✗ 32. | L E V I
Nach den ganzen Ereignissen waren meine Gedanken ein einziges Chaos. Ich war in meinem Glauben und Wissen über die Welt, in der ich vermeintlich aufgewachsen war und jahrelang gedient hatte, tief verwirrt. Als Halb-Balg war ich stets zwischen zwei Welten gefangen gewesen und hatte bisher gleichermaßen Neugierde und Abneigung gegenüber meiner Herkunft, meiner Kindheit empfunden. Ich war meiner Mutter und meinem Onkel entrissen worden und die Rituale, die an mir durchgeführt wurden, hatten mich tiefer geprägt, als dass ich mir dessen selbst bewusst war. In den ganzen Einblicken, die ich über die Jahre über diese verschissene, dunkle Welt erfahren hatte, hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht als ein ruhiges Leben zu führen. In dieser Welt die voller Hass und Misstrauen war, war ich nichts weiter als ein Außenseiter, oder ein Mittel zum Zweck gewesen.
Die Frage nach meinen fehlenden Erinnerungen, nach meiner Kindheit, dem Gesicht meiner eigenen Mutter und der Wunsch nach einem ruhigen Leben, hatte mich in nicht endende Unruhe getrieben. Doch die Zeit mit Eveline hatte mir zum ersten Mal Momente der Empathie und des Mitgefühls offenbart. Sie war mir gegenüber nicht blind oder ignorant, sondern hatte mich mit Respekt und Freundlichkeit behandelt. Obwohl unsere beiden Welten so verschieden, so nahe und doch so fern, nebeneinander existierten. Ich begann gegen meine Herkunft, meiner Identität und meiner Zwiespältigkeit anzukämpfen, auf der Suche nach einer Möglichkeit für uns beide Frieden und Glück zu finden. Letzten Endes war Evelines Wunsch mein Traum geworden. Der Traum eines ruhigen Lebens, mit der Person, die mein Zuhause war.
Stattdessen befand ich mich auf der Flucht vor dem Arschloch Barbatos im Ego-Trip und war auf den Erfolg einer Suche angewiesen, dessen Ziel ich nicht einmal selbst verstand. Doch angesichts der Tatsache, dass ich keine Magie wirken konnte und die Rückkehr zu Eveline damit erschwerte, war es die einzige Möglichkeit, die mir in dieser verfickten Situation übrigblieb. Der Alte hatte immer große Stücke auf Agares gehalten. Angesichts seines Charakters war dies ein außergewöhnliches Kompliment. Nicht zuletzt, war es Agares der mich und meinen Onkel zur damaligen Zeit bei dem verschiedenen Ortswechsel unterstützt hatte. Die Antworten auf all die Fragen, die ich mir über die Jahre gestellt hatte, erfuhr ich nun von ihm.
Agares erzählte mir von der Welt, als sie noch jung und im Aufbau der Strukturen unter den Dämonen war. Zu dieser Zeit herrschte Magie, die noch ungebrochen und ungezähmt war. Ihr wohnte eine Kraft inne, die mit der jetzigen Ausübung nicht zu vergleichen war. Der Einfluss von mächtigen, starken Dämonen als Fürsten und Herzöge war noch stärker und prägte zum Teil sogar die Gegebenheiten der Landschaft. Doch solch mächtige Magie - auch wenn sie ihren Ursprung in der Dämonenwelt fand - war nicht ohne Konsequenzen. Die Kraft dieser uralten Magie war wohl so groß, dass sie selbst die Psyche der mächtigen Fürsten und Herzöge schwächte und ihren Verstand zerstörte. Aus einstigen Meistern und Gelehrten der Magie unter den Dämonen, wurden willenlose Sklaven ihrer eigenen Machtgier und sie begannen Chaos und Zerstörung zu bringen. Die Dämonenwelt wurde von unheilvollen Schrecken heimgesucht. Die wenigen Fürsten, Herzöge und Meister der Magie - die nicht dem Wahnsinn verfallen waren - wussten, dass sie es zu verantworten hatten, die Welt in Unruhe gestürzt zu haben. Sie begannen, sich zusammenzuschließen, um dem Chaos Einhalt zu gebieten. Sie hatten die Struktur der fünf Zirkel, der Hierarchie der Dämonenwelt, eingeführt. In diesem System wurden im ersten Zirkel niedere und schwache Dämonen eingeteilt. Oft wurden diese Dämonen von den Höheren als Diener und Lakaien verwendet. Zudem wurde ihnen die herabwürdigende Bezeichnung Imps gegeben. Auch der Begriff Halb-Balg schien aus diesen Zeiten zu stammen.
Zum zweiten Zirkel zählten mächtigere Dämonen, die als Elementargeister bekannt waren. Jeder Dämon, der eine besondere Fähigkeit besaß, wurden dem dritten Zirkel in der Hierarchie zugeteilt. Diese Dämonen folgten einer langer Blutlinie mit besonderen Fähigkeiten. Während die einen mit ihren Fähigkeiten darauf spezialisiert waren, Krankheiten zu verursachen, konnten andere wiederum Wünsche erfüllen. Auch war es diesen Dämonen gestattet, mit den Menschen für die Durchführung von Ritualen und Zaubersprüchen, zu kooperieren. Agares erzählte, dass es nur diesen Dämonen zu verdanken war, dass die Menschheit die Alchemie, Technik und Mechanik begriff. Im vierten Zirkel wurden die Fürsten und Herzöge eingeteilt. Darunter standen einst auch Agares, Barbatos und die restlichen Dämonen der Ars Goetia. Alle Fürsten und Herzöge besaßen spezifische Fähigkeiten, wie Agares mit seiner Portalmagie. Die Mitglieder der Ars Goetia waren selbst unter ihresgleichen misstrauisch und nur wenige offenbarten ihre Fähigkeit. Doch dass Barbatos unter ihnen einer der mächtigsten war, stand für Agares außer Frage. Er kannte die alte Magie, auf das die Zirkel gegründet waren, und konnte sie ausüben und beherrschen, selbst wenn er einen Zauberspruch nur las. Dieser ursprüngliche Gedanke der Zirkel wurde über die Jahrhunderte verändert oder erweitert, bis zum System, in dem sich die Dämonenwelt heute befand.
Während mir Agares all dies erzählte, überquerten wir einen Teil in der Dämonenwelt, der mir vollkommen unbekannt war. Eine karge, düstere Wüstenlandschaft erstreckte sich vor meinen Augen. Dünen wurden vom Wind so hoch wie Berge aufgewirbelt. Weit und breit war kein Leben zu sehen. Keine Höllenwesen, keine Pflanzen, nur Staub der die Luft zum Atmen erschwerte. Angewidert und genervt bedeckte ich die untere Hälfte meines Gesichtes und blickte zu Agares herüber. Dieser reagierte nicht auf mein Zögern weiterzugehen und ging weiter voran. Ob ich es wollte oder nicht, dieser Typ war, der Einzige, der uns hier auch wieder wegbringen konnte, also schloss ich schnell wieder zu ihm auf. Umso weiter sich unser Weg fortführte, erblickte ich am Horizont ein Felsgebirge, dessen Gipfel so weitreichend war, dass das Ende für das bloße Auge nicht zu erkennen war. In dieser Einöde war dieses Gebilde, das einzige Anzeichen, was Leben ausstrahlte. Während wir uns dem Felsgebirge immer weiter näherten, begann der Wind stärker zu werden. Leichte Feuerstürme tanzten über die Ebenen und vermittelten mir das Gefühl, dass wir an diesem Ort nicht wirklich erwünscht waren.
»Sie will uns nur prüfen, lass dich nicht beirren!«, rief mir Agares durch den Wind zu.
Fragend schoben sich meine Brauen zusammen. Meinte er etwa diese Hel? »Ich dachte, ihre magische Kraft ist versiegt?«, warf ich ihm lautstark meinen zweiten Gedanken herüber.
»Ich meine ja auch Namtar.« Meine Muskeln spannten sich an. Es war immer wieder wundervoll, wie ich mit neuen Informationen, Namen und Personen bekannt gemacht wurde. Nur, war dies reichlich zu spät! Durch den Sand in der Luft, musste ich mich mehr darauf konzentrieren, Agares überhaupt im Blick zu behalten, anstatt ihm - gegen meinen Impuls - in den Arsch zu treten! Zudem war er anhand seines Reittieres im Vorteil und kam dementsprechend schneller voran.
Schwerfällig folgte ich ihm und wir näherten uns weiter dem massiven Felsgebirge. Unerwartet konnte ich die letzten zehn Meter, schwach erkennen, wie sich eine Höhle im Gestein auftat, die tief in das Berginnere führte. Prüfend schaute ich zu Agares, dieser nickte bestätigend und ging voran. Die Augen seines Reittieres begannen glühend rot zu leuchten und spendete eine schwache Lichtquelle, als wir in das Dunkeln der Höhle traten. Zapfenartige Steingebilde hingen von der Decke und besetzten den Weg. Auch wenn ich das Gefühl hatte, jeden Augenblick mit einer Gefahr konfrontiert zu werden, war es hier wenigstens Sand frei und ich konnte wieder normal atmen.
»Wer ist diese Namtar?«, fragte ich skeptisch, während wir uns Schritt für Schritt durch die Höhle tasteten. »Ich dachte, wir wollten zu dieser Hel.«
»Namtar war eine ehemalige Imps, bis sie bei Hel in die Lehre ging. All die Magie, die Hel nicht mehr wirken kann, übernimmt sie nun. Einschließlich des Barrierezaubers um dieses Gebirge, um unerwünschte Gäste fernzuhalten.«
»Hör mal! Ich würde es begrüßen, wenn du mir die Tatsache, dass es eine Person gibt, die mächtige Zauber dieser ehemaligen Fürstin beherrscht, im Vorfeld mitteilen könntest! Denn, angesichts der Tatsache, dass ich mich nicht wirklich wehren kann, lege ich mein Leben in deine Hände, Agares«, knurrte ich.
Agares blickte über seine Schulter zu mir herüber. »Vertraust du mir nicht?«
»Ach, mal überlegen. Ich wurde jahrelang betrogen, mir wurde die Wahrheit verschwiegen und Barbatos hat mich gefoltert und an einem Ort zurückgelassen, der mein Grab hätte sein können. Also ja, ich habe ein gewisses Misstrauen entwickelt.«
»Keine Sorge, Namtar ist uns nicht feindlich gesinnt. Hel auch nicht. Sie leben nicht umsonst in dieser Einöde. Sie haben sich vom System unserer Welt losgesagt.«
»Gejagte besuchen also gejagte, oder wie soll ich das verstehen?«
»So kann man es ausdrücken. Sei den beiden gegenüber respektvoll, dann erfahren wir auch, was wir wissen wollen«, meinte Agares, während der Weg sich vor uns zu einer rustikalen Holztür erstreckte.
»Ach? Jetzt hängt das auch noch von den Launen der wehrten Damen ab?«, zischte ich und blieb neben ihn stehen.
»So leid es mir tut, ja. Hel ist die Einzige, die wissen könnte, wo die restlichen Splitter sind. Und komm nicht auf die Idee, Namtar nach einem Portal zur Menschenwelt zu fragen. Das kann sie nicht. Sie kann nur die Magie, die Hel ihr gelehrt hat.«
Ich verengte die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust, während mein Begleiter an die Tür klopfte. »Agares?«
»Hm?«
»Ich vertraue dir nur, weil es mein Onkel getan hat, der sonst niemandem vertraute. Vergiss das nicht.«
»Sicher. Dessen bin ich mir bewusst. Und ich will auch nicht, dass Barbatos eine Macht bekommt, die uns ins Verderben stürzt.«
»Ich habe nur kein Bock, dass dieses Arschloch mich ohne weiteres umbringen könnte. Zudem hat er sich in etwas eingemischt, dass ich gerade erst gefunden habe. Und ich habe nicht vor, es leichtfertig herzugeben.«
Agares legte den Kopf schief. »Was genau meinst du?«
»Die Person, die mir ein Zuhause gegeben hat.«
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