch nicht hier aufgetauchte, griff ich nach meinem Handy und rief ihn an. Nach dem bestimmt hundertsten Klingeln ging der Herr dann auch endlich mal ran.

„Ja? Was gibt's?", fragte er in einem fröhlichen Ton.

„Was es gibt? Wo bist du Tomlinson? Ich warte jetzt schon gefühlte Stunden hier im Garten auf dich.", gab ich zurück.

Wenn er mir jetzt sagt, dass er es vergessen hat, gehe ich an die Decke, auch wenn es wortwörtlich gerade nicht möglich ist. Wäre ja nicht das erste Mal, dass er eines unserer Treffen vergessen hätte.

Ich glaube, ich sollte ihm mal eine Uhr oder eine Karte oder so besorgen. Bei seinen Ausreden bleibt mir ja auch nichts anderes übrig. Mal meinte er, er hätte die Zeit vergessen oder sich verlaufen. Beides total unwahrscheinlich. Die Reha-Klinik kennt er im Schlaf und er hat immer sein Handy bei sich, auf dem man ja auch die Zeit checken könnte.

„Hä? Ich bin doch hier. Wo bist du denn?", erwiderte er.

Ja klar, du bist hier. Wo denn? Ich hab ja nur alles abgesucht. Meine Güte, wo steckt der Kerl bloß?

„Ach ja? Wo denn?", fragte ich ihn, jetzt schon leicht genervt.

„Du weißt doch, wo der Torbogen mit diesen komischen Rosen ist, oder nicht?", stellte er die rhetorische Gegenfrage, „Genau dort bin ich."

Ohne ein weiteres Wort legte ich einfach auf und steckte mein Smartphone wieder weg. Wenn er jetzt nicht dort ist, kann er was erwarten. Leicht angepisst machte ich mich auf den Weg zu diesen Torbogen, von dem er gesprochen hatte.

Als ich gerade um die nächste Kurve bog, hinter der sich dieser Torbogen befindet, stockte ich. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Anstelle weiterzufahren, blieb ich mitten auf dem Weg stehen. Tränen füllten meine Augen, als meine beiden Kinder freudestrahlend und lachend auf mich zugelaufen kamen.

„Mummy, Mummy.", riefen sie.

In diesem Moment brach einfach alles in mir zusammen. Die Tränen strömten nur so über meine Wangen. Aus Freude, einfach nur aus Freude. Ich hatte sie so vermisst. Die Albernheiten zu Hause, ihr Lachen, einfach alles. Die gemeinsame Zeit mit ihnen hatte mir gefehlt. Ich hatte nicht gewusst, wie sehr ich mich nach ihnen gesehnt habe. Mir ist klar geworden, dass ich nicht ohne sie leben kann und sie diejenigen sind, die mein Leben um einiges besser machen. Was würde ich nur ohne sie machen?

Schluchzend hob ich sie beide auf meinen Schoß und schloss sie in meine Arme. Dieses Gefühl tat so gut. Ich würde sogar behaupten, dass sie mein Herz ein kleines Stück geheilt haben. All den seelischen Schmerz, den ich gefühlt habe, haben sie nun etwas gelindert. Auch wenn Louis und meine Psychologen gute Arbeit geleistet haben, konnten sie dieses Glück, dass ich gerade empfand, einfach nicht in mir hervorrufen.

„Nicht weinen, Mummy.", meinte Jordan und wischte mir mit seinen kleinen Fingern die Tränen weg.

Doch gerade das brachte mich noch mehr zum Weinen. Jordan war nie derjenige, der viel gesprochen hatte und dass gerade er das gesagt hatte, zeigte mir doch, wie sehr sich beide in den letzten Monaten entwickelt hatten. Sowohl geistig als auch körperlich, denn sie sind schon um einiges gewachsen. Oder vielleicht kommt mir das auch nur so vor.

„Damit hat er Recht. Meine zukünftige Mrs. Horan sollte niemals weinen müssen.", sagte eine mir bekannte Stimme etwas weiter von mir entfernt.

Sofort sah ich von Aine und Jordan auf. Und als ich ihn dort so sah, wie er langsam auf mich zukam, stockte mir der Atem. Er sah immer noch so gut aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Seine braunen Haare hatte er an den Spitzen wieder etwas blond gefärbt, was mir nur zu gut gefiel. Er trug mein Lieblingshemd und eine einfache Jeans.

Die Art und Weise, wie er mich ansah, ließ mein Herz rasen und beschleunigte meine Atmung. Und dann war da noch dieses Kribbeln in meinem Bauch, wenn ich ihn auch nur ansah. Ich fühlte mich gerade wieder wie ein Teenager, der seiner ersten großen Liebe gegenübersteht.

Was auch immer zwischen uns passiert war und wie sehr wir uns verändert hatten, in diesem Moment spielte das alles keine Rolle. Meine Gefühle ihm gegenüber hatten sich nicht wirklich verändert. Ich liebte ihn immer noch. Daran konnte man nicht rütteln.

„Niall...", flüsterte ich.

Mehr brachte ich nicht über meine Lippen. Meine Stimme versagte einfach. Mein Hals war furchtbar trocken und ich hatte beinahe das Gefühl, zu ersticken.

Als er bei mir ankam, drückte er mir zuerst einen Kuss auf meine Stirn. Ich schloss die Augen und genoss es regelrecht. Diese kleine Zärtlichkeit war zwar nicht viel, aber sie bedeutete die Welt für mich.

Vorsichtig wischte er mir mit einem Taschentuch meine Tränen weg und strich mir sanft mit dem Daumen über meine Wange.

„Es tut mir alles so leid. Du weißt gar nicht wie sehr. Ich...", fing Niall an, doch ich unterbrach ihn augenblicklich mit einem Kuss, der so unschuldig und süß war.

Ich wollte seine Entschuldigungen überhaupt nicht hören. Keine Einzige. Es war nämlich nicht seine Schuld. Ich hatte jeden ausgeschlossen, gerade die Personen, die ich liebte, brauchte und die mir am meisten helfen wollten. Diesen Fehler habe ich mir eingestanden und so dumm werde ich nicht noch einmal sein und ihn wieder machen. Und bevor Niall sich für meine Fehler entschuldigt, stoppe ich ihn doch lieber, denn ich bin diejenige, die sich hier entschuldigen sollte.

Als wir uns voneinander lösten, legte er seine Stirn wie gewohnt an meine und ich meinte nur: „Sag einfach nichts. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest."

„Oh doch. Da gibt es so viel.", gab er leise und reumütig zurück, „Jeder von uns hat Fehler gemacht. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich dich endlich wieder habe."

Er trat einen Schritt zurück und sah mich durchdringlich an. Früher wäre ich diesem Blick bestimmt ausgewichen, weil die Intensivität mich einfach in Panik versetzte. Aber bei Niall war das etwas anderes. Ohne Umstände sah ich ihm ebenfalls in die Augen und verlor mich in ihnen wie beim ersten Mal.

Plötzlich ging er vor mir auf die Knie, als würde er mir einen Antrag machen. Stirnrunzelnd und komplett verwirrt sah ich ihn an, weil wir eigentlich schon verlobt sind oder sich eher der Gedanke in meinem Kopf festgesetzt hatte, dass er seine Meinung geändert und uns aufgegeben hätte, weil wir uns so weit voneinander entfernt hatten.

Schließlich müsste er jetzt sein Leben umstellen oder etwas an meinen Umstand anpassen müssen so wie jeder andere auch. Ich wusste, dass Musik sein Leben ist, im Studio zu sitzen, mit der Band auf Tour zu gehen und die unterschiedlichen Veranstaltungen zu besuchen, und ich hätte gedacht, dass er das nicht aufgeben würde. Vielleicht müsste er das ja auch gar nicht. Dennoch wird einiges anders laufen als vorher. Wenn ich ehrlich bin, hab ich Angst davor, wie alles werden würde.

Doch Niall überraschte mich einfach immer wieder aufs Neue. Er holte wirklich eine kleine Schachtel hervor.

„Ich weiß, dass wir es das ganze Jahr über nicht gerade leicht hatten. Es gab Höhen, aber sehr viele Tiefen, die sich zwischen uns gedrängt haben. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns zu weit auseinanderleben, uns entfremden würde.", fing er an und schluckte einmal schwer, bevor er weitersprach, „Wenn ich so auf die letzten Monate zurückblicke, sehe ich so viele Momente, bei denen ich mir so sicher bin, dass du mir eine Abfuhr erteilen würdest. Und das könntest du auch immer noch, indem du meine nächste Frage einfach ganz ehrlich beantwortest. Chloe... Ich liebe dich unendlich und egal, was auch passiert ist, das hat daran und daran, dass ich immer noch den Rest meines Lebens mit dir verbringen will, nichts geändert. Also frage ich dich hier noch einmal: Willst du meine Frau werden?"

Bei seinen Worten stiegen mir schon wieder die Tränen in die Augen. Ungläubig hielt ich meine Hand vor meinen Mund. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich zitterte und mein Puls bis ins Unermessliche erhöhte.

Vor mir hatte Niall nun die Schachtel aufgeklappt und das, was ich darin sah, ließ mich erstrecht heulen. Es war mein alter Verlobungsring, den er mir auf der Insel gegeben hatte. Ich hatte gedacht, dass ich ihn an der Unfallstelle verloren hatte und ihn nie wiedersehen würde. Und dennoch liegt er gerade genau vor mir in einem kleinen Kästchen.

Ich konnte die ganze Situation überhaupt nicht fassen. Man könnte meinen, dass ich sichtlich damit überfordert war. Als mir klar wurde, dass Niall immer noch vor mir kniete und auf meine Reaktion wartete, antwortete ich zuerst mit einem leisen „Ja", welches dann doch beim wiederholten Mal sicherer und voller Enthusiasmus aus mir hervorsprudelte.

Überglücklich über meine Antwort stand Niall wieder auf und steckte mir den Ring an den Finger. Dabei drückte er mir einen leichten Kuss auf die Lippen, den ich sofort erwiderte.

Wir beide konnten die Erleichterung, uns endlich wieder in den Armen zu halten, und die Sehnsucht in diesem Kuss fühlen. Selbst die Verzweiflung der letzten Monate, des letzten Jahres waren deutlich spürbar. Die ganzen Emotionen, Gedanken und Lasten, die jeder mit sich getragen hatte, lagen in dem Kuss.

Dieser bewies mir zu allen anderen Gründen, dass es sich gelohnt hatte, nicht aufzugeben, dass ich weitergemacht hatte, obwohl hinter allem, meine Beziehung zu meiner Familie, zu Niall, mein ganzer Lebensinhalt, ein großes Fragezeichen stand.

Klar, vieles war noch nicht geklärt und es gab immer noch Fragen, die offen standen. Aber in diesem Moment war ich einfach glücklich. Das pure Glück schien wieder durch meine Adern zu pulsieren wie Feuer. Ich konnte mir zwar die Zukunft noch nicht vorstellen, aber wenn die Tage nur halb so schön werden würden wie dieser Tag, hätte mein Leben wieder etwas Normalität und den Sinn für Liebe. Denn ohne sie könnte ich mir mein Leben nicht vorstellen.

Als Louis, der Übeltäter, dann auch breitgrinsend und mit einer Taschentuchpackung zu uns stieß, hätte ich ihm am liebsten meine Meinung gegeigt, weil ich Überraschungen eigentlich nicht ausstehen konnte. Dennoch musste ich zugeben, dass ich ihn dafür hundert Umarmungen gegeben und mich tausendmal bedankt hätte.

Er wusste einfach ganz genau, was ich brauchte und wonach ich mich die restlichen Wochen so sehr gesehnt habe. Ich konnte es nicht fassen, dass er Niall und unsere Kinder wirklich hergeholt hatte. Das war ein Segen für mich. All das erinnerte mich an die gute, alte Zeit zusammen als Familie. Und jetzt, wo ich sie wieder hatte, würde ich sie nicht mehr so leicht hergeben. Wenn man erst einmal wieder in diesen Genuss kommt, kann man einfach nicht aufhören.

Und so liefen auch die nächsten Minuten Tränen über meine Wangen, während ich meine Kinder an mich drückte. Da kam Louis' Taschentuchpackung doch wie gerufen. Ich schnotterte bestimmt alle voll, die mir zur Verfügung standen.

Den restlichen Tag lächelte ich ununterbrochen. Ich war wie ausgewechselt. Die Anwesenheit von Niall belebte mich wieder und ließ mich erst recht nicht aufgeben.

Dennoch standen uns noch einige Gespräche mit Prof. Dr. Luppe auf dem Plan, an denen Niall selbstverständlich teilnahm. Diese Besprechungen gingen vor allem um meinen Zustand, Therapien und Vorsorge, sodass sie mich wieder aus der Klinik entlassen können, sobald ich die Reha abgeschlossen hatte.

Wenn wir nicht gerade in Gesprächen waren oder ich meine Therapiestunden hatte, versuchten Niall und ich die Zeit aufzuholen, die uns verloren gegangen ist. Wir sprachen über die letzten Monate und wie jeder sich dabei gefühlt hatte, was so vorgefallen war.

Wir konnten beide mit nicht gerade guten Momenten prahlen. Wenn es anders gewesen wäre, hätte es mich schon sehr gewundert. Wir hatten beide keine einfache Zeit und es ist viel passiert, sodass wir uns wieder an einander gewöhnen mussten, auch wenn wir uns immer noch liebten.

Und wie ging das besser, als Zeit mit unseren Kindern zu verbringen. Bei der Gelegenheit lernte ich auch gleich Charlie kennen. Auch wenn ich wahrscheinlich dagegen gewesen wäre, konnte ich nachvollziehen, dass Niall vielleicht etwas Hilfe gebraucht hatte. Und jetzt, wo ich sie kannte, musste ich sagen, dass sie super herzlich war und, da Aine und Jordan sie liebten, es gar keine schlechte Idee gewesen ist. Sie kamen regelmäßig zu Besuch, zwar nicht so oft wie Niall, aber das fand ich auch nicht weiter schlimm.

Meine Schwester, Harry und ihre Kinder kamen ebenfalls vorbei, wobei meine Schwester sich auch die Augen ausweinte. Da konnte ich mich natürlich auch nicht zurückhalten.

Und so gingen alle hier in der Klinik ein und aus. Wochen waren schon vergangen und ich wurde immer besser im Umgang mit Alltagssituationen, sodass meine Aussichten auf eine Entlassung gar nicht so schlecht waren.

Heute war ein Tag wie jeder andere und auch wieder nicht. Meine Eltern kamen mich heute mit Niall zusammen besuchen. Es war in den Wochen zwar nicht das erste Mal, dass sie hier ebenfalls vorbeisahen, aber der Anlass war doch ein anderer.

Dr. Luppe hatte uns alle zu sich ins Büro gerufen. Da für uns alle leider kein Platz in seinem niedlichen Büro war, verlegten wir unsere Besprechung in den Konferenzraum der Ärzte.

Um ehrlich zu sein, hatte keiner von uns eine Ahnung, um was es eigentlich genau ging. Ich hoffte, dass heute der Tag gekommen war, an dem ich endlich die Klinik verlassen dürfte. So ganz abwegig war das ja jetzt nicht.

Wir saßen alle um den großen Tisch zusammen. Auf der einen Seite saßen Dr. Luppe und Dr. Thompson mit verschränkten Händen vor ihren Akten. Niall saß neben mir und hielt meine Hand, weil er meine Nervosität merkte. Auch wenn mir seine Berührung diese nicht ganz nehmen konnte, lächelte ich ihn trotzdem dankbar an. Meine Eltern saßen zu meiner anderen Seiten und waren mehr als nur angespannt. Louis, der schräg von Niall saß, wirkte daher so gelassen wie es sonst keiner konnte. Ich fragte mich, wie er nur die Ruhe behielt. Wahrscheinlich wusste er schon, um was es ging. Er war ja sonst immer über alles informiert.

Dr. Luppe ergriff als erster das Wort: „Schön, dass wir uns hier alle versammelt haben. Ich habe ein paar Neuigkeiten für sie."

Ich holte tief Luft, erwiderte aber nichts. Alle anderen blieben ebenso still, was den Arzt etwas verdutzte, weshalb er noch eine kleine Erklärung hinterherschob: „Natürlich nur gute."

Damit fiel die Anspannung von den Schultern meiner Eltern definitiv ab. Als hätte Louis es gewusst, lächelte er mich breit über den Tisch ab, was meine Nervosität noch viel mehr schwächte. Und Niall flüsterte mir ins Ohr, dass alles gut wird und er es mir doch schon vorher gesagt hatte, dass es sicherlich nur Gutes gab.

„Ich kann sie aus der Klinik leider noch nicht entlassen. Aber internationale Kollegen haben eine Studie eröffnet, für die sie Querschnittsgelähmte brauchen.", fing er dann an.

„Wie dürfen wir das verstehen? Eine Studie?", fragte meine Mum verwirrt nach.

Auch ich hatte keine Ahnung, auf was mein Arzt hinauswollte. Eine Studie? Generell hielt ich Studien als notwendig, um in der Medizin und Wissenschaft weiterzukommen. Ich konnte nur ahnen, in welche Richtung es gehen könnte. Aber es war unmöglich, eine Querschnittslähmung zu heilen. So viele haben es schon versucht und bislang waren die Ergebnisse nicht gerade zukunftsreif.

„Bei dieser Studie handelt es sich um eine revolutionäre Operationsmethode, die bei einem Betroffenen schon durchgeführt wurde und er nun wieder gehen kann. Ein internationales Forschungsteam arbeitet daran, aber diese Methode ist man polnischen Chirurgen zu verdanken. Dennoch wissen wir nicht, ob das Prinzip bei jeden durchgeführt werden kann, weshalb wir Patienten suchen, die in etwa die gleichen Voraussetzungen wie der bereits behandelte Betroffene haben.", erklärte er zuversichtlich.

„Wie genau sieht diese Methode aus?", wollte Niall wissen.

Ich konnte es ihm nicht vorwerfen, dass er relativ skeptisch war, was das Ganze anging, denn ausreift war es natürlich auch noch nicht sondern nur ein Ansatz.

„Die Grundlade für die Operationsmethode bildete die Erkenntnis, dass es in der Nase bestimmte Nervenzellen gibt, die fähig sind, nach einer Verletzung nachzuwachsen. Die Idee war, diese sich erneuernden Nervenzellen aus der Nase zu nehmen und diese in das Rückenmark zu transplantieren. Denn dort regenerieren sich die Nervenzellen nicht eigenständig. Die Zellen aus der Nase überbrücken das verletzte Rückenmark und stellen die Kommunikation zwischen den unteren Extremitäten und dem Gehirn wieder her. Da jede Querschnittslähmung unterschiedlich ist und es verschiedene Ausprägungen gibt, ist es schwierig diese Methode auf alle Fälle zu vereinheitlichen. Aber Sie, Ms. Oakley, besitzen ungefähr die gleichen Voraussetzungen, sodass es uns möglich wäre, Sie in die Studie zu integrieren, wenn Sie das gern möchten.", beantwortete er mehr als nur ausführlich auf die Frage meines Verlobten.

„Und dieser Betroffene kann wieder gehen?", fragte ich den Leiter der Klinik.

„Er ist wieder mobil, ja. Er war von der Hüfte abwärts gelähmt so wie Sie auch. Jetzt kann er seine Hüfte wieder drehen, sich aufsetzen, seine Beine bewegen und mit dem Rollator gehen.", gab er zurück.

Ich war fasziniert und wusste nicht ganz, was ich sagen sollte. Diese Methode war ein riesiger Fortschritt und wenn sie mich für die Studie wollen, wäre das unglaublich. Es wäre wie ein Traum, wieder laufen zu können, zwar mit Rollator oder so. Aber immerhin war es möglich. Und das war für mich einfach unfassbar.

Als ich gerade einwilligen wollte, stellte Niall die nächste Frage: „Was für Risiken gibt es?"

„Sie wissen genauso gut wie ich, dass es immer Risiken geben wird, bei jedem Eingriff. Aber natürlich birgt eine Operation am Rückenmark starke Risiken. Der Patient könnte dabei mögliche Restfunktionen verlieren.", entgegnete Dr. Luppe.

Ich wusste jetzt schon, dass es Niall überhaupt nicht gefiel. Das Risiko war einfach zu groß für ihn, weil die Wahrscheinlichkeit besteht, dass er mich wieder verlieren würde. Nie würde er sich darauf einlassen.

Dennoch gab es da für mich diese kleine Chance, dass es doch gut gehen würde und ich vielleicht laufen könnte. Es wäre jetzt ziemlich dumm, zu sagen, dass ich nichts zu verliere hatte, denn das hätte ich, aber die Sehnsucht, auf eigenen Beinen zu stehen, war einfach zu groß.

Da kam mir wieder der Moment am Strand mit Louis in den Sinn. Das Gefühl der Wellen an meinen Füßen, des Sandes. Das alles ist für mich keine Normalität mehr. Ein Urlaub am Strand wäre für immer ausgeschlossen. Zu viele Sachen sind im Rollstuhl unmöglich, gerade wenn man sein ganzes Leben noch vor sich hat.

„Das Risiko gehe ich gern ein. Ich mach's.", meinte ich.

Niall riss die Augen auf und sah verstört und entsetzt an, weil er mit dieser Reaktion nicht gerechnet hätte. Aber es war nur einmal eine einmalige Chance für mich. Wer würde sie nicht ergreifen?

„Chloe, du...", fing nun auch meine Mum an.

„Das kannst du nicht machen. Wenn es schief geht, ...", sagte Niall und beendete gar nicht erst den Satz. Ich wusste, was er sagen wollte. Dennoch hielt es mich nicht davon ab.

„Ihr habt ja keine Ahnung, wie es sich anfühlt, die Beine nicht mehr bewegen oder nie mehr am Strand entlang laufen zu können. Ihr könnt es nicht nachvollziehen, wie es ist. Es ist für mich eine reine Qual gewesen, weswegen ich auch schon fast aufgegeben hätte. Das hier könnte meine Chance auf etwas Normalität sein. Auch wenn das jetzt egoistisch klingt, aber es ist ganz allein meine Entscheidung und ich bin alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen, die mit meinem Leben zu tun haben. Und diese habe ich gerade getroffen. Ich werde bei der Studie mitmachen.", sprach ich nun endlich das Schlusswort.

Mit dieser Entscheidung würde sich mein Leben nun wieder komplett verändern. In welche Richtung jedoch wusste ich noch nicht.

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Hey, ich melde mich mit einem neuen Kapitel zurück. Dafür ist es auch etwas länger als üblich und das letzte, was vor dem Epilog kommt.

Ich hoffe ihr hattet genauso viel Spaß beim Lesen wie ich beim Schreiben.

Ich weiß gar nicht, was ich alles fragen soll. Also haut eure Gedanken gern raus.

Vielleicht nur: Was wird jetzt aus Chloe, wenn sie diese Studie mitmacht?

Ich wünsche euch dann einen schönen Sonntag und einen guten Start in die neue Woche.

Chloe :)

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