✗ 29. | E V E L I N E
Mit einem leichten Schwindelgefühl kam ich am Ferienhaus meiner Eltern an. Noch nie war ich so froh gewesen, endlich Ruhe zu finden. Tief seufzend ließ ich mich aufs Sofa sinken und hoffte, dass die Kopfschmerztablette wirken würde. Mein Blick glitt leer die Decke entlang, während ich nach der Ursache für die Schwere in meine Brust suchte. Warum war mir zum Heulen zumute? Ich schluckte schwer und kramte das Kästchen mit der Kette aus meiner Hosentasche. Gedankenverloren betrachtete ich den Anhänger und stellte mir abermals die Frage, warum ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, dass ich mir dieses Schmuckstück gekauft hatte. Warum sträubte sich mein Kopf den Fakt zu akzeptieren, dass ich mich mit Frau Ral in der Stadt getroffen hatte? Die Bemerkung des Taxifahrers untermauerte diese Skepsis. Mit wem zum Teufel soll ich in die Stadt gefahren sein und seit wann waren ich und Frau Ral so vertraut miteinander das sie mich duzte?
Misstrauisch musterte ich den Anhänger der Kette. An ihm gab es keine Kanten, an denen man sich verletzen konnte. Warum hatte Frau Ral ihn dann mit schmerzverzogendem Gesicht fallen gelassen? Ich stand vollkommen neben mir und legte den Schmuck auf den Beistelltisch. Prüfend schaute ich auf mein Handy. Ein leichtes Gefühl von Erleichterung überkam mich, als ich Erwins Nachricht, dass er in wenigen Minuten bei mir sein würde, las. Ob er mein Gefühlschaos nachvollziehen würde oder nicht, ich wollte nur mit jemanden darüber sprechen. Solch eine Schwere und Hilflosigkeit hatte ich das letzte Mal nur beim Tod meiner Eltern erlebt. Es fühlte sich so an, als sei mir etwas entrissen worden. Aber wie konnte ich für etwas Traurigkeit empfinden, wenn ich nicht einmal wusste, was mir vermeintlich genommen worden war?
Angestrengt schloss ich die Augen und versuchte mich zu beruhigen. Was auch immer mit mir los war, es brachte überhaupt nichts, dass ich Panik schob. Bis zu Erwins Ankunft beschloss ich mich etwas mit Hausarbeit abzulenken, auch wenn es komischerweise nicht viel zu tun gab. Das Geschirr war weggeräumt, das Bett gemacht und der Kühlschrank war gefüllt. Abwesend betrat ich das ehemalige Arbeitszimmer meines Vaters. Auch hier hatte ich alles ordentlich zurückgelassen. Skeptisch verengte ich meine Augen, als ich zum Tisch unter dem Fenster blickte. Dort stand eine halbfertige Tonarbeit. Es war eine Figur mit Flügeln, jedoch war der Körper des Menschen nicht ausgearbeitet und das Gesicht war nicht einmal ansatzweise geformt, lediglich die Flügel waren mit Details versehen.
Ich schluckte. Diese Figur war selbst für meine Verhältnisse gar nicht so schlecht. In ihr wurde unverkennbar Mühe, Zeit und Liebe investiert. Nur, wann soll ich diese Arbeit angefangen haben? Ein weiteres Fragezeichen reihte sich in das Chaos meines Gedächtnisses ein und ich kniff aufgrund des pochenden Schmerzes an meiner Schläfe ein Auge zusammen.
»Eveline ...«
Ein Ruck durchfuhr meinen Körper, als ich erneut diese Stimme, wie in der Stadt, hörte. Warum kam sie mir so bekannt vor? Irritiert schaute ich mich um und zuckte erschrocken zusammen, als ich Erwin an der Tür zum Arbeitszimmer sah. Mit pochendem Herzen legte ich mir beruhigend die Hand auf den Brustkorb. »Hast du mich erschreckt«, keuchte ich.
Erwin legte sein Gesicht in besorgte Falten. »Ich habe geklingelt und dich gerufen. Aus Sorge bin ich einfach ins Haus gekommen. Tut mir leid.« Dann war es Erwin, der meinen Namen gesagt hatte. Doch, es war nicht seine Stimme gewesen, oder? Ich stand schon so neben mir, dass ich mir fremde Stimmen einbildete. »Eveline, was ist passiert? Du bist vollkommen blass. Soll ich dich ins Krankenhaus -«
»Nein. Ich ... ich bin froh, dass du da bist. Danke schön. Etwas anderes brauche ich nicht«, unterbrach ich Erwin und verließ mit ihm das Arbeitszimmer. Während er auf dem Sofa Platz nahm, erzählte ich ihm von meinem Blackout und das Treffen mit Frau Ral in der Stadt. Ich konnte in seinem Gesicht genau ablesen, wie er sein Angebot von vorhin wiederholen wollte. Nur eindringlicher. Verständlich. Anhand plötzlicher Filmrisse würde wohl jeder zum Arztbesuch raten.
»Ich verstehe nicht, wie das so plötzlich passieren konnte. Gibt es sowas? Von einem Tag auf den anderen derartigen Erinnerungslücken zu haben?«, fragte ich und reichte Erwin die Tasse Kaffee, ehe ich mich neben ihn setzte.
»Nun ja«, begann er, »mir ist nur bekannt, dass dies in äußersten Schock und Trauma Momenten auftritt. Deswegen frage ich dich nochmal, Eveline. Ist etwas passiert? Wenn du mehr als nur überarbeitet bist, ist es keine Schande darüber zu sprechen.«
Ich seufzte schwerfällig. »Frau Ral sagte auch schon, dass ich überarbeitet bin. Nur weiß ich nicht mal, ob ich das wirklich bin. Allgemein empfand ich Frau Rals Anwesenheit mehr als seltsam.«
Erwin verengte die Augen. »Ist sie dir zu nahegekommen?«, erkundigte er sich und ich erkannte, wie sich sein Körper anspannte.
»Nein. Nicht wirklich. Sie war nur aufdringlich. Aber, ich habe eher das Gefühl, dass dich auch etwas beschäftigt.«
Sofort wurden Erwins Gesichtszüge weicher und seine Haltung entspannte sich. Mit einem Kopfschütteln verneinte er meine Aussage und blickte zum Beistelltisch herüber. Seine Augen fixierten die Kette. »Hattest du diesen Schmuck bei dir, als du dich mit Frau Ral getroffen hast?«
»Ähm ... ja. Auch wenn ich keine Ahnung habe, ob und wann ich sie gekauft haben soll. Ich verstehe das sie hübsch ist, aber du starrst die Kette genauso an wie Frau Ral. Stimmt damit etwas nicht?«
»N-Nein. Schon gut. Wir sollten uns vielmehr auf deine Amnesie konzentrieren. Eine gewisse Zeitspanne fehlt dir. Du hast dich hierher zurückgezogen, um dir Ruhe vom Arbeitsstress zu gönnen. Vielleicht möchtest du alles verdrängen, was mit der Arbeit zu tun hat«, murmelte Erwin nachdenklich. »Das Treffen mit Frau Ral hat dich vielleicht überfordert, doch ablehnen konntest du es wahrscheinlich auch nicht und am Ende wolltest du es einfach verdrängen. Nimmst du Tabletten, um besser schlafen zu können, oder trinkst du sogar Alkohol?«
Energisch schüttelte ich den Kopf. »Quatsch! Ich musste noch nie Schlaftabletten nehmen und ich schieße mich bestimmt nicht mit Alkohol ab«, entgegnete ich mit bestimmter Stimme.
»Ich bin nicht hier, um deine Entscheidungen in Zweifel zu stellen, Eveline. Ich möchte nur, dass du ehrlich zu mir bist.«
»Das bin ich! Ich habe nichts getrunken, oder Schlaftabletten genommen! Ich bin genauso ratlos und ... ich brauchte jemanden zum Reden. Tut ... tut mir leid, wenn ich dich überfordere. Mir ist schon bewusst, dass ein Arztbesuch klüger wäre. Aber -«
»Du möchtest die Sache beobachten. Habe ich recht?«, führte Erwin meinen Satz fort. Stumm nickte ich. Angestrengt massierte er sich die Schläfe. »Dass dies nicht gerade vernünftig ist, muss ich dir nicht erklären, oder? Zumal wir nicht wissen, ob es morgen schlimmer sein könnte. Was ist, wenn du plötzlich nicht mehr weißt, wo oder wer du bist?«
»Kann das passieren?«
»Ich möchte dich nicht beunruhigen, aber dich auch nicht anlügen, dass ich diesbezüglich Sorgen habe. Es wäre besser, du fährst in deine Wohnung zurück und -«
»Nein! Ich will hierbleiben!«, unterbrach ich Erwin mit strenger Stimme und war selbst über meinen plötzlichen Aufruhr überrascht. »T-Tut mir leid. Ich ... ich fühle mich hier wohl. Außerdem habe ich noch eine Tonarbeit, die ich gerne fertigstellen möchte.« Was sagte ich da? Bis vor wenigen Minuten wusste, ich noch nicht einmal, wann ich diese Ton Figur begonnen hatte und nun wollte ich sie unbedingt fertigstellen? Irgendein unbekannter Impuls trieb mich dazu, im Ferienhaus zu bleiben.
»Unfassbar«, flüsterte Erwin mit bebender Stimme. »Selbst jetzt, hat er noch Einfluss in deinem Leben.«
»Ich verstehe nicht ganz, was du meinst. Von wem sprichst du?«
»Alles wird gut, Eveline. Ich bin hier, um dir zu helfen«, fuhr Erwin fort und rückte näher an mich heran. Langsam hob er seine Hand und legte sie auf meine. »Ich werde das Band trennen, das dir solchen Kummer bereitet.«
Ich schluckte aufgeregt. »Was redest du da? Was für ein Kummer?« Überfordert entzog ich mich seiner Hand und stand auf. »Irgendwie benimmst du dich genauso seltsam wie Frau Ral.«
»Die Kette ...«
Ich hielt die Luft an. Erneut hörte ich diese Stimme. Diese unbekannte, mir doch vertraute Stimme. Zweifelnd schweifte mein Blick zu Erwin. Dieser schien die Stimme nicht zu hören. Bekam ich jetzt auch noch Wahnvorstellungen?
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