✗ 24. | L E V I
Mit einem undeutbaren Gefühl in der Brust, strich ich mir durchs Haar und ließ meinen Blick über den Esstisch schweifen. Letzte Nacht hatte auf diesen noch Eveline gelegen und nun erstreckte sich das Frühstück vor mir. Ich fühlte mich ungewohnt leicht. Keine störenden Gedanken vernebelten meine Gedanken. Dieser intime Moment mit Eveline ... es war, als hätte sich ein Schalter in mir umgelegt. Ihr Anblick hatte jede Vernunft, jedes rationale Denken verschwinden lassen und der reinen Begierde Platz gemacht. Evelines Körper hatte eine Ausstrahlung auf mich ausgeübt, wie es eigentlich nur eine Heilige konnte. Gestern jedoch, war sie für mich genau diese! Alles an ihr, hatte meine Seele mit Licht durchflutet, mit Wärme, mit Verständnis und Leidenschaft. Ich war mehr als erleichtert darüber gewesen, dass mich meine Kontrolle nicht vollends verlassen hatte, denn sonst hätte ich Eveline nicht mehr ins Badezimmer bekommen, geschweige denn dass sie noch ansprechbar gewesen wäre.
Mein gedanklicher Monolog wurde unterbrachen, als ich hörte wie sich langsam die Schlafzimmertür öffnete. Mit verschlafener Miene und zerzausten Haaren stand Eveline an der Tür und brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, was in ihrer Umgebung passierte. »Guten ... Morgen ...«, hauchte sie mit belegter Stimme und blinzelte. Meine Mundwinkel zuckten leicht nach oben bei ihrem Anblick.
»Guten Morgen«, erwiderte ich und ging langsam auf sie zu. »Und? Ist das Bett immer noch heil?«, erkundigte ich mich schelmisch.
»S-Seit wann bist du denn schon wach? Hast du überhaupt bei mir geschlafen? Oh Gott!« Sie hielt sich beschämt den Kopf. »Ich war einfach so müde! Ich weiß gar nichts! Nicht einmal, ob du dich noch zu mir gelegt hast, nachdem wir duschen waren.«
»Ich bin gerade mal zwei Stunden wach. Ich schlage vor, du machst dich erst einmal fertig und isst dann etwas, Eveline.«
Verwirrt schaute sie zum Esstisch herüber. »Du ... hast schon Frühstück ...? Hast du alles gefunden? Du hättest mich doch wecken kö -«
»Schon gut«, unterbrach ich sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Werd' erst einmal wach, meine Liebe. Den Rest besprechen wir dann.«
Überfordert presste sie die Lippen zusammen, ehe sie hastig ins Badezimmer verschwand. Ein amüsiertes Grinsen huschte über meine Züge. Nachdenklich schaute ich auf meine rechte Hand. Hatte ich mir den Faden - der sich von meinem Finger zu Evelines Hand erstreckt hatte - gestern Abend nur eingebildet? Allgemein hatte es einige Momente in der Zeit, als ich mit Eveline intim gewesen waren, gegeben, die ich nicht zuordnen konnte. So schnell diese Momente da gewesen waren, so zügig waren sie auch wieder verschwunden. Lediglich der Anblick hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt und Evelines Ausstrahlung einer Heiligen verursachte nach wie vor ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut. Hörbar atmete ich aus und zwang mich ein Stück zurück in die Realität, als ich das blaue Display öffnete, um den Fortschritt zu überprüfen. Er lag bei achtzig Prozent. Mein Kiefer spannte sich an. Mit geschlossenen Augen ließ ich das Display verschwinden. Wie ein Schlag in die Magengrube wurde mir wieder bewusst, dass dieses Wochenende wahrscheinlich die letzten Tage an Evelines Seite sein würden. Unsere gemeinsamen Erlebnisse hatten den Fortschritt unweigerlich rasant vorangetrieben und ich wünschte die Anzeige wäre einfach nur defekt, und könnte keinen weiteren Fortschritt mehr erfassen. Ich schluckte schwer, als die harte Erkenntnis des Abschieds ihre eisigen Hände um mich legte und meine Träumereien zur Seite schob, als wären sie Ballast oder Abfall.
Ein innerlicher Schreck fuhr durch meine Glieder, als sich Eveline hinter mich schlich und zaghaft ihre Arme um mich legte. »Danke schön, dass du den Tisch gedeckt hast«, murmelte sie und stützte ihren Kopf an mein Schulterblatt. »Ich habe überlegt ... wollen wir vielleicht nachher in die Stadt?«
Zögerlich hob ich meine Hand und legte sie auf Evelines Unterarm. »Du willst also wieder ein Taxi bestellen?«, fragte ich lachend nach.
Eveline ließ mich los und ging um mich herum. Mit einem warmen Lächeln schaute sie mir in die Augen. »Ja! Diesmal bezahle ich aber! Ich ... ich dachte nur, dass wir uns einen schönen Tag machen. Es sei denn, du hast keine Lust auf den Trubel der Stadt.«
Meine Hand wanderte zu Evelines Wange. »Solange wir Zeit miteinander verbringen, ist mir der Ort egal, Eveline«, entgegnete ich und beugte mich zu ihr heran. Mit einem zufriedenen Seufzen nahm Eveline meinen Kuss entgegen, bis sich unsere Lippen trennten und wir mit dem Frühstück begannen. Auch wenn sie es nicht offen zugeben wollte - dass mein Tee besser schmeckte als ihrer - besprachen wir den weiteren Ablauf des Tages. Es war schwierig für mich, den Fortschritt nicht weiter im Hinterkopf zu behalten. Jeder Moment hätte der letzte sein können. An den Gedanken daran, dass das Display für mich ein Signal geben würde, sobald der Fortschritt achtundneunzig Prozent erreicht haben sollte, ließ meinen Puls vor Unsicherheit und Traurigkeit in den Keller sinken.
»Eveline«, begann ich, als wir nach dem Frühstück den Tisch abdeckten, »ich ... würde gerne die Werkstatt deines Vaters sehen, bevor wir in die Stadt fahren. Wenn es für dich in Ordnung wäre?«
Überrascht schaute sie vom Kühlschrank zu mir herüber. »Ähm ... ja sicher! A-Aber, das Geschenk für dich ist noch nicht fertig! Ich -«
»Schon gut. Darum ... ging es mir nicht. Ich möchte nur gerne das kennenlernen, was dir Freude bereitet, das ist alles«, zwang ich mich ohne Unterton zu sagen und stellte das Geschirr neben der Spüle ab. »Ich möchte gerne das mit dir teilen, was dir viel bedeutet, Eveline.« Einen Moment lang schaute mich Eveline berührt an, während ich das Geschirr abspülte, ehe sie lächelnd nickte und das Abtrocknen übernahm. Nach wenigen Minuten führte sie mich dann in die Tonwerkstatt ihres Vaters. Einzelne Regale waren an den Wänden angebracht, auf ihnen befanden sich Stücke von Krügen, Vasen, Nachbildungen von Tieren und andere Figuren. Mit verschiedenen Techniken war jede Arbeit durch Einkerbungen verziert worden. Auch wenn ich mich nicht wirklich auskannte, so konnten meine Augen dennoch beurteilen, dass sich vor mir ästhetisch ansprechende Kunst befand.
»Wirklich schöne Stücke«, murmelte ich aufrichtig.
»Nicht wahr? Ich sagte ja, mein Vater war wirklich talentiert. Ich habe nie darüber nachgedacht diese restlichen Stücke zu verkaufen. Für mich sind sie Inspiration und Erinnerung zugleich«, erzählte Eveline bewegt. Mein Blick schweifte weiter durch den Raum, zum Arbeitstisch auf dem eine Tonarbeit stand. Jedoch kam ich nicht dazu sie weiter zu begutachten, denn Eveline hatte sich hektisch vor mich gestellt und versperrte mir die Sicht. »D-Das ... ähm ... es ist noch nicht fertig! Bitte nicht gucken!« Ich musterte Evelines aufgeregte Miene. »Ich ... muss noch soviel daran machen, bevor ich es dir geben kann!«, fuhr sie fort und stellte sich schützend vor die Arbeit. »Wie es jetzt ist, kann ich es dir unmöglich zeigen! Das -«
»Ich bin mir sicher, es ist jetzt schon perfekt, Eveline«, unterbrach ich sie. »So wie all die Werke hier. Weil du und dein Vater sie mit Herz erschaffen habt. Dies wiegt mehr als irgendeine akkurate Arbeit.« Eveline brachte mir ein herzliches Lächeln entgegen, doch meine Worte brachten sie nicht dazu, mir ihre Arbeit zu zeigen, stattdessen trieb sie mich, mit ihr die Werkstatt zu verlassen. Ich konnte ihre Gedanken nachvollziehen. Dennoch - wenn man bedachte, dass dies eventuell der letzte Tag mit ihr sein könnte - hätte ich ihre Mühe gerne gesehen und es angenommen. Doch vielleicht war uns das Schicksal hold und ließ uns mehr Zeit.
Nachdem Eveline wenige Stunden später ein Taxi gerufen hatte, und vehement darauf bestand, diesmal die Rechnung zutragen, waren wir kurze Zeit später in der Stadt angekommen. Sicher, das Chaos der Menschenmassen und die Hektik der Autos hatte mir noch nie zugesagt, aber durch Evelines Anwesenheit konnte ich es ausblenden und mich auf das wesentliche konzentrieren. Die Zeit mit ihr!
Mir war es deswegen auch einerlei in was für Geschäfte wir gingen. Auch wenn Eveline mit mir in ein Kaufhaus ging und sich in der Modeabteilung umschaute. Im Normalfall, war dies das langweiligste der Welt in meinen Augen, doch Evelines Anproben ermüdeten mich in keinster Weise. Dennoch konnte ich mir bei manchen Kleidungsstücken ein Kommentar nicht verkneifen.
»Darin siehst du aus wie ein Clown«, gab ich meine Meinung zum Oberteil an und verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Schnitt an der Schulter schmeichelt deiner Figur nicht.«
Eveline verzog missmutig das Gesicht. »Ich wusste gar nicht, dass du Modeexperte bist«, murmelte sie und betrachtete sich im Spiegel der Umkleide. »Aber ... es sah wirklich an der Stange besser aus«, gestand sie sich ein und wollte den Vorhang zu ziehen, bevor sie sich zu mir umdrehte. »Glaub ja, nicht, dass du mir so davon kommst! Du probierst auch was an!« Dann zog sie den Vorhang zu. Ich hob amüsiert eine Braue. Sollte mir recht sein, solange es Eveline Freude bereitete.
Am Ende hatte sie sich für keines der Outfits entschieden und schaute sich mit mir in der Männerabteilung um. Bei einigen Kleidungsstücken blieb sie stehen und hielt sie mir an. »Verdammt!«, nuschelte sie vor sich hin und hing das Hemd wieder an.
»Was ist? Wolltest du mir nicht die gleiche Tortur antun?«, fragte ich zynisch nach und konnte mir ein finsteres Lächeln nicht verkneifen. »Such aus, was du willst.«
Eveline schnaubte auf, sah sich kurz um und rückte näher an mich heran. »Das habe ich schon, aber«, sie senkte den Blick, »wenn du das hier anprobierst, glotzen nur alle. Und das ... das will ich nicht!«
»Wie darf ich das bitte verstehen?«, entgegnete ich irritiert, während wir die Männerabteilung verließen.
»Weil ... weil einfach alles an dir gut aussieht! Wie kann das sein? Das ist doch unnormal! Schon so gaffen dir Weiber hinterher!«, brummte sie und beschleunigte ihre Schritte Richtung Ausgang, in deren Nähe die Juwelierabteilung lag. Um sich - wahrscheinlich - von der Thematik abzulenken, musterte Eveline einige der Schaukästen und Vitrinen mit diversem Schmuck.
Mit einem amüsierten Lächeln trat ich neben sie. »Dass dich das so stört, wusste ich gar nicht«, kommentierte ich den gescheiterten Versuch, mich neu einzukleiden und ließ meinen Blick beiläufig über die ausgestellten Goldketten schweifen.
»Hmm«, brummelte Eveline und ihr Blick fixierte eine Kette. »Wie würdest du es denn finden, wenn mir so gut wie jeder dritte Mann hinterher -«
»Ich würde Mitleid empfinden«, unterbrach ich sie ruhig und folgte ihrem Blick. Eveline schaute verwirrt zu mir auf.
»Mitleid?«
»Ja. Denn ihre Begierde wird nie in Erfüllung gehen. Da können sie noch so lange hinterherschauen«, antwortete ich ruhig und deutete auf die Goldkette, die Evelines Aufmerksamkeit erregt hatte. »Gefällt sie dir?«
»Also ich habe jetzt mit jeder Antwort gerechnet, aber so eine«, schmunzelte sie und wandte sich von der Vitrine ab. »J-Ja ... sie ist schon schön. Aber hast du mal den Preis gesehen? Davon kann ich fünf unsere Taxifahrten bezahlen. Hin und zurück!«, sagte sie mit enttäuschten Unterton, ehe sie weiter ging. Einen Moment musterte ich die Kette. Ich kam gar nicht dazu, mich nach einer Verkäuferin umzuschauen, denn im selben Moment, als Eveline den Ausgang erreichte, stand eine neben mir und erkundigte sich, ob sie weiter helfen könne. Mein Blick schweifte kurz zum Ausgang, zügig gab ich der Verkäuferin zu verstehen, welches Schmuckstück Interesse geweckt hatte. Mit einem vielsagenden Lächeln bereitete die Verkäuferin den Kauf vor, gerade rechtzeitig ging dieser über die Bühne, denn Eveline kam zurück und schaute mich irritiert an.
»Ich quatsch' weiter und merke, dass du gar nicht da bist. Entschuldige, wolltest du dich noch weiter umschauen?«
Ich schüttelte den Kopf und steckte das Schmuckkästchen unauffällig in meine Manteltasche. »Nein. Nur die Verkäufer sind aufdringlich. Wo möchtest du als Nächstes hin?«, lenkte ich ab und verließ mit ihr das Kaufhaus. Eine Weile schien Eveline zu überlegen, während wir die Straße hinuntergingen. Ihre Entscheidung fiel auf einen Spaziergang durch den Stadtpark. Dieser war recht weitläufig, mit verschiedenen Alleen und einem See im Zentrum. Um diese Uhrzeit war er zudem nicht viel besucht, was eine entspanntere Atmosphäre aufbaute. Immer wieder bemerkte ich Evelines zögerliche Versuche meine Hand zunehmen oder sich in meinem Arm einharken zu wollen. Ohne ein Wort nahm ich ihr die Unsicherheit und ergriff ihre Hand. Ich verstand die Geste zwar nicht wirklich, aber manchen Menschen schien es ein Ausdruck von Verbundenheit und Zuneigung zu sein. Doch abstreiten, dass mich ein ruhiges warmes Gefühl in der Brust erfüllte - während wir Hand in Hand um den See gingen - konnte ich auch nicht.
»Dieser Stadtbummel war bestimmt total langweilig für dich«, begann Eveline etwas niedergeschlagen. »Tut mir leid.«
»Warum tut es dir leid? Ich habe dem zugestimmt. Solange wir die Zeit miteinander verbringen ist mir Ort oder irgendwelche Umstände egal. Solange du bei mir bist, ist mir jeglicher Trubel egal«, entgegnete ich.
Eveline blieb langsam stehen und ihr Handgriff an der meinen wurde für einen kurzen Moment stärker. Mit einem gemischten Gesichtsausdruck schaute sie mich an. »Ich ... wir haben nicht mehr viel Zeit, habe ich recht?«, fragte sie und lächelte gequält.
Ich schluckte schwer. »Möchtest du es wirklich wissen?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
»Nein«, hauchte Eveline und ihre Augen bekamen einen leidenden Glanz. »Im Grunde weiß ich es ja. Ich weiß, dass deine bloße Anwesenheit, dass jeder Gedanke an dich mich mit Glück erfüllt. Dass du mir das schenkst ... was ich mir gewünscht habe ...«
Ich sog schwerfällig Luft in meine Lungen, aber der Druck in meiner Brust wurde nicht weniger. Im Gegenteil. Mit jeder Minute, die verging, in der ich Eveline so sah, wurde es schwerer und schwerer. Meine Hand löste sich aus ihrer. Zum ersten Mal war ich es, der sich etwas wünschte. Der sich wünschte, dass Eveline nicht weiter sprach, dass ihre Gefühle den Fortschritt nicht weiter fortführten, dass das System des Displays defekt war.
»Levi, die ganzen Momente, die Zeit mit dir ... noch nie habe ich mich so geborgen gefühlt«, fuhr sie fort. »Du bist mein Glü -« Abrupt schlang ich, wie ferngesteuert, meine Arme um Eveline und presste sie an mich.
»Sprich nicht weiter ...«, bat ich mit trockener Kehle. Obwohl mir bewusst war, dass es nichts ändern würde, dass es unseren Abschied nicht verhindern würde, dass es die Tatsache, dass sie mich vergessen würde, nicht weniger erträglich machen könnte.
Zögernd legte Eveline ihre Arme um meinen Rücken und ich spürte wie ihr Körper begann zu beben. »Levi?«, hauchte sie mit zittriger Stimme. »Ich ... ich wünsche mir, dass wir einfach zusammenleben, dass wir weiter die Zeit miteinander verbringen. Ich ...«, sie schluckte schwer, »... ich möchte mit dir zusammen sein!« Langsam löste ich die Umarmung auf und schaute Eveline tief in die Augen, während meine Hände ihr Gesicht umschlossen. Nichts in diesem Moment hätte ich mir sehnlichster gewünscht, als diesen Wunsch erfüllen zu können!
Mein Gesicht näherte sich ihren. »Eveline ... bitte ... vergiss mich nicht ...«, flüsterte ich an ihre Lippen, ehe ich sie in einen tiefen Kuss zog.
Mit Tränen gefüllten Augen schaute sie mich an, als sich der Kuss löste und setzte zum Sprechen an. Es erstickte jedoch, während ich ihr das Kästchen aus der Juwelierabteilung in die Hand drückte. »W-Was ...? Was ist das Le -« Eveline erstarrte in ihrer Haltung und neben mir öffnete sich selbstständig das Display.
Wunsch-Fortschritt: Hundert Prozent
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