✗ 14. | E V E L I N E
Mit gemischten Gefühlen begann die neue Woche für mich. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich nicht so recht auf meine Arbeit konzentrieren. Dass Erwin seit geraumer Zeit nicht auf meine Nachrichten reagierte, trug nicht gerade zur Verbesserung meiner Stimmung bei. Was war nur beim Treffen damals mit Levi vorgefallen? Hatte es überhaupt etwas damit zu tun, oder hatte er sich eine ernstere Krankheit eingefangen, als mir seine Kollegen weismachen wollten? Ich war ratlos, dabei hätte mir jemand zum Reden gutgetan. Meine Freundin befand sich im Ausland und ihre Internetverbindung war grottig dort.
Niedergeschlagen stocherte ich in meinen Essen, in der Mittagspause, herum und ließ meinen Blick durch die Mensa schweifen. Mir wurde bewusst, wenn Erwin und Levi nicht bei mir waren, war ich armselig und allein. Wahrscheinlich gab ich gerade ein Bild des Jammers ab. Lustlos schob ich mir eine Gabel mit Reis in den Mund. Es musste sich etwas ändern! Levi war nicht für immer an meiner Seite. Obwohl ich dies wusste, hatten mich Gefühle ergriffen, die ich nicht zulassen wollte. Denn sie wurden und konnten nicht erwidert werden. Während ich wie Moses anstatt das Meer das Hähnchenfilet teilte, merkte ich im Augenwinkel, wie sich jemand neben mich setzte.
»Sie sehen nicht gerade begeistert aus, Frau Wagner. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
Erschrocken wandte ich mich zur Seite. Neben mir hatte eine Frau Platz genommen, mit roten mittellangen Haaren und einem charmanten Lächeln. Nachdenklich runzelte ich die Stirn und starrte sie an.
Sie schien meine Verwirrung zu bemerken, mit einem Schmunzeln reichte sie mir die Hand. »Entschuldigen Sie, wir wurden uns noch gar nicht persönlich vorgestellt. Ral mein Name.« Mein Gehirn versuchte die Information einzuordnen, bis es Klick machte. Sie war meine neue Abteilungsleiterin!
Peinlich berührt schluckte ich schwer und schüttelte ihre Hand. »F-Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Nicht doch. Nicht doch. Sie müssen nicht so steif sein. Es ist Pause. Also lassen Sie uns entspannt miteinander reden und das Essen genießen«, schlug sie mit einem Lächeln vor und stach die Gabel in ihren Salat. »Es tut mir leid, dass ich bisher noch nicht dazu gekommen bin, mich bei meinen Kollegen persönlich vorzustellen. Ich hatte einiges zu tun und der Wechsel in die neue Abteilung lief leider nicht so wie erhofft.«
Ich schüttelte leicht den Kopf. »D-Das kann bestimmt jeder nachvollziehen, Frau Ral. Machen Sie sich keine Vorwürfe«, entgegnete ich leise und schob das Hähnchen zum Reis.
Das Knacken des frischen Salates war zu hören, als Frau Ral ein weiteres Blatt aufspießte und die Gabel zum Mund führte. Selbst beim Essen wirkte jede ihrer Bewegungen elegant und irgendwie ... sinnlich. Seltsam, dass mir gerade solch ein Wort in den Sinn kam.
»Geht es Ihnen nicht gut, Frau Wagner? Sie haben fast nichts gegessen«, gab sie an und musterte mich besorgt. »Wenn Sie sich nicht fühlen, sollten Sie in erster Linie auf sich achten, anstatt auf die Arbeit. Alles andere ist kontraproduktiv.«
»Es ist ... nichts. Danke für Ihre Sorge. Ich versichere Ihnen, ich werde Ihnen keine Umstände machen«, murmelte ich betroffen und stopfte mir schnell ein Stück Hähnchen in den Mund.
»Davon bin ich mehr als überzeugt. Ich nehme jedoch die Sorgen meiner Kollegen ernst. Auch wenn Privates und Berufliches getrennt werden sollten, kann man die Gefühle nun mal nicht wie ein Schalter umlegen. Vertrauen Sie auf Ihrem Bauchgefühl.«
Ich nickte stumm. Noch nie war mir ein Gespräch unangenehm und gleichzeitig sympathisch gewesen. Meine neue Abteilungsleiterin war jedoch nicht der Gesprächspartner, den ich für meine Sorgen im Sinn hatte. So etwas ergab nur Probleme.
»Ich ... glaube nur, dass ich etwas übermüdet bin. Mehr nicht«, versuchte ich Frau Ral zu beruhigen.
Leider schien sie das noch hellhöriger werden zu lassen. »Bereitet Ihnen etwas schlaflose Nächte?«
»Ach, nur alltägliche Gedanken«, brachte ich leise hervor.
Frau Ral kicherte leise. »Gut. Nicht, dass Sie noch an Liebeskummer oder ähnlichem leiden.«
Ich lächelte gespielt amüsiert. »Das ... wäre ja noch schöner! Nein, nein. Es gibt niemanden in meinem Leben.«
»Wirklich? Das ist aber traurig und schade, wie ich finde«, meinte sie überrascht. »Oh! Entschuldigen Sie. Ich bin manchmal so bemüht, meinen Mitmenschen zu helfen, dass ich bestimmte Grenzen nicht erkenne.«
»Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, aber es ist alles in Ordnung.« Ein letztes Mal schob ich mir ein Hähnchenstück in den Mund, ehe ich mein Essenstablett umfasste, um schnell dem unangenehmen Gesprächsthema zu entkommen.
»Ich hoffe, es geht Ihnen bald besser, Frau Wagner«, sagte Frau Ral mit undeutbaren Unterton. »Entschuldigen Sie, falls ich Ihnen zu nahegetreten bin.«
»Schon gut. Ich ... ich werde langsam ins Büro zurück. Entschuldigen Sie mich. Es hat mich gefreut, Sie endlich persönlich kennenzulernen«, antwortete ich zügig und stand vom Tisch auf.
»Dies kann ich nur zurückgeben, Frau Wagner. Sie sind eine sehr angenehme Person.«
Ich brachte ihr ein höfliches Lächeln entgegen, bevor ich mich umdrehte und das Tablett abstellte. Mit schnellen Schritten verließ ich die Mensa und atmete durch. Ich hoffte sehr, dass ich keinen falschen Eindruck vermittelt hatte. Dass ich in Frau Rals Augen unfähig erscheinen könnte, war etwas, worauf ich verzichten konnte. Neben dem emotionalen Stress brauchte ich nicht noch Schwierigkeiten auf der Arbeit.
Gedanken verloren machte ich mich auf den Weg zurück in meine Abteilung, als sich etwas auf meine Schulter legte. Gegen jeden menschlichen Reflex schrak ich nicht auf, sondern drehte meinen Kopf nach hinten und erkannte den Grund, warum ich nicht zusammengezuckt war. Stattdessen breitete sich ein freudiges Lächeln auf meinem Gesicht aus.
»Entschuldige, dass ich mich so angeschlichen habe«, beteuerte Erwin und erwiderte mein Lächeln.
»Ich ... Gott! Du Blödmann! Wo warst du die letzten Wochen? Ich habe mir Sorgen gemacht! Du hast mir auch nicht geantwortet! Ich habe schon gedacht, es sei was passiert, verdammt!«, überschlug sich meine Stimme aufgeregt.
»Ich weiß. Es tut mir leid«, murmelte er schuldbewusst. »Mich hatte aber nur eine Grippe erwischt. Aber es stimmt, ich hätte dir kurz antworten können. Es tut mir wirklich leid, Eveline.«
»Das ist das mindeste! Mach das nie wieder! Sonst komm' ich zu dir nach Hause und ... obwohl ... ich weiß bis heute nicht mal, wo du wohnst!«
»Nun ja, du hast mich bisher auch nicht gefragt. Aber, darum soll es jetzt nicht gehen. Ich freue mich, dich wiederzusehen, Eveline.«
Ich schaute Erwin berührt an. »Ich kann dir gar nicht böse sein. Wichtiger ist das es dir gut geht.« Langsam begannen wir unseren Weg durch die Flure fortzusetzen. »Ich hatte gerade eine peinliche Begegnung mit meiner neuen Abteilungsleiterin. Katastrophal!«
»Ich habe sie in der Mensa gesehen. Mich wundert es, dass sie mal persönlich hier aufschlägt«, nuschelte Erwin mit ernster Stimme. Verwundert über seine Betonung, starrte ich ihn an. »Jedenfalls habe ich gehört, dass sie wohl sehr selten im Gebäude ist und Eigenarten haben, soll«, fügte er schnell hinzu. »Du solltest dich vielleicht nicht mehr mit ihr einlassen als nötig.«
»So einen Ruf hat sie bereits? Ich empfand sie als eine Person, die um das Wohl ihrer Kollegen besorgt ist. Das kann schonmal seltsam rüberkommen, gebe ich zu.«
»Hat sie dich etwas Explizites gefragt?«
Ich machte eine beiläufige Handbewegung. »Nicht wirklich. Anscheinend gebe ich nur ein Bild des Grauens ab, weswegen man mich fragt, ob alles in Ordnung ist.«
Erwin schaute mich eindringlich an. »Ist denn alles in Ordnung, Eveline?«
»J-Ja, sicher!«
»Wie geht es Levi? Hat er noch etwas gesagt, nach dem Treffen?«
»Nicht wirklich. Du aber auch nicht. Ich hatte Bedenken, dass du dich wegen des Treffens nicht mehr bei mir meldest«, gab ich seufzend zu. »Er hat doch nichts Blödes gesagt, oder?«
Erwin blieb stehen und musterte mich einen Augenblick. »Was glaubst du denn, was er gesagt haben könnte?«
»Ähm ... keine Ahnung. Irgendwie kam es mir so vor, als sei zwischen euch eine Anspannung. Ist das so ein Männerding? Wenn ja, würdest du mich bitte aufklären? Denn in Levis Augen ist nichts gewesen.«
»Wenn er das sagt«, murmelte Erwin und ging weiter. »Aber ja, ein gewisser Kampf ist da schon unbewusst zwischen uns.«
Neugierig trat ich näher an ihn heran. »Wie soll ich das jetzt bitte verstehen?«
»Nicht wichtig. Vielleicht ist es wirklich ein Männerding, wie du es nennst. Mir ist es nur wichtig, dass es dir gut geht, Eveline.»
Ich schob nachdenklich die Brauen zusammen. »Das wollt ihr dann wohl beide«, nuschelte ich. »Mir ist schon bewusst, dass Levis Art unfreundlich rüberkommt. Aber ... er versucht nur seine Schwächen mit seiner desinteressierten und direkten Ausdrucksweise zu verstecken.«
»Seine Schwächen, hm?«, wiederholte Erwin unterschwellig. »Die wären?«
»Du willst mich hier doch nicht ausquetschen, um ihn beim nächsten Mal einen reinzudrücken, oder?«, fragte ich besorgt.
»Wo denkst du hin? Keinesfalls. Ich ... bin nur überrascht, wie gut du ihn einzuschätzen scheinst, Eveline.« Eine Pause seinerseits folgte. »Nun ja, aber ihr seid ja auch zusammen. Da lernt man sich kennen. Jedenfalls glaubt man das. Es gibt jedoch auch Personen, die man nicht kennt, obwohl man mit ihnen ein ganzes Leben verbringt.«
»I-Ich habe auch nie gesagt, dass ich ihn kenne ...«, murmelte ich und senkte den Blick. »Nein ... ich kenne nicht alles von ihm ... und wahrscheinlich werde ich das auch nie, obwohl ich es mir wünsche ...«
»Eveline, bitte sei vorsichtig mit deinen Wünschen. Es kann sein, dass dir die wahre Person nicht gefällt«, entgegnete Erwin. Seine Mimik hatte sich seltsamerweise verhärtet. »Keine Person ist es wert, dass du leidest oder traurig bist.«
»U-Und, wenn die andere Person ebenfalls leidet?«
»Das bezweifle ich stark!«, stieß Erwin verächtlich aus. »Bitte hör auf dein Gefühl und lass dich nicht täuschen.«
Ich erwiderte nichts, denn ich wusste nicht einmal, was ich fühlte. Doch jeder Tag stimmte mich melancholischer, wenn mir die Tatsache wieder in den Sinn kam, dass ich Levi nach dem Auftrag nicht wieder sah. Dass er einfach aus meinem Leben verschwinden würde, obwohl er so einen Teil darin eingenommen hatte.
Irgendwann würde er nur noch eine Erinnerung bleiben. Der Klang seiner Stimme, die Wärme seiner Berührung, seine Zurechtweisungen, seine ungefragten Aufräumaktionen, der Ausdruck seiner Augen, die verborgene Traurigkeit in seinem Herzen. Alles blieb nur noch eine Erinnerung, die mich einsam zurücklassen würde.
»Eveline?«
Perplex schaute ich auf. Mit besorgter Miene hielt mir Erwin ein Taschentuch entgegen. »Es ist gar nichts in Ordnung, oder Eveline?« Überfordert bemerkte ich, wie mir eine Träne die Wange hinunterrollte. Hastig nahm ich das Taschentuch an und trocknete mein Gesicht.
»Klar! Meine Augen brennen heute schon den ganzen Tag«, presste ich hervor. »Ich bin einfach nur übermüdet. Alles in Ordnung.«
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