✗ 15. | E R W I N

Eveline hatte ihre plötzliche Gefühlsregung als Banalität abgetan und war zügig in ihre Abteilung verschwunden. Nachdenklich war ich der Arbeit meiner Identität derweil nachgegangen. Mehr zum Schein, denn ich war weitaus mehr mit meiner Aufgabe als Wächter und meiner Recherche beschäftigt. Telepathische Kommunikation mit meinen Brüdern und Schwestern war zwar anstrengender, wenn ich mich als Identität in der Menschenwelt befand, aber nicht unmöglich. Zudem hatte ich ein Anliegen, das ich nicht bis zum Feierabend aufschieben wollte. Während ich von außen hin gewissenhaft Unterlagen durchging und sie nach Belangen und Gesetze sortierte, versuchte ich im Unterbewusstsein Kontakt zu Mike herzustellen.

Evelines Tränen hatten mich als Wächter tief berührt und ich beschloss zu handeln. In dem Spektrum der Möglichkeiten. Ich konnte sie nicht von dem Halb-Balg wegziehen und solange die Seraphim keinen Handlungsbedarf sahen, musste ich Eveline auf andere Art von Levi ablenken. Wobei das Paradoxe an meinen Gedanken war, dass ich ihm irgendwo zur Hand ging. Ich musste wohl oder übel meinen Stolz als Wächter und die instinktive Feindschaft unterdrücken. Eveline sollte keine weiteren Tränen vergießen und sich in einer Gefühlsspirale befinden.

Nach einem längeren Moment reagierte Mike endlich auf meinen telepathischen Ruf. »Spinnst du, auf dieser Entfernung mit mir Kontakt aufzunehmen? Das verbraucht doch Energie ohne Ende!«, schimpfte er so laut, dass seine Stimme in meinen Kopf nachhallte.

»Ich würde diese Methode auch nicht anwenden, wenn es nicht wichtig wäre«, rechtfertigte ich ihm telepathisch.

»Sicher. Doch ich bin mit meinen Nachforschungen nicht fertig, mein Lieber.«

»Dieser Grund ist nur zweitrangig, weswegen ich dich kontaktiere. Ich hoffe, es erscheint gerade passend?«

Ein Seufzer Mikes Seite aus hallte durch meine Gedanken. »Ja. Ich habe Zeit. Trotzdem würde ich den Kontakt kurzhalten wollen. Nicht, dass du noch Schwierigkeiten mit deinem Energiefluss bekommst. Bezüglich der Recherche. Ich musste mich heute an einem Bruder der Cherubim vorbeimogeln. Dass mir da ganz anders die Flatter ging, brauche ich dir ja nicht erzählen, oder?« Seine Stimme klang aufgewühlt. Ich konnte Mikes Aufregung verstehen. Neben den Seraphim waren die Cherubim mit einer der mächtigsten in der ersten Triade. Sie standen dem Vater am nächsten und überwachten zudem den Lebensbaum, der unsere Welt mit der Menschenwelt verbannt. Jede Welt besaß solch einen Lebensbaum, jedoch waren seine Funktionen und die Verbindung zu den Menschen in jeder anders. In meiner Welt beherbergte er uraltes Wissen, über die Entstehung des Kosmos, Überlieferungen anderer Welten und Schriften aus vergessener Zeit unserer Welt. Gerüchten zufolge soll er sogar das Wissen bewahren, wie unser Vater aus dem Nichts erschaffen wurde. Dies war aber nur eine Vermutung, der keiner nachkommen wollte - oder konnte -, denn unser Vater war die Zeit selbst. Alles entsprang seiner Kraft. Dies anzuzweifeln war Verrat und die eigene Existenz war verwirkt.

»Ich hoffe, das Risiko hat sich gelohnt, mein Freund«, hallte meine Stimme leise zu Mike herüber.

»Wie man es nimmt. Viel Zeit mich genauer umzuschauen hatte ich nicht. Es waren maximal fünf Minuten. Dieses Zeitfenster ist auch nur zu erklären, weil niemand von unseren Brüdern und Schwestern darauf kommen würde, dass ihresgleichen Hinterfragungen stellt und verbotene Abteilungen erforschen will. Wäre ich ein Dämon gewesen, hättest du mich aufkratzen können, wenn überhaupt.« Ich räusperte mich in Gedanken, um Mike an das eigentliche Thema zurückzuerinnern. »Na ja, jedenfalls konnte ich, wie gesagt, nur ein paar Schriftrollen durchsehen. Und eins ist klar; der letzte Krieg unterschied sich von den bisherigen.«

»Das ist eine Tatsache, die uns beiden schon vorher bewusst war. Konntest du den Grund dafür herausfinden? Warum die Dämonen plötzlich den Schlachter auf ihrer Seite hatten? Ein Dämon solchen Kalibers taucht doch nicht auf dem Nichts auf!«

»Da liegt das Problem. Bei dem, was ich gefunden habe, scheint es so zu sein. Er kam aus dem Nichts. Also, ich meine, diese Kraft, die das Halb-Balg innehatte. Zwar ist sein Stammbaum mit fähigen Kriegern besetzt, aber niemand in seiner Familie besaß jemals eine Macht, so viele unserer Brüder und Schwestern mit einem Schlag zu vernichten.«

»Die Dämonen können nicht wie Vater, neue Energie erschaffen und sie formen! Sie sind an eine einfache Blutlinie und Genen gebunden!«, stieß ich skeptisch hervor. »Zudem ist er auch noch ein Halb-Balg, sein Blut verfälscht die kriegerische Veranlagung! Ich zweifle nicht an, was du, unter Einsatz deiner Existenz, gefunden hast. Aber es bringt mich ... uns nicht weiter. Im Gegenteil.« Schwerfällig seufzte ich.

»Das heißt ... ich muss diese Aktion nochmal durchführen, oder?«

»Du hast schon genug getan, mein Freund. Ich will dich nicht dem Verrat schuldig machen. Kommen wir lieber zu dem eigentlichen Anliegen, dass ich hatte. Du hast doch Kontakte zu einem Stamm der Schicksalsgöttinnen

Eine Welle von Erschaudern erreichte mich seitens Mike. Ich wusste, wie unangenehm ihm dieses Thema war. »Jah! Warum? Wo willst du deine Nase noch hineinstecken?«

»Es geht um meinen Schützling. Ich möchte sie von diesem Halb-Balg wegtreiben. Denn ich befürchte sie -«

»Entwickelt Gefühle für diesen Dämon?«, unterbrach mich Mike wissend.

»Hast du noch Kontakt zu ihnen, oder nicht?«

»Nicht wirklich und ich möchte es auch nicht. Sie sind speziell, wie du weißt.« Ich stimmte ihm wortlos zu. Jeder Stamm der Schicksalsgöttinnen war auf ihre Weise sonderbar. Ob es nun der Stamm der Moiren war, die als Heldenlieder Prophezeiungen wiedergaben oder die Nornen, die ihre Weissagungen in Reimversen und schelmischen Verhalten zum Ausdruck brachten, sie alle waren eine Kraft, denen selbst die Götter folgten. »Welche Schicksalsgöttin interessiert dich denn? Glaubst du nicht, dass du zu weit gehst? Sicher, Engeln ist es gestattet, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Aber dies nehmen meistens nur Brüder und Schwestern der ersten Triade in Anspruch. Es gab noch nie einen Wächter der -«

»Ich möchte mit Lasa sprechen.« Schwere Stille seitens Mike erfüllte lange Zeit meine Gedanken.

»Ich ... werde schauen, was sich machen lässt, mein Lieber«, antwortete er schließlich und der Kontakt zwischen uns verschwand.

Angestrengt lehnte ich mich im Bürostuhl zurück und musste mir eingestehen, dass das Gespräch mehr Energie verbraucht hatte, als ich anfangs vermutet hatte. Doch ich hatte keine Zeit mich darüber zu beklagen, denn ich hatte einer weiteren Angelegenheit nachzugehen, die mich beunruhigte. Ich musste in einem gut gewählten Zeitpunkt Evelines Abteilungsleiterin aufsuchen und nach ihren Beweggründen fragen. Es erschien mir nicht normal, dass sich ein weiterer Dämon in Evelines Leben einmischte. Steckte da eine List seitens des Halb-Balgs hinter, oder war es makabrer Zufall?

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