✗ 34. | E V E L I N E
In der Ferne nahm ich Wasserrauschen wahr. Blinzelt öffnete ich meine Augen. Träge kam das Gefühl meines Körpers zurück und ich spürte Feuchtigkeit auf meiner Haut. Hecktisch zog ich Luft in meine Lungen und beugte mich nach vorne. Verwirrt starrte ich in das dunkle Dickicht eines Urwaldes, der mich umgab. Die Luft war von einem schwülen-süßen Duft erfüllt. Efeu bekränzte Bäume erstreckten sich unendlich weit in den Himmel. Ich schluckte schwer und umfasste schützend meine Oberarme. Erschrocken blickte ich auf mich herab. An diesen mir unbekannten Ort war ich lediglich mit Unterwäsche bekleidet. Stürmisch stellte ich mich auf und wandte meinen Kopf hin und her. Wie war ich hierhergekommen?
Mein Kopf füllte sich mit einer Schwere und ich fasste mir an die Schläfe. Langsam kehrten die Erinnerungen an das Ferienhaus meiner Eltern zurück. Erwin hatte mich besucht. Blut. Eine Frau hatte nach Hilfe verlangt. Doch ... was geschah danach? Ich wollte mit dem Handy Hilfe rufen. An mehr konnte ich mich nicht erinnern. Mein Körper begann vor Überforderung zu zittern und ich biss mir auf die Unterlippe. In den letzten Stunden hatte ich so wenig Antworten auf meine fehlenden Erinnerungen erhalten, dass ich mich nun zu allen Überfluss in einer Wildnis befand. Halbnackt. Unbewaffnet. Unwissend. Verzweifelt stiegen Tränen in meinen Augen auf und ich sank in die Hocke. Hilflosigkeit übermannte meinen Körper, während ich den Kopf sinken ließ und nur noch schreien wollte. Der Urwald um mich herum schien endlos und ich bezweifelte, dass ich eine Menschenseele finden würde, die mir helfen konnte. Ich wusste nicht, wie viele Minuten ich einfach in der Haltung verharrte und meinen Emotionen Ausdruck verlieh. Benommen strich ich durch mein Gesicht und kam langsam auf die Beine. Obwohl ich kein Ziel hatte, brachte es mir genauso wenig an Ort und Stelle zu bleiben. Zögerlich begann ich mich auf die Suche nach einen Anhaltspunkt für Zivilisation.
Jeder Schritt war ein Kampf gegen das Gewirr aus Farnen und Lianen, die ihre Spuren auf meiner Haut hinterließen. Ich hatte schon lange aufgehört, zu hinterfragen, wo meine Kleidung war. Allgemein hatte es mir die letzten Stunden gar nichts gebracht, Dinge zu hinterfragen. Mein Instinkt riet mir dazu, dass es jetzt wichtiger war, irgendeine Art von Hilfe zu finden. Je weiter ich mich durch die Vegetation kämpfte, breitete sich ein undeutbares Gefühl in meiner Brust aus. Ich wusste nicht - ob es der Erschöpfung oder vielleicht der Hilflosigkeit geschuldet war - dass mein Körper Adrenalin sammelte, um mich vorwärtszubringen, doch irgendetwas sagte mir, dass mir nichts passieren würde, dass ich weitergehen sollte. Seltsamerweise erinnerte mich dieses Gefühl an die Stimme, die paarmal meinen Namen gesagt hatte. Beides rief etwas in mir hervor, dass mich dazu bewegte nicht aufzugeben.
Ob es nun ein paar Stunden, oder ein halber Tag war, ich wusste nicht, wie lange ich mich durch das Dickicht kämpfte. Die Sonne schien kein Stück zu wandern, um eine ungefähre Zeitangabe abschätzen zu können. Alles an diesem Ort wirkte nicht von dieser Welt. Ich hatte in meinen Leben nicht ansatzweise solch einen Ort gesehen - auch wenn er einem Dschungel ähnelte. Eine seltsame Aura umgab diesen Ort, die mir unterbewusst vermittelte, dass ich nicht hierhergehörte. Nach weiteren Metern blieb ich stehen und atmete angestrengt. Mein Blick schweifte abermals in die Umgebung und ich blinzelte ungläubig. In dieser verkackten Einöde sah ich zum ersten Mal etwas, dass ich einordnen konnte: eine Hütte. Erleichtert setzte ich zum Gehen an, doch hielt im selben Augenblick inne. Es wäre naiv zu glauben, dass - egal wer diese Hütte bewohnte - mir helfen konnte. Vielleicht befanden sich dort Eingeborene, die keinerlei Zivilisation kannten und Kannibalismus bevorzugten.
Ich schluckte nervös und ging einige Schritte zurück. Die Zuversicht, die mich bis jetzt so weit getrieben hatte, wich aus meinem Körper. Ich würde an diesen Ort sterben. Meine Beine gaben nach und ich sackte auf die Knie. Apathisch schaute ich in den Himmel und bettete zum ersten Mal in meinem Leben zu den Göttern.
»An einem Ort wie diesen, wird dein Flehen und Bitten nichts erreichen, Kindchen.« Abrupt wandte ich meinen Kopf zur Seite und blickte in die Augen einer alten Frau. Erschrocken wankte ich zur Seite und schluckte unsicher. Sie sprach meine Sprache und sah nicht verwahrlost aus. Ihre Gesichtszüge waren streng, und ihr Körper sah aus, als sei er im hohen Alter geschrumpft. Mit einem Seufzen schnalzte sie mit der Zunge und griff in den Sack, den sie geschultert hatte. »Hier.« Mit einer beiläufigen Bewegung warf sie mir eine Decke entgegen und wandte sich ab zum Gehen. »Warum musste mich Skuld auch damit nerven, dich auf meinen Weg nach Hause einzusammeln?«, schimpfte sie und schaute über ihre Schulter zu mir nach hinten. »Jetzt komm schon, Kindchen! Ich werde dich schon nicht in mein Süßigkeiten-Häuschen locken, um dich zu verspeisen.«
Misstrauisch umfasste ich die Decke, ehe ich sie um meinen Körper wickelte und langsam auf die Beine kam. »Wo ... bin ich? Wie kommt es, dass wir uns verstehen? Bin ich nicht auf einen anderen Kontinent, oder so etwas?«
Die ältere Frau hob ungläubig die Brauen, ehe sie erneut einen Seufzer ausstieß. »Wäre es zu viel verlangt, wenn ich all deine Fragen, erst bei mir zuhause beantworten würde? Ich bin schon drei Stunden unterwegs und meine alten Beine wollen nach Hause.« Ich presste unsicher die Lippen zusammen. »Dir wird nichts geschehen. Weder ich noch meine nervigen Schwestern, oder sonst jemand wird dir hier etwas zu Leibe tun«, fügte sie hinzu und setzte sich in Bewegung, Richtung der Hütte. Einige Minuten schaute ich ihr nach, bis ihr mein Körper - gegen jeden meiner Gedanken - folgte. Mit einer selbstverständlichen Bewegung öffnete die alte Frau, die leicht von Efeu überzogene Holztür. »Bin wieder da. Und ja, Skuld, ich habe die Frau mitgebracht«, warf sie in den Flur. Ich wiederum blieb wie angewurzelt draußen am Eingang stehen und musterte die Einrichtung, die ich von meiner Position aus erkennen konnte. An den Wänden hingen verschiedene Gemälde, dicht nebeneinander und willkürlich angeordnet. Darauf waren mir unbekannte Landschaften und schemenhaft Personen abgebildet. Die ältere Frau stellte den Sack in eine Ecke und lockerte ihre knackenden Schultern. »Jetzt komm schon rein!«, murrte sie. »Hey, Verdandi! Hast du Kleidung für Skulds Liebling?«
»Wieso bist du immer so verbohrt? Verdandi handelt doch eh nur nach dem, was du sagst«, beschwerte sich die Blonde und wandte sich mit einem Lächeln zu mir. »Nimm es ihnen nicht übel. Im Grunde sind sie nett. Ich bin Skuld. Die liebevolle Person, die dir so unleidlich Kleidung gegeben hat, ist Verdandi und die Oma ist Urd.«
»Hey! Was heißt hier Oma?«
Mit gemischten Gefühlen schaute ich zwischen den Schwestern hin und her. »I-Ich heiße Eveline ...«, kam es brüchig über meine Lippen.
»Ich weiß doch, ich weiß doch«, kicherte Skuld. »Im Normalfall verirren sich nie Menschen hierher. Früher schon. Aber diese Zeiten liegen lange zurück.«
»W-Wo genau bin ich? In welchem Land bin ich?«
»Welt, trifft es eher.«
»Verdandi!«, ermahnte Urd ihre Schwester. »Es ist besser, wenn sie nicht zu viel erfährt.«
Ich runzelte die Stirn. »Wovon sprecht ihr? Gibt es hier eine Polizeistation? Eine Stadt? Irgendwas?«, überschlug sich meine Stimme.
Verdandi stöhnte genervt. »Und es geht los. Ihre Erkenntnis wird mich definitiv nerven«, schnaubte sie. »Du bist nicht auf der Erde, Kindchen. Also lass solche Fragen. Hier gibt es keine Technologie oder irgendwelche Gesetzeshüter. Wir sind das Gesetz in dieser Welt.«
»Was?«
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