✗ 6. | l e v i

Gegen Evelines Argumentation, kam mir der Vorschlag ihres Kollegen ganz gelegen. Besonders, da selbst Hange keine Informationen über ihn in ihren Unterlagen finden konnte. Sogar Säuglinge oder reinkarnierte Menschen besaßen eine Akte. Die einzige mögliche Erklärung für eine fehlende Menschenakte war, dass dieser Erwin gar kein Mensch sein konnte. Es stellte sich die Frage, was er stattdessen war und ob es purer Zufall war, dass er sich in der Nähe von Eveline aufhielt. Um all diese Fragen und Vermutungen zu klären, bot der Vorschlag die ideale Gelegenheit. Ich blickte auf meine Uhr. In fünf Minuten würde Evelines Arbeitstag enden. Seit jenem Abend verhielt sie sich mir gegenüber distanziert und schien verlegen. Ich war der Ansicht, dass sie diese unbegründete Scham ablegen sollte, denn sie behinderte die Zusammenarbeit und brachte sie ihrem eigentlichen Wunschziel nicht näher. Als ich in der Nähe des Eingangs auf Eveline und ihren Kollegen wartete, kamen die beiden Frauen vom letzten Mal aus dem Gebäude. Ich verschränkte die Arme und ignorierte ihre Blicke, als sie mich bemerkten. Ich kannte solche Frauen – mit viel Make-up und Kleidung, die ihre weiblichen Attribute betonte, um ihr geringes Selbstwertgefühl und die Tatsache, dass sie jede andere Frau als Rivalin ansahen, zu kaschieren. Seltsamerweise waren sie oft prüde in Bezug auf Sex, obwohl sie nach außen hin ein anderes Bild vermitteln wollten. Glücklicherweise kam Eveline heraus, bevor sie mir ein Gespräch aufzwangen. Ich ging, ohne sie zu beachten an ihnen vorbei und fragte Eveline, wo ihr Kollege sei.

„Er musste noch etwas zum Abteilungsleiter bringen, deshalb haben wir uns kurz getrennt", erklärte sie.

Eveline trat näher zu mir heran und flüsterte: „Denk daran, es nicht zu übertreiben, ok? Lass die kitschigen Bemerkungen, in Ordnung?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe zwar nicht, was dein Problem ist, aber gut. Wenn das hier vorbei ist, sollten wir darüber nachdenken, wie es mit deinen Wünschen weitergeht. Oder wolltest du die Zeit ungenutzt verstreichen lassen?"

„Ich möchte hier nicht darüber sprechen", murmelte sie und senkte den Blick. „Ich möchte mir genau überlegen, welcher Wunsch es sein soll." Dabei färbten sich ihre Wangen leicht rot.

„Der letzte Wunsch wurde zu hundert Prozent erfüllt. Aber du wirkst nicht glücklich darüber. Das verwirrt mich. Soll ich heute Abend ..."

„Hör auf damit!", unterbrach Eveline mich und schaute sich nach ihren Kollegen um. „Erwin wird auch gleich da sein." Ich sagte nichts darauf und nach ein paar Minuten erschien dieser Fatzke.

Mit einem reumütigen Blick streckte er mir seine Hand entgegen. „Ich entschuldige mich für die lange Wartezeit. Als wir uns das letzte Mal trafen, habe ich mich nicht einmal vorgestellt. Ich bin ..."

„Ich halte nichts von Formalitäten", warf ich ein und erwiderte kurz seine freundliche Geste. Ich spürte, wie sich Evelines Körper bei meinen Worten anspannte.

„Wollen wir dann gehen?", fragte sie. Erwin nickte und ging voran, Eveline folgte ihm dicht auf den Fersen. Vielleicht wurde ich in diesem Moment als fünftes Rad am Wagen wahrgenommen, aber das störte mich nicht. Ich war nicht daran interessiert, ihre Kollegen für mich zu gewinnen oder Freundschaften zu schließen. Ich konzentrierte mich einzig und allein darauf, das Geheimnis, um diesen Fatzke zu lüften, und beobachtete daher nur die Interaktionen der beiden.

„Ich spreche es nur ungern an, aber es ist wichtig", wandte sich Erwin an Eveline. „Bitte behalte das für dich, okay? Es hat sich herumgesprochen, dass deine Abteilung einen neuen Leiter bekommt."

„Was? Warum? Ich hatte noch nie Probleme mit dem jetzigen", sagte Eveline skeptisch. „Wann soll der Wechsel stattfinden?"

„Soweit ich weiß Ende nächster Woche. Mehr ist leider nicht bekannt." Ich hob eine Braue bei dem Gespräch der beiden. Neutral betrachtet, würden sie gut zusammenpassen. Zudem musste nicht erst ein gewisses Vertrauensverhältnis aufgebaut werden. Würden die Umstände es nicht so kompliziert machen und der Fakt, dass Erwin Eveline schon mal abwies, wäre die Erfüllung des Wunsches ein Kinderspiel.

„Welche Art von Büroarbeit erledigst du denn, Levi, wenn ich fragen darf?", erkundigte sich Erwin und schaute mich mit einem undefinierbaren Ausdruck an.

Ich schaute unauffällig zu Eveline. Diese gab mir mit ihrer Mimik zu verstehen, dass ich auf meine Wortwahl achten sollte. „Nichts Aufregendes. Ich bearbeite Kundenaufträge. Nichts weiter." Das war nicht mal gänzlich gelogen.

„Interessant. Du gehst also auf Wünsche und Bedürfnisse ein?"

„Wenn man es so bezeichnen möchte, ja." Waren diese Worte absichtlich so von ihm gewählt worden, oder interpretierte ich zu viel hinein? „Wie steht es mit dir?"

„Erwin arbeitet in der Sicherheitsabteilung", übernahm Eveline das Wort. „Das meiste ist theoretischer Kram."

„Das stimmt leider. Es gibt wenige Momente, wo ich praktisch agieren muss." Ich zog die Stirn in Falten. Der Ausdruck muss erschien mir unpassend, aber ich ließ es ohne Kommentar. Inzwischen führte uns Erwin ein paar Straßen weiter in ein kleines Café. Eveline schien vertraut damit zu sein und pries das Menü des Ortes in den höchsten Tönen. Wir suchten uns einen gemütlichen Platz und Eveline war die Erste, die nach einer Bestellung Ausschau hielt. Innerlich seufzte ich. Es verdiente zwar Anerkennung, dass sie sich für Kleinigkeiten begeistern konnte, doch aufgrund der Anwesenheit von Erwin konnte ich nicht wie gewohnt reagieren.

„Obwohl das Café klein, ist es ziemlich populär. Ich hoffe, du magst Kaffee", wandte sich Erwin an mich.

„Ich ziehe Tee vor", entgegnete ich.

„Ach wirklich? Genauso wie Eveline. Eine weitere Gemeinsamkeit."

„Die jedoch belanglos ist", entgegnete ich. „Es ist der Umgang miteinander, der zählt."

Erwin lächelte leicht. „Wahre Worte", murmelte er und blickte auf Eveline. „Hast du dich schon entschieden?"

„Äh ... ich würde gern zum Tresen gehen, um mir die Tagesangebot anzuschauen", meinte sie verlegen.

„Du musst dich nicht erklären", sagte ich beruhigend. „Geh ruhig. Wir verschwinden schon nicht."

Unsicher blickte Eveline zwischen mir und Erwin hin und her. Wortlos erhob sie sich und ging zum Tresen. „Sie kann dem Kuchen einfach nicht widerstehen", bemerkte er belustigt und wandte sich mir zu. „Dein Tonfall gegenüber Eveline wirkt ziemlich kühl, finde ich."

„Erscheint das so? Letztendlich liegt es an Eveline, wie sie es aufnimmt, nicht wahr?"

„Natürlich. Aber wie man weiß, macht Liebe blind."

„Ich ahne, worauf du hinauswillst. Hattest du nicht die Gelegenheit, eine Beziehung mit Eveline einzugehen, und hast sie abgelehnt? Deine Sorge in allen Ehren, aber sie ist eine erwachsene Frau, die selbst bestimmen kann." Ob meine Wortwahl passend war oder nicht, war mir völlig egal! Außerdem vermutete ich, dass Erwin dieses Schauspiel inszenierte, um seine wahren Absichten mir gegenüber zu verbergen. Er war nicht der erste Kerl, der den Eifersüchtigen mimte.

„Es überrascht mich, dass du einen Begriff wie Ehre verwendest, Levi", meinte Erwin. Ich schaute Erwin argwöhnisch an. „Hast du doch keine im Leib, nicht wahr?"

„Was meinst du?", murrte ich. Meine Geduld neigte sich dem Ende zu.

Erwin lehnte sich zu mir. „Ich möchte herausfinden, welche Manipulation du benutzt hast, um Evelines Denken zu verderben. So arbeitet ihr Dämonen doch. Und du, Halb-Balg Levi, bist keine Ausnahme." Ich spürte einen kurzen Schauer durch meinen Körper. Zwei Reiche – abseits der Menschenwelt – wussten von meiner Existenz als Halbdämon: meine eigene Dimension und die der Engel. Die anderen Reiche kannten eher meinen Spitznamen, den ich hatte, als ich dem vierten Zirkel gedient hatte.

Ich atmete scharf ein und kämpfte gegen meine innere Anspannung. „Wer bist du?", knurrte ich und starrte Erwin kalt an. „Du scheinst dich ja bestens auszukennen."

Er grinste herausfordernd. „Nun, dreimal darfst du raten. Im Gegensatz zu dir benutze ich einen anderen Namen. Ein Engel namens Erwin wäre dir sicherlich bekannt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob du dir die Namen jener gemerkt hast, die du einst abgeschla ..."

„Das liegt in der Vergangenheit", unterbrach ich ihn gereizt. „Was willst du?"

Der Engel erhob seine Hand. „Beruhige dich! Ich bin mir der Vereinbarung bewusst, die Kriege oder jegliche Konflikte zwischen Dämonen und Engeln untersagt. Ich habe nicht die Absicht, dich anzugreifen. Allerdings mache ich mir Sorgen um Evelines Wohlergehen. Dass ein Dämon an ihrer Seite steht, missfällt mir zutiefst. Wie hast du sie beeinflusst? Was erhoffst du dir von ihr?"

Ich verengte die Augen und schaute beiläufig zu Eveline, die weiter am Tresen stand. Sie schien nach wie vor damit beschäftigt zu sein eine Auswahl zu treffen. „Ihr könnt es einfach nicht begreifen, dass wir schon lange keine Seelen mehr sammeln, oder? Die wenigen Verträge, die einige von uns mit Menschen eingehen, basieren auf Freiwilligkeit und haben nichts mehr mit Blut, Jungfräulichkeit oder der Seele zu tun. Stelle uns nicht grausamer dar als euch. Ihr seid genauso über Leichen gegangen und habt absichtlich Nephilim im Krieg geopfert."

„Es ist wahr, dass damals auf beiden Seiten Gräueltaten begangen wurden. Dennoch hat deine Dämonenrasse einen gewissen Ruf. Möchtest du mir weismachen, dass du den Pfad deiner Mutter beschreiten willst?", fragte Erwin spöttisch. „Das Denken und Handeln deiner Mutter war einzigartig und findet sich nur selten in der Geschichte wieder. Wenn du ihren Charakterzügen folgen würdest, würden wir diese Konversation gar nicht erst führen."

Mein Unterkiefer verkrampfte sich, als dieser widerliche Fatzke es wagte, meine Mutter ins Spiel zu bringen und mich aus der Fassung brachte. Seit jeher bestand meine Familie aus Succubus' und Incubus'. Meine Mutter wollte einen anderen Weg einschlagen. Sie verliebte sich in einen Menschen, offenbarte ihm ihre wahre Identität entgegen der damaligen Gesetze und lebte eine Weile unter den Menschen. Aufgrund des Verrats an der Dämonenrasse wurde sie zusammen mit meinem Vater kurz nach meiner Geburt zur Rechenschaft gezogen. Als Halbdämon wurde ich nur verschont, weil die männlichen Mitglieder unserer Familie einen bedeutenden Status im vierten Zirkel genossen. Ich hatte im Krieg diesen Ruf bestätigt - ob ich das nun wollte oder nicht. Entweder beendete der Krieg mein Dasein, oder ich wurde wegen meines Erbes verurteilt. Die Wahl zwischen Pest und Cholera bestand nicht nur in der Menschenwelt. Auch wenn es nicht offensichtlich war, lag die Tatsache, dass ich meine Daseinsberechtigung meinem Können im Blutvergießen verdankte, schwerer auf meinen Schultern, als ich es zugeben wollte. Auch die Vereinbarung nach dem Krieg und die Veränderung, die meine Welt durchgemacht hatte, änderten daran nichts.

„Zügel deine Zunge!", knurrte ich. „Meine familiären Gegebenheiten sind hier irrelevant. Stattdessen würde ich gerne wissen, was dein Interesse an Eveline ist und warum du glaubst, dich einmischen zu müssen?"

„Hast du keine Ahnung, oder bist du mit der Rangordnung meiner Welt unter den Engeln nicht vertraut, Halb-Balg?", fragte Erwin sarkastisch.

„Tcch! Selbstverständlich. Aber ich weiß eines: Du gehörst nicht zur ersten oder zweiten Triade. Die Frage bleibt also, ob du zu den scheinheiligen Engeln zählst, die den Menschen irgendwelche Offenbarungen übermitteln, oder ob du ein Wächter bist."

„Wir bevorzugen den Begriff Schutzengel."

„Aha, reagieren deine himmlischen Fühler auf meine Präsenz? Lächerlich. Dein Schützling ist unglücklich, und dennoch bist du machtlos." Dass Erwin Eveline zurückgewiesen hatte, überraschte mich nicht länger. Wächtern war es untersagt, eine Beziehung mit einem Menschen einzugehen. Nur Erzengel hatten das Privileg, sich mit Menschen fortzupflanzen oder Beziehungen einzugehen. Dieser Kerl schien mir nicht so, als würde er gegen diese Regel rebellieren. Wächter waren einfach gestrickt. Ihnen wurde ein Schützling zugeteilt, den sie entweder bis zum vorbestimmten Todestag begleiteten oder für gewisse Zeit inkognito an ihrer Seite lebten. Ihre Hauptaufgabe war es, sicherzustellen, dass ihre Schutzbefohlenen nicht vor ihrem festgelegten Tod durch das Schicksal dahingerafft wurden.

„Ich will, dass du Eveline nicht in Gefahr bringst. Das ist alles", bemerkte Erwin mit beiläufigem Unterton. „Ihr zieht das Unglück an. Eure angeblichen Verträge mit den Menschen sind genauso heuchlerisch, wie du es meinen Geschwistern vorwirfst, Halb-Balg."

„Was hast du die Jahre an Evelines Seite bitte getrieben, um nicht zu erkennen, wie ihr die Einsamkeit und die Sehnsucht nach Liebe zugesetzt hat? Ihr prahlt immer damit, den Menschen in der Steinzeit durch Gotteshand Gefühle geschenkt zu haben, aber an euch Wächter ist das Begreifen dieser komplett vorbeigegangen!"

Erwin schmunzelte amüsiert. „Ein Dämon will mich über Gefühle aufklären? Du musst zugeben, dass das absurd ist. Als ob ihr die Verträge macht, weil ihr die Menschen verstehen würdet."

„Ich verstehe deinen Schützling besser, als du es bisher konntest! Und im Gegensatz zu dir, dem die Regeln wichtiger sind als das Glück von Eveline, versuche ich diese zu brechen. Die alten, falschen Ideale der verschiedenen Reiche haben schon damals nur leid gebracht. Ihr Engel amüsiert euch doch am meisten über die Naivität und den Wehklagen der Menschen!"

„Mir liegt Evelines Glück mehr am Herzen, als du es je verstehen könntest, Halb-Balg!", knurrte Erwin aufgebracht.

„Rührend. Also hast du bei deinen Brüdern, die den Rang Kräfte-Engel besitzen, nachgehakt, ob sie deinem Schützling nicht Lebensmut schenken könnten?"

„Es steht mir nicht zu, meine Brüder damit zu behelligen."

Ich fasste mir an den Kopf. „Aber dir liegt ihr Glück am Herzen. Du hörst dir zu, oder? Du sprichst von Evelines Glück, aber nennst im gleichen Kontext das Wort behelligen. Der einseitige Vertrag, den ihr als Wächter ohne das Wissen der Menschen macht, ist die wahre Heuchelei!"

Erwin schob wütend die Brauen zusammen und öffnete den Mund. Aber er unterbrach unseren Dialog, als Eveline zurückkam.

Irritiert schaute sie abwechselnd zwischen uns her. „Ähm ... alles ok? Erwin? Stimmt was nicht? Du siehst unzufrieden aus." Ihr Blick schweifte vielsagend zu mir.

„Alles in Ordnung", versuchte ich ihre Bedenken – ich hätte etwas Falsches gesagt – zu zerstreuen. „Wir dachten schon, du würdest nicht mehr wieder kommen."

Eveline ließ die Schultern hängen. „Entschuldigt. Ich konnte mich nicht entscheiden und habe mir im Endeffekt nichts ausgesucht."

Ein letztes Mal schaute ich zu Erwin. Dieser erwiderte den Blick. Auch ohne Worte verstand ich, was er sagen wollte: Diese Unterhaltung ist noch nicht beendet.

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