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Die Begegnung mit dem Dämon, der Evelines Gedanken verwirrte, war nun eine Woche her. In dieser Zeit hatte ich mich von meiner irdischen Rolle als Erwin zurückgezogen. In der Menschenwelt war Evelines Kollege krankgeschrieben, doch meine Handlungen setzten sich in meiner Welt fort. Ich wollte mehr über das Halb-Balg namens Levi herausfinden. Meine Nachforschungen brachten mich in die Bibliothek, wo es ein Archiv gab, das Aufzeichnungen über jeden Dämon enthielt. Nach dem Krieg und der Vereinbarung erweiterte es sich gefühlt ständig. Dementsprechend konnten auch Tausende von Hallen diese Menge nicht fassen. Nicht nur die anderen Welten hatten einen Wandel und Fortschritt erlebt. Auch in meiner Welt musste einiges geändert werden, um dem Fluss an Informationen gerecht zu werden.

Aber bald stieß ich auf eine Grenze meiner Nachforschungen. Bestimmte Unterlagen und Aufzeichnungen waren mir als Wächter nicht zugänglich. Dass es gerade die Informationen waren, die für mich bedeutend waren, machte mich noch misstrauischer. Dieser Dämon war ein einfaches Halb-Balg. Selbst seine damalige junge Zeit als Schlachter im Krieg war keine Rechtfertigung, Informationen über ihn als unzugänglich zu kennzeichnen. Jeder kannte diese Geschichten. Sei es ein Wächter, Kraft-Engel, Erzengel oder Seraphim. Aber ich musste zugeben, bisher nie wirklich nach Belegen oder Ähnlichem gesucht zu haben. Es waren Geschichten und Zeugenaussagen des Krieges.

Das Infragestellen dieser Informationen glich einem Verrat an seinen Geschwistern. Die Tatsache, dass die Quellen nicht zugänglich waren, kam mir absurd und widersprüchlich vor, als ob man eine Wahrheit verbergen wollte. Die Frage, welche Wahrheit das sein könnte, beschäftigte mich von Tag zu Tag mehr.

Zum ersten Mal in meiner Existenz als Wächter bedauerte ich meinen niedrigeren Rang, der mich daran hinderte, meiner Aufgabe gerecht zu werden. Mein Ziel war es, der letzte Wächter in Evelines Leben zu sein und sie sorglos und glücklich ihren Weg verfolgen zu sehen. Doch jetzt stand diese Situation mit dem Halb-Balg in Gefahr! In Evelines Leben hatte sie bisher drei Wächterwechsel erlebt, was nicht ungewöhnlich war. Manche Wächter begleiteten eine Person bis ins Erwachsenenalter und übergaben sie dann einem anderen Wächter, der sie bis zum vorherbestimmten Todeszeitpunkt weiter begleitete. Bei Eveline fand dieser Wechsel zum ersten Mal statt, als sie ihr Elternhaus verließ, dann als sie ihre erste Beziehung begann und zuletzt wurde ich ihr vor etwa zwei Jahren zugewiesen.

Es war jedem Wächter selbst überlassen, ob er seinen Schützling aus der Ferne beobachtete oder als irdische Identität getarnt aus nächster Nähe beschützte. Ich entschied mich für Letzteres. Der enge Kontakt meiner Identität war zwar kompliziert, aber nicht verboten, solange Eveline nichts von meiner wahren Gestalt erfuhr. Einige Wächter knüpften eine Bindung zu ihrem Schützling, sei es als Haustier, guter Freund oder – wie in meinem Fall – Arbeitskollege.

Die Hauptaufgabe der Wächter bestand darin, den vorgegebenen Lebensweg ihrer Schützlinge zu sichern, der aus vom Vater bestimmten Prüfungen und Reifeprozessen für die Menschheit bestand. Eine Veränderung dieses Weges galt als Verrat an seiner Weisheit und Macht. Die einzige Intervention, die den Wächtern gestattet war, bestand darin, den unvorhergesehenen Tod abzuwenden. Dämonen hatten jedoch stets versucht, die Wege des Vaters zu beeinflussen und die Schwächen der Menschen auszunutzen, was eine Herausforderung für die Wächter darstellte.

Besonders nach dem Wandel der Welten und den Abmachungen war es schwierig für meine Brüder und Schwestern, in das neue Vertragssystem der Dämonen einzugreifen, um den Weg des Vaters zu beschützen. Durch die Täuschung, dass alles auf freiwilliger Basis geschah, hatten es diese Heuchler geschafft, unser Handeln zu beschränken. Ein Wächter besaß nicht die Fähigkeit, einen Dämon aus dem Leben seines Schützlings zu vertreiben. Nur die Seraphim konnten dies tun, und meine Brüder würden dies erst tun, wenn Beweise vorlagen. Andernfalls würde das Abkommen gefährdet und einen weiteren Krieg riskiert werden. Zwar war die Anzahl der vom Dämon betroffenen Opfer nach dem Wandel gesunken, aber das gegenseitige Misstrauen und die Verachtung zwischen unseren Welten waren tief verwurzelt und konnten auch durch Fakten und neue Gesetze nicht geändert werden. Meine größte Sorge galt meinem Schützling, besonders wenn ihr Vertragspartner ein einflussreicher Dämon aus dem letzten Krieg war.

So fand ich mich vor den Toren der Halle meines Bruders, Vertrauten und Freundes Mike wieder. Mike und ich waren mehr als nur himmlische Geschwister. Wir waren über Jahrzehnte durch etwas miteinander verbunden, das wohl nur unser Vater wusste, obwohl unsere Ränge unterschiedlich waren. Mike gehörte zu den Elohim und damit zur zweiten Triade. Die Aufgabe der Elohim bestand darin, die göttlichen Pläne im Namen des Vaters, die als Prüfungen für die Menschen gedacht waren, auszuführen. Diese konnten Überschwemmungen, Hitzewellen oder Pandemien beinhalten. Die Elohim besaßen umfassendes Wissen, dass den Wächtern nicht zur Verfügung stand. Genau das war der Grund, warum ich zögerlich vor der Halle von Mike stand und darüber nachdachte, ob ich wirklich anklopfen und ihm meine eigennützige Bitte vorbringen sollte.

Einige Zeit verstrich, bevor ich mich zu handeln entschloss und wenig später meinem Freund seine Stimme vernahm, die mich einlud einzutreten. Wie üblich fand ich ihn an seinem Schreibtisch sitzend, vertieft in die Schriftstücke unserer Ahnen, die regelmäßig auf ihre Vollständigkeit und ihren Zustand überprüft wurden. „Was veranlasst dich, mich aufzusuchen? Entschuldige bitte das Durcheinander, aber Prophezeiungen und Vorhersagen halten sich nicht von selbst in Ordnung, auch wenn es heilige Texte sind", seufzte Mike, ohne seine Arbeit aus den Augen zu lassen. „Gibt es ein Problem?"

Langsam näherte ich mich dem Schreibtisch und schaute beiläufig auf die Stapel von Schriftrollen, die in sortiert und unsortiert unterteilt waren. „Ich muss mich bei dir entschuldigen, dass ich dich bei deiner Arbeit störe", erwiderte ich mit schlechtem Gewissen.

„Um ehrlich zu sein, wollte ich gerade sowieso eine Pause einlegen. Mein Kopf brummt schon", gestand Mike, während er die durchgesehenen Schriftrollen beiseitelegte und sich in seinem Stuhl zurücklehnte. „Nun, was hast du auf dem Herzen, mein Freund?"

„Um welche Art von Schriften handelt es sich hier genau?", fragte ich neugierig. Ich wollte damit eine Verbindung zu meinem eigentlichen Anliegen herstellen.

„Oh, das Übliche. Berichte ehemaliger Seraphim, Wächter und Beschreibungen der Kriege. Lange bevor wir unseren Dienst angetreten haben, mein Freund."

„Die Kriege", wiederholte ich nachdenklich. „Auch Berichte des Krieges, in dem der Schlachter gekämpft hat?"

Mike runzelte die Stirn und musterte mich eingehend. „Warum interessiert dich das?"

„Ich möchte mehr über die Hintergründe der Geschichten unserer Brüder und Schwestern erfahren. Das ist alles", erklärte ich und spannte meine Muskeln an. Mike zeigte keine Regung in seinem Gesicht. Er betrachtete mich lange schweigend, bevor er mit einer Handbewegung abwinkte und lächelte.

„Entspann dich! Nein, ich habe bisher noch keine solchen Berichten gesehen. Ich kann dir auch nicht sagen, ob etwas davon noch im Stapel liegt. Aber was bringen dir diese Informationen? Die Berichte und das Blut der Gefallenen sollten geehrt werden. Bezweifelst du das etwa?"

„Ich ... möchte einfach mehr über diesen Dämon erfahren, der im letzten Krieg eine wichtige Rolle spielte. Wenn du mir, als Freund, die Existenz solcher Informationen bestätigst, reicht mir das völlig."

„Ach du meine Güte. Du solltest dich nicht mit so etwas befassen. Und weil du das weißt und nicht weiterkommst, dachtest du, es wäre eine gute Idee, zu mir zu kommen?"

„Wenn du mich wegschickst, akzeptiere ich das."

Mike lachte. „Dummkopf! Als ob ich das jemals tun würde. Selbst gegen deine Sturheit komme ich nicht an! Irgendwann erwischen sie uns, das weißt du. Also? Warum interessiert dich der Schlachter, mein Freund?" In solchen Momenten schätzte ich die Freundschaft zu Mike und seinen - ebenfalls von Neugier angetriebenen - Charakterzug umso mehr. Ohne Zögern würde ich meine Existenz aufs Spiel setzen, wenn es darum ginge, ob er meine Hinterfragungen jemals weitergeben würde.

„Es geht um meinen Schützling. Ein Dämon hat einen Vertrag mit ihm abgeschlossen."

Mikes Miene verfinsterte sich. „Gibt es bereits Anzeichen für eine Lebensgefahr für deinen Schützling? Du betreust eine Frau, wenn ich mich nicht irre, oder? Hast du schon früher Hinweise auf diesen Vertrag bemerkt?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Ihr geht es gut. Noch. Aber dieser Dämon ist genau derjenige, für den ich mich interessiere. Ich hatte bereits eine Begegnung mit ihm."

Erschrocken stand Mike von seinem Schreibtisch auf. „W-Was? Diese Frau hat einen Vertrag mit dem Schlachter Halb-Balg?", stotterte er. „Was sind seine Absichten? Was ist der Grund für den Vertrag?"

„Er hat den genauen Grund nicht erwähnt, aber er deutete beharrlich an, dass es wahrscheinlich mit der Liebe im Leben dieser Frau zusammenhängt. Bisher schien sie noch nicht in Gefahr zu sein, aber ich bin natürlich besorgt. Ich möchte mehr über dieses Halbwesen herausfinden, aber meine Möglichkeiten sind eingeschränkt."

Mike sah nachdenklich im Raum umher. „Da es der Schlachter ist, bin ich ziemlich sicher, dass die Seraphim auch ohne Beweise handeln würden. Hast du schon einen A ..."

„Mein Antrag auf Verbannung wurde abgelehnt. Ohne Beweise oder konkreten Vorfall werden sie nichts tun, um das Abkommen nicht zu gefährden", erklärte ich.

Mikes Augen weiteten sich vor Entsetzen und er setzte sich zurück an den Schreibtisch. „Was ist nur aus unserer Welt geworden", murmelte er. „Es tut mir leid, mein Freund, aber ich habe keine Informationen über das Halb-Balg, die ich dir geben könnte. Du weißt, dass ich Zugang zu Informationen habe, die dir nicht zur Verfügung stehen. Aber selbst mir ist es nicht erlaubt, alles einzusehen. Nach deiner letzten Aktion solltest du das eigentlich wissen", lächelte er.

Ich zuckte mit den Mundwinkeln. Tatsächlich erinnerte ich mich daran. Bevor ich Evelines Beschützer wurde, hatte ich mich mit der Ballade des göttlichen Dämons beschäftigt. Diese Geschichte ist sowohl in meiner als auch in der Dämonenwelt bekannt. Man könnte sie als Volkslegenden bezeichnen. Selbst Kinder kannten die Geschichte der verbotenen Liebe zwischen dem weiblichen Engel Matrea und dem männlichen Dämon Sucellus. Diese Liebe löste den ersten Krieg zwischen den beiden Welten aus und ich wollte lediglich Quellen für die Existenz der beiden Liebenden finden - allerdings erfolglos.

„Aber", begann Mike, „anders als bei deiner Untersuchung eines alten Märchens, werde ich dir in dieser Angelegenheit helfen. Denn das Halb-Balg ist real und gefährlich. Es ist unglaublich, dass die Dämonen ihn überhaupt frei herumlaufen lassen - und das noch in der Menschenwelt!"

„In der Menschenwelt heißt es, dass in jeder Legende ein wahrer Kern steckt. Aber lassen wir das. Danke, Mike. Das bedeutet mir viel. Solltest du aber ..."

„Ja ja, ich habe schon verstanden", unterbrach er mich. „Sollte ich nicht weiterkommen, oder drohen aufzufliegen, höre ich sofort auf mit der Suche. Das hatten wir doch schon alles."

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