✗ 31. | E R W I N
Sämtliche Muskeln in meiner menschlichen Hülle spannten sich an. Automatisch hob ich die Hand, um Eveline mit einer schützenden Barriere einzuhüllen.
»Ah Ah Ah«, schnalzte Barbatos belustigt und hob ermahnend den Zeigefinger. Binnen eines Wimpernschlages überkam meinen Geist ein tonnenschwerer Druck, dem sich meine Hülle augenblicklich beugte und mein gesamter Körper wurde zu Boden gedrückt. Mit einem lauten Knall gaben die Holzdielen nach und Splitter bohrten sich in das Fleisch meiner Hülle. »Ihr Wächter seit echt erbärmlich. Kein Wunder, dass ihr der letzten Triade angehört«, gab Barbatos verhöhnend von sich. »Wie gefällt dir mein Trick? Du bist nicht nur bewegungsunfähig, noch kannst du dich aus der Hülle flüchten. Jammerschade, dass es so enden muss.«
So ungern ich es zugab, aber er hatte recht. Die Magie, die gerade an mir angewandt wurde, hätte nicht schlimmer sein können. Mit jeder Sekunde spürte ich, wie die Knochen meines verbundenen Körpers dem Druck nicht weiter standhalten würden. Ich war nicht in der Lage mich von ihm zu lösen, um meine Lichtgestalt anzunehmen, noch war ich geistig in der Lage telepathischen Kontakt zu meinen Brüdern und Schwestern aufzunehmen. Das war die schlimmste Situation, die hätte passieren können. Im Gegensatz zu dem Dämon Barbatos war das Halb-Balg mein kleinstes Problem. Ich stand gerade vor einem mächtigen Herzog der Hölle, der den sechsten Platz der zweiundsiebzig Dämonen der Ars Goetia innehatte. Bislang hatte ich nur Geschichten über sie gehört. Doch die größte Frage, die sich mir stellte, war, warum er hier war? Was für ein Interesse sollte Barbatos haben, einen einfachen Wächter mit Magie zu fesseln und seinen Schützling einzufrieren?
Der mächtige Herzog kniete sich zu mir herunter. Ein breites Grinsen spannte seine Gesichtszüge. »Weißt du, ich bin ziemlich pissig. Richtig hart pissig. Heißt, ich muss mich zusammenreißen, dich nicht gleich zu vernichten. Schließlich will ich dich noch ausquetschen.«
Ich biss die Zähne zusammen. »W-Was ... willst ... du ...«, keuchte ich angespannt und hatte das Gefühl, meine Lungen könnten bei jeder Silbe zerreißen.
»Tu nicht so unschuldig. Als ob du nicht wüsstest, was mit deinem Schützling los ist«, meinte Barbatos gelangweilt und musterte mich. Einen Moment starrte er mich an, während ich versuchte irgendeinen Funken meines Geistes mit Klarheit zu füllen. »Nicht dein Ernst?«, gluckste Barbatos plötzlich. »Ernsthaft? Du wurdest der Frau zugeteilt, und du weißt von nichts?« Schnaubend fuhr er sich durch das Gesicht. »Das kann doch nicht wahr sein ...« Seufzend richtete er sich auf und wandte seinen Kopf Richtung Haustür. »Beweg deinen Scheiß Arsch her, du dummes Miststück!«, zischte er. Angestrengt verengte ich meine Augen zum Schatten, der in den Raum trat. Geschockt erblickte ich die Succubus, die in der Menschenwelt unter den Namen Petra agierte. Mit einer unterwürfigen Haltung trat sie näher zu Barbatos heran. Dieser gab ein Pfeifen von sich und neigte seinen Kopf zu Eveline. »Deine letzte Chance, du wertloses Stück! Dringe in ihren Geist ein und finde heraus, ob ihre Seele unvollständig ist. Ich kümmere mich um den Wächter.«
Ohne zu zögern, verbeugte sich die Succubus und schaute zu Eveline. »D-Darf ich mich mit ihr vergnügen?«
Barbatos zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wie oder was du noch mit ihr machst, ist mir sowas von egal. Aber bring sie nicht um. Schließlich ist sie der Schlüssel, der das Drecks-Halb-Balg herauslocken wird.«
Mir kamen Lasas Worte in den Sinn. »Ein Schleier umhüllt die Frau. Alles kleidet sich in Grau. Ihre Seele ist unvollkommen. Etwas von ihr wurde entnommen. Dieses Stück ist streng verwoben. Wurde es ihr doch im früheren Leben enthoben.« Bislang hatte ich mich mehr darauf konzentriert, Levis Einfluss aus Evelines Leben halten zu können, ich hatte mich nicht weiter mit diesen Worten befasst. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan. Ich verfluchte meinen Status als Wächter, der zwar mit dem Niveau eines niederen Dämons wie Petra, oder dem Halb-Balg mithalten konnte, aber im Grunde doch machtlos war. Vor allem gegen einen Herzog. Ich war das Rind, das gerade auf der Schlachtbank lag und nichts tun konnte. Krampfhaft versuchte ich meinen Geist aus der Lähmung zu lösen, während ich Petra dabei beobachtete, wie sie sich Eveline näherte.
»Was Levi wohl davon hält, wenn er erfährt, dass eine Succubus dich begehrt hat?«, murmelte sie und leckte sich lasziv über die Lippen, bevor sie Evelines Arm ergriff und ihren Körper wie eine seelenlose Marionette hinter sich herführte. Als würde Evelines Körper nichts an Gewicht mitbringen, legte sie sich auf das Sofa und starrte ins Leere. »Wolltest du den Wächter nicht beseitigen?«, erkundigte sich Petra an Barbatos gewandt und beugte sich über Eveline.
Barbatos bedachte mich mit einem undefinierbaren Blick. »Tu endlich deine Aufgabe, dummes Stück!«, knurrte er. »Wessen Schuld ist es denn, dass ich mich mit so einem Scheiß befassen muss? Hättest du einfach deinen Auftrag erledigt, als der Vertrag des Halb-Balgs endete, müsste ich dir gar nicht unter die Arme greifen! Ihr niederen Dämonen seid noch weniger wert als Scheißhausfliegen. Ihr könnt nicht einmal primitive Wächter bewegungsunfähig machen.«
»Wieso hast du überhaupt so eine Show abgezogen und sogar die Gestalt von dieser komischen Dämonin angenommen, die mit Levi befreundet war?«, fragte Petra zögernd und musterte Evelines Körper.
Barbatos rollte genervt mit den Augen und trat dichter zu mir heran. »Ich fand ihr Erscheinungsbild unauffällig. Schließlich hatte ich ihre Rolle mehr als verinnerlicht, um das Halb-Balg heimlich überwachen zu können, ohne dass er Verdacht schöpft. Niemand hat mitbekommen, wie die Alte von mir beseitigt wurde«, erklärte er und massierte sich die Schläfe.
»Diese Sache an der Bar hast du wirklich gut gespielt. Dennoch, hättest du den Wächter doch auch so überraschen können.«
»Die Reaktionszeit liegt bei zwei bis drei Sekunden. In einem Überraschungsmoment kann sie sogar bei fünf Sekunden liegen. Auch für mich sind die Schutzhüllen der Wächter nicht leicht zu knacken. Es nimmt Zeit, die ich nicht haben. Wann geht das in dein Spatzenhirn?« Barbatos' Stimme überschlug sich wütend und die Luft im Raum begann zu knistern. Augenblicklich senkte Petra ihr Haupt. »I-Ist ja gut. Ich ... ich habe schon verstanden ...«, nuschelte sie und begann Evelines Pullover über ihren Kopf zu ziehen, ehe sie hörbar ausatmete. Ein leichter Nebel drang aus Petras Mund und glitt zu Eveline herüber.
»So mein Lieber«, wandte Barbatos sein Wort an mich und kniete sich abermals zu mir herunter. »Wollen wir dann auch beginnen? Ich muss wohl oder übel in den Kern deiner Existenz eindringen. Das wird dich auslöschen. Ich hoffe, das stört dich nicht«, fuhr er grinsend fort und hob seine Hand. Verzweifelt kämpfte ich gegen meine Lähmung und schaute zu Eveline. Zu meinem Schützling. Der Nebel hatte sich vollständig um ihren Körper gelegt. Petras Augen funkelten glühend rot auf und sie beugte sich zu Evelines Brüste herunter. Barbatos schnippte mit den Fingern. Ein dumpfer Knall ertönte in meinen Gedanken und legte alles um mich herum in drückende Dunkelheit.
Ich spürte, wie sich Barbatos' Präsenz in meinem Geist ausbreitete. Seine kalten Finger umschlossen meine Gedanken und drückten sie auf eine Art zusammen, die ich noch nie zuvor erlebt hatte. Aber obwohl ich mich von ihm überwältigt fühlte, konnte ich jedes Geräusch um mich herum immer noch hören. Das Knarren des Fußbodens unter meiner Hülle hallte durch den Raum und das schwere Atmen Petras war genauso klar zu hören.
»Du solltest dich nicht so sehr wehren«, flüsterte Barbatos. »Es wird nur schlimmer werden.« Barbatos lachte kalt auf und ließ seine Macht weiterhin gegen meine Gedanken prallen. Ich kämpfte gegen ihn an, konzentrierte all meine Willenskraft darauf, die Dunkelheit zurückzudrängen, aber es war sinnlos – er war einfach viel stärker als ich. »Deine Gedanken sind so herrlich verzweifelt.« Ich fühlte seine Präsenz immer stärker werden und allmählich legt sich alles um mich herum in tiefe Dunkelheit. Er griff nach dem Kern meiner Existenz, den Informationen aus Licht, die unser Vater geformt hatte, um uns zu erschaffen. All seine Weisheit, seine Güte, seine Macht waren ein Teil von uns Engel. Es waren Geschenke, die er uns gab, um unsere Aufgaben zu erfüllen. In diesen Moment wurde mir die Bedeutung des Wortes Hilflosigkeit grausam bewusst. Ich konnte nichts dagegen tun, dass ein Dämon es wagte, seinen Griff nach dem Licht unseres Vaters auszustrecken. Ich war eine Schande. Eine Schande für all meine Brüder und Schwestern.
»Ach, das ist ja interessant«, hörte ich Barbatos' Stimme durch meinen Geist hallen. »Du wurdest also aus der Energie eines erloschenen Engels erschaffen.« Eine lange Zeit der Stille seinerseits folgte. Das Gefühl von Raum und Zeit verschwand. Ich hörte das Knacken der Knochen meiner Hülle und einen Aufschrei Evelines. »Was zum Fick tust du da?«, zischte Barbatos. »Ich sagte, du sollst sie nicht töten! Warum brüllt das Weib plötzlich?«
Petras Atmen wurde von einem Schmatzen unterbrochen. »Ich ... ich weiß es nicht. Irgendetwas blockiert ihren Geist. Ich kann nicht vollständig durchdringen«, stotterte sie überfordert. In diesen Moment wurde mir bewusst, dass es augenscheinlich mit dem Zauber des Halb-Balges zu tun haben musste. Was war ich doch für ein Narr gewesen! Sein unbekannter Zauber schützte Eveline nicht nur vor meinem Einfluss, sondern sollte sie auch gegen die Magie von Dämonen beschützen.
»Bin ich denn nur von Idioten umgeben?«, fauchte Barbatos ungehalten. »Ich kümmere mich gleich drum.« Ich spürte, wie seine Aufmerksamkeit wieder vollkommen auf meinen Geist lag und meinen Kern in einem festeren Griff hielt. Petras Atmen raunte durch den Raum, unterbrochen von gierigem Schmatzen und Lechzen. Alles in meinem Verstand zog sich zusammen, bei der Ahnung, die mich ereilte, was die Succubus mit Eveline anstellte. Mit meinem Schützling. »Wie tief muss ich noch eindringen, um das zu finden, was ich suche?«, schimpfte Barbatos und mein Geist wurde von eisiger Kälte umschlungen. Kälte, die sich durch das Wissen unseres Vaters wühlte. Wissen, dass selbst mir verborgen war, obwohl sie Teil meiner Existenz war. »Echt traurig, dass die Energie eines ehemaligen Seraphim als Wächter wiederverwendet wurde«, lachte Barbatos. Meine Hülle war nur noch ein Stück Fleisch mit zerborstenen Knochen. Die Schreie meines Schützlings ertönten in unregelmäßigen Abständen durch den Raum.
»Was zum Fick?« In Barbatos' Stimme schwang Ungläubigkeit mit. »Dieser Seraphim war ...« Ein lauter Knall ertönte in meinem Geist. Gefolgt von einem rauschenden Geräusch, das alles um mich herum einhüllte. Barbatos' Griff um meinen Kern lockerte sich Stück für Stück und wich einem schwachen Licht, das aus den Rissen meines Bewusstseins aufflammte. Kein Gedanke erfüllte mich, es war die bloße Wärme meiner restlichen Energie, die mich durchströmte und meinen Geist mit Klarheit füllte. Klarheit über Eveline. Klarheit über den Seraphim, dessen Leben in mir verwoben gewesen war. Einen Seraphim der sich mit einer Sterblichen eingelassen hatte und ein Kind zeugte. Ein Mädchen, das heimlich geboren wurde. Mein Schützling. Ein automatischer Impuls ließ mich meine letzten Kräfte sammeln. Kräfte, die Eveline für den Bruchteil einer Minute aus den Fängen der Dämonen befreite. Sie dorthin schickte, wo sie ihre Klauen nicht mehr nach ihr ausstrecken konnten. An einen Ort, der für Menschen lebensfähig war und selbst für Engel schwer zugänglich war. Ein Gefühl von Glückseligkeit erfüllte meinen Geist, während mein Kern aufbrach und die Energie in den Kreislauf unseres Vaters zurück gab. Mit den letzten Funken meiner Existenz als Wächter und ihres Seraphim Elternteils hatte ich Eveline beschützt.
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